Bei der Übergabe der Radhaubitze RCH 155 in Kassel spricht der ukrainische Botschafter von Sicherheitslücken, die wie blutende Wunden seien. Deutschland helfe, diese Lücken zu schliessen. Doch bis die neuen Systeme eingesetzt werden können, wird es dauern.
Während Bundeskanzler Olaf Scholz zusätzliche Militärhilfen für die Ukraine blockiert, hat der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius am Montag die erste Radhaubitze vom Typ RCH 155 entgegengenommen. Dieses Waffensystem gilt als derzeit modernstes Rohrartillerie-System der Welt und ist Teil eines vor längerem zugesagten Hilfspakets der Bundesrepublik für die Ukraine.
Artilleriesysteme spielen im ukrainischen Verteidigungskrieg gegen Russland eine herausragende Rolle. Die RCH 155 ist eine Radhaubitze, die aus voller Fahrt präzise schiessen kann, entwickelt und hergestellt vom deutsch-französischen Rüstungskonzern KNDS. Ihre Technologie gilt als weltweit einzigartig. Die Ukraine erhält 54 dieser neuartigen Geschütze aus Deutschland (Gesamtkosten: 890 Millionen Euro) und ist damit erster Nutzer noch vor der Bundeswehr. Auch die Schweizer Armee hat die Absicht bekundet, die RCH 155 zu beschaffen, allerdings auf einer anderen Trägerplattform.
Die Haubitzen für die Ukraine werden zu einem Teil mit Geld finanziert, das bereits aus dem 7-Milliarden-Ukraine-Paket im Bundeshaushalt 2024 stammt. Ursprünglich war geplant, die ersten RCH 155 bereits im Herbst vorigen Jahres an die Ukraine zu übergeben. Ein anderer Teil des Geldes soll aus dem 4-Milliarden-Paket kommen, das die gescheiterte Bundesregierung in ihrem Haushaltsentwurf für dieses Jahr für die Ukraine eingeplant hat.
Bei der RCH 155 handelt es sich um eine Weiterentwicklung der Panzerhaubitze 2000 (PzH 2000). Die PzH 2000 wurde in den achtziger Jahren von Krauss-Maffei Wegmann (heute Teil von KNDS) gebaut und fährt, wie ein Panzer, auf Ketten. Um präzise schiessen zu können, muss die Panzerhaubitze allerdings stehen. Bei der RCH 155 ist das anders. Sie bewegt sich auf Rädern und ist damit mobiler, kann aus der Bewegung feuern und ihr Ziel präzise treffen. Das ist nicht zuletzt durch einen neuartigen Geschützturm und moderne Feuerleitrechner möglich. Diese Computer berechnen unter anderem die Flugbahn.
Mobilität kein Garant für das Überleben
Die Panzerhaubitze 2000 befindet sich seit gut zweieinhalb Jahren im Kriegseinsatz. Deutschland hat der Ukraine bisher 25 dieser Geschütze geliefert, weitere sollen in diesem Jahr folgen. Die Kosten dafür sollen aus einem 3-Milliarden-Paket kommen, das der sozialdemokratische Verteidigungsminister Pistorius und Aussenministerin Annalena Baerbock von den Grünen kurzfristig schnüren wollen. Die beiden Minister hatten diesen Vorschlag mit Blick auf die schwierige Lage in der Ukraine kürzlich unterbreitet. Doch bis jetzt steht Kanzler Scholz auf der Bremse.
Die Panzerhaubitze 2000 leistet den Ukrainern wertvolle Dienste, nicht zuletzt weil sie präzise und mobil ist. Letzteres ist wichtig, da ein Gegner nach dem ersten Schuss aus einer Haubitze die Position des Angreifers berechnen und ihn mit einem Gegenangriff innert kurzer Zeit ausschalten kann. Die Panzerhaubitze 2000 kann nach der Schussabgabe sofort ihren Standort wechseln. Viele andere Artilleriegeschütze können das nicht.
Allerdings zeigen die Entwicklungen auf dem ukrainischen Schlachtfeld, dass selbst hohe Mobilität kein Garant mehr für das Überleben sein muss. Auch eine Haubitze, die aus voller Fahrt feuern kann und dabei für einen Gegenschlag mit herkömmlichen Mitteln nicht aufzuklären ist, hat heute einen gefährlichen Gegner. Drohnen sind in der Ukraine omnipräsent. Sie können sogar fahrende Panzer verfolgen und gezielt ausschalten. Dieses Risiko droht auch modernen Artilleriehaubitzen.
Bei der Übergabe der ersten RCH 155 am Montag in Kassel (Hessen) war auch der ukrainische Botschafter in Deutschland, Olexi Makejew, zu Gast. Der Bedarf seines Landes an modernen Waffen sei akuter denn je zuvor, sagte er. «Wenn wir eines Tages am Verhandlungstisch sitzen werden, wird es gut sein, von den starken deutschen Waffen gedeckt zu werden und Deutschland an unserer Seite zu haben.» Er wisse zu schätzen, dass die ukrainischen Kräfte die Panzerhaubitzen bekämen – noch vor der Bundeswehr. «Denn so gehen Verbündete miteinander um: Sie schliessen Sicherheitslücken, vor allem, wenn diese Lücken blutende Wunden sind.»
Die Radhaubitze kann bis zu 30 Schuss abgeben, ehe sie Munition nachladen muss. Ihre Reichweite beträgt 37 Kilometer, je nach Munitionssorte auch mehr. Der vollautomatische Geschützturm kommt ohne Besatzung aus und ist auf ein «Boxer»-Fahrgestell montiert. Dieses achträdrige gepanzerte Fahrzeug ist eine Gemeinschaftsproduktion von KNDS und Rheinmetall. Die Besatzung besteht aus zwei Personen: einem Kommandanten und einem Fahrer.
Nur sechs Haubitzen bis Jahresende
Die Ausbildung der ukrainischen Soldaten soll nach Angaben von KNDS in den kommenden Wochen beginnen und etwa zwei Monate dauern. Sie findet sowohl beim Hersteller in Kassel als auch bei der Bundeswehr in Idar-Oberstein statt. Allerdings wird es noch dauern, bis die Ukrainer alle 54 RCH 155 bekommen. Bis Jahresende, so hiess es in Kassel, sollten 6 Radhaubitzen ausgeliefert sein. Dies, obwohl bereits 2022 ein Vertrag über die Lieferung von 18 Haubitzen gezeichnet worden ist. Dem Vernehmen nach wird es bis 2027 dauern, ehe alle zugesagten Systeme produziert und an die Ukraine übergeben werden können.
Das um seine Existenz kämpfende Land muss sich demnach noch gedulden, ehe die dringend benötigten Waffen zur Verfügung stehen. Botschafter Makejew hielt sich mit Kritik daran in Kassel allerdings zurück. Anders ist es bei der Bundeswehr. Sie hat die Absicht, 168 Radhaubitzen zu beschaffen, um damit ihre Heeresdivisionen auszurüsten. Auch hier drängt die Zeit. Bis 2031 sollen die Kampfverbände voll aufgestellt, ausgerüstet und einsatzbereit sein.
Doch bis jetzt gibt es nicht einmal einen Vertrag über die Beschaffung der RCH 155. In der Opposition herrscht darüber grosse Verärgerung. Die Modernisierung und der materielle Aufwuchs des deutschen Heeres seien angesichts der Bedrohungslage, der geografischen Situation Deutschlands und seiner eingegangenen Verpflichtungen in Litauen essenziell, würden aber durch Minister Pistorius verschleppt, klagt Florian Hahn, verteidigungspolitischer Sprecher der Union.
Aus dem Bundestag ist zu hören, dass Pistorius dem Haushaltsausschuss nun doch noch vor der Bundestagswahl einen Vertrag über 80 Haubitzen vorlegen will. Die Stückkosten sollen bei etwa 10 Millionen Euro liegen. Doch selbst wenn das Gremium der Vorlage zustimmen sollte, wird es dauern, bis die Haubitzen bei der Bundeswehr einsatzbereit sind. Fachleute rechnen damit, dass sich die Auslieferung allein der 80 RCH 155 bis 2032 hinzieht. «Die Zeiten wenden sich nur im Schneckentempo», sagt Hahn von der Union.