Sonntag, November 24

Der Bundeskanzler will nach dem Scheitern seiner Regierung die Vertrauensfrage womöglich doch schneller stellen als ursprünglich beabsichtigt. Unterdessen zieht Deutschland Spott wegen angeblichen Papiermangels auf sich.

Deutschland hat kein Papier für Wahlzettel, ernsthaft? In einem Brief vom Freitag schrieb die Bundeswahlleiterin Ruth Brand an den Bundeskanzler Olaf Scholz unter anderem, es sei schwierig, genug Papier und den geeigneten Druckdienstleister zu beschaffen, um kurzfristige Neuwahlen zu organisieren. Sie sagte das auch in der «Tagesschau».

Diese Aussage scheint im Kern wiederzugeben, was die Bürger schon länger empfinden: Deutschland funktioniert nicht mehr.

Im Falle der Wahlleiterin kam hinzu: Kurz zuvor hatte sich ihr Sprecher gegenteilig geäussert und mitgeteilt, Neuwahlen im Januar oder Februar seien kein Problem. Dies erzeugte Verwirrung und führte zu der Spekulation, dass das eingangs zitierte Schreiben Brands, in dem noch viele weitere Bedenken gegen allzu rasche Neuwahlen angemeldet werden, auf Geheiss verfasst wurde.

FDP nennt Kanzler-Begründung «völlig unglaubwürdig»

Deutschland ringt um einen Termin für die Neuwahlen. Dabei geht es nicht nur um Papier, sondern um ganz handfeste politische Interessen. Es geht um die Frage, wer zu welchem Zeitpunkt die besseren Wahlchancen hat. Und um die Frage, was die rot-grüne Minderheitsregierung bis dahin noch durchzusetzen hofft. Zugleich lässt sich der politische Gegner mit jedem Manöver blossstellen. So in Richtung: Ihr von der Union habt ja stets Unterstützung angeboten, warum macht ihr jetzt nicht mit?

Seinen Plan, die Vertrauensfrage erst im Januar zu stellen, hatte Scholz damit begründet, dass die dringenden Gesetzesvorhaben zu Steuer, Rente und Asyl, die das Land brauche, so bis Weihnachten noch verabschiedet werden könnten. Die Opposition weist dies als Scheinargument zurück. Der Bundestag bleibe bis zur Neuwahl beschlussfähig, es gebe dann noch genug Sitzungswochen. FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai nannte Scholz› Hinweis auf die staatspolitische Verantwortung sogar «völlig unglaubwürdig».

Wahrscheinlicher erscheint da, dass interessierten Kreisen an schnellem Tempo nicht gelegen ist. Grünen und Sozialdemokraten droht zum Beispiel nach der nächsten Wahl ganz real, dass viele von ihnen ihr Geld wieder im normalen Leben verdienen müssen. Sowohl Abgeordnete und ihre Mitarbeiterstäbe als auch das politische Personal der Ministerien wären davon betroffen. Die SPD hatte bei der letzten Bundestagswahl fast 26 und die Grünen fast 15 Prozent der Stimmen. Nach aktuellen Umfragen bekämen sie heute 16 und 11 Prozent. Sie haben es allesamt mit Neuwahlen nicht eilig.

Die «Operation Abendsonne», also die Versorgung verdienter Parteigenossen mit ruhigen und gutbezahlten Posten, gehört in den meisten Parteien zum Standard, und politische Umstürze sind dafür ungünstig. Die entsprechenden Manöver hinter den Kulissen brauchen Zeit.

Deutschland hat vier Kanzlerkandidaten

Ein weiterer Grund für das gemächliche Tempo von Scholz könnte in den im März anstehenden Wahlen in seiner Heimat Hamburg liegen. Die Wahl ist am 2. März, also eine Woche vor dem von Scholz angestrebten Termin für die vorgezogene Bundestagswahl am 9. März. In Hamburg schneidet die SPD meist passabel ab, dies könnte ihm etwas Rückenwind geben. Umgekehrt könnte ein Wahldesaster im Bund der SPD in Hamburg schaden.

Scholz hat jetzt keine Mehrheit im Parlament mehr und hofft auf die Union. Der Bundeskanzler bot der CDU-Opposition an, er könnte schneller als bis anhin beabsichtigt die Vertrauensfrage stellen, unter der Bedingung, dass man gemeinsam noch die wichtigsten Gesetze verabschiede. Merz und die CDU drehten es um: Nur wenn der Kanzler die Vertrauensfrage schnell stelle, ziehe man bis zur Neuwahl eine Zusammenarbeit bei den wichtigsten Themen in Betracht.

Deutschland hat gegenwärtig vier Kanzlerkandidaten, die sich nun alle profilieren wollen. Neben Scholz und seinem grünen Kabinettskollegen Robert Habeck sind dies Oppositionsführer Friedrich Merz und die AfD-Chefin Alice Weidel. Die Opposition aus CDU und AfD steht gemeinsam auf dem Gaspedal, wenn es um Neuwahlen geht, auch wenn beide Seiten betonen, dass dies die einzige Gemeinsamkeit sei.

Die CDU unter Führung von Friedrich Merz liegt in den Umfragen vorn und möchte das Momentum für sich nutzen. Während der Zeit der Ampelregierung hat sich in Deutschland eine gewisse «Jetzt reicht’s»-Atmosphäre aufgebaut. Sie wird von den Erfolgen der Rechtspopulisten in Europa sowie Donald Trumps in Amerika womöglich beflügelt. Deutschland müsse endlich wieder zur Stärke finden, und zudem müsse es lernen, seine eigenen Interessen zu wahren, so der Gedanke.

Auch die AfD macht Tempo für Neuwahlen. Sie dürfte in den verbleibenden Wochen versuchen, die CDU vorzuführen, um zu demonstrieren, dass von einer Regierung unter Friedrich Merz kein echter Politikwechsel zu erwarten ist. So könnte die AfD zum Beispiel frühere CDU-Anträge zum Thema Begrenzung der Migration stellen. Zusammen mit der FDP gäbe es dafür jetzt im Bundestag eine Mehrheit – theoretisch.

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