Mittwoch, Januar 15

Kanzler Olaf Scholz sagt Präsident Wolodimir Selenski für die nächsten zehn Jahre militärische und wirtschaftliche Unterstützung zu. Auch im Fall eines erneuten russischen Angriffs will Deutschland der Ukraine beistehen.

Es ist eine Zäsur in der Geschichte Deutschlands. Noch nie hat die Bundesrepublik ein Sicherheitsabkommen mit einem Land geschlossen, das sich im Krieg befindet. Am Freitagmittag unterzeichneten der deutsche Kanzler Olaf Scholz und der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski in Berlin eine über zehn Jahre gültige «Vereinbarung über Sicherheitszusammenarbeit und langfristige Unterstützung».

Allerdings bleibt das 13-seitige Papier eher vage. Vielfach handelt es sich lediglich um Absichtsbekundungen und Zielvereinbarungen. Dennoch dürfte das Dokument die Beziehungen der beiden Länder auf eine neue Stufe stellen. Deutschland versichert der Ukraine damit schriftlich, dass es langfristig an ihrer Seite steht. Scholz sprach von einer «glasklaren Botschaft» an Russlands Präsidenten Wladimir Putin, dass die Bundesrepublik in ihrer Unterstützung der Ukraine nicht nachlassen werde. Selenski, der nach seinem Besuch in Berlin nach Paris weiterreiste, um ein ähnliches Abkommen zu treffen, nannte die Vereinbarung eine «beispiellose Sicherheitsunterstützung».

Im Kern geht es um deutsche Zusagen für eine fortdauernde Militärhilfe sowie langfristige finanzielle Unterstützung beim Wiederaufbau der Ukraine. Kanzler Scholz betonte in der halbstündigen Pressekonferenz mehrfach, Deutschland habe seit dem russischen Überfall militärische Unterstützung im Umfang von 28 Milliarden Euro geleistet oder für die Zukunft zugesagt.

Scholz kündigt weiteres Militärpaket an

Allein für dieses Jahr stellt die Bundesregierung Militärhilfen im Wert von 7,1 Milliarden Euro in Aussicht und hält trotz der schwierigen Haushaltslage daran fest. Scholz nutzte die Gelegenheit des Selenski-Besuchs, um weitere Militärhilfe im Umfang von 1,1 Milliarden Euro anzukündigen. Enthalten seien darin unter anderem 36 Panzer- und Radhaubitzen, 120 000 Artilleriegranaten und Flugkörper für das Luftverteidigungssystem Iris-T. Selenskis dankbare Äusserungen dazu liessen darauf schliessen, dass er vor allem die Geschützmunition und die Flugabwehrraketen gerade besonders dringend braucht.

Deutschlands Absicht sei es, langfristige militärische Unterstützung bereitzustellen, um die territoriale Unversehrtheit der Ukraine innerhalb ihrer international anerkannten Grenzen in vollem Umfang wiederherzustellen, heisst es in dem Abkommen. Bei der Beschaffung von Waffen und Munition für die Ukraine wolle die Bundesrepublik zudem als «Leitnation» für europäische und internationale Partner dienen. Ausserdem werde Deutschland «prüfen, wie die eigene Rüstungsindustrie motiviert und unterstützt werden kann, zum Ausbau der industriellen Basis der ukrainischen Verteidigung beizutragen», etwa durch Investitionen.

So hat der Düsseldorfer Konzern Rheinmetall schon vor mehreren Monaten angekündigt, in der Ukraine eine Produktion für Panzerfahrzeuge zu bauen. Offensichtlich sieht die deutsche Regierung allerdings die Notwendigkeit, den Verbleib der dann hergestellten beziehungsweise gelieferten Waffen verbindlich zu regeln. Darauf lässt ein Passus in dem Abkommen schliessen, in dem es heisst, sämtliche militärische Unterstützung werde an Endverbleibsvereinbarungen gekoppelt sein – nicht zuletzt um die illegale Umleitung militärischer Güter ins Ausland zu vermeiden. Solche Vereinbarungen sind auch mit anderen Ländern üblich.

Hilfszusagen für den Fall eines erneuten russischen Angriffs

In dem Abkommen sagt Deutschland auch eine Fortsetzung der Trainings- und Ausbildungsmission für die ukrainischen Streitkräfte zu. Sie soll weiter im Rahmen der bereits bestehenden EU-Mission (EUMAM) stattfinden, dies aber nicht ausschliesslich, wie es heisst. Auch Nicht-EU-Staaten wie die USA und Grossbritannien sind in der Ausbildung und im Training ukrainischer Truppen engagiert. Gut möglich, dass sich Deutschland daran künftig ebenfalls beteiligen will.

Das Abkommen enthält auch Zusagen für die Zeit nach einem eventuellen Waffenstillstand oder Friedensschluss. Sollte Russland die Ukraine dann erneut angreifen, so sichert Deutschland bereits heute zu, es werde «in einem angemessenen Rahmen rasch und langfristig Sicherheitsunterstützung, modernes militärisches Gerät je nach Bedarf in allen Bereichen sowie wirtschaftliche Unterstützung zur Verfügung stellen», heisst es.

Was konkret ein «angemessener Rahmen» ist, bleibt allerdings offen. Selenski jedenfalls konnte sich in der Pressekonferenz einen kleinen Seitenhieb gegen die einstige Zögerlichkeit Deutschlands nicht verkneifen. Er nannte das Land zwar nicht beim Namen, liess aber anklingen, dass rechtzeitige Waffenlieferungen (des Westens; Anm. d. Red.) in den Jahren vor der Invasion Putin von einem Angriff hätten abschrecken können.

Nato will ukrainische Kriegserfahrungen nutzen

Selenski sucht nicht nur in Deutschland Beistand. Nachdem er bereits Mitte Januar mit Grossbritannien ein Sicherheitsabkommen geschlossen hatte, wollte er am Abend in Paris auch mit Frankreich einen entsprechenden Vertrag unterzeichnen. Weitere Länder vor allem aus der G-7 sollen folgen. Scholz und Selenski zeigten sich vorsichtig optimistisch, dass es gelingt, die durch die Republikaner im Kongress blockierte weitere amerikanische Militärhilfe freizubekommen.

«Wir werden die gewohnte pragmatische Herangehensweise der USA sehen, da bin ich zuversichtlich», sagte Selenski. Scholz ergänzte, er habe sich bei seinem Besuch in den USA vor einer Woche bei Demokraten und Republikanern dafür eingesetzt, dass «diese Mittel jetzt kommen». Am Wochenende auf der Sicherheitskonferenz in München werden Scholz und mutmasslich auch Selenski weitere Gespräche mit den anwesenden amerikanischen Kongressabgeordneten dazu führen. Für die Ukraine ist die Militärhilfe der USA existenziell, weil Europa kaum in der Lage ist, sie in ihrem bisherigen Umfang zu kompensieren.

Am Rande des Selenski-Besuchs wurde bekannt, dass die Nato und die Ukraine auf dem polnischen Militärstützpunkt in Bydgoszcz den Aufbau eines Zentrums für die Analyse militärischer Erfahrungen aus dem russischen Angriffskrieg planen. Keine andere Armee weiss so viel über die Stärken und Schwächen der russischen Streitkräfte wie die ukrainische. Das will die Nato künftig für die Aufstellung ihrer eigenen Truppen, Taktiken und Doktrinen nutzen.

Scholz und Selenski äusserten sich in Berlin auch zum Tod des russischen Regimegegners Alexei Nawalny. Die Nachricht sei sehr bedrückend, sagte Scholz. Nawalny habe seinen Mut, nach seiner Behandlung in Deutschland im Januar 2021 nach Russland zurückzukehren, mit dem Leben bezahlt. «Wir wissen nun ganz genau, was das für ein Regime ist.» Selenski ergänzte, Nawalny «wurde von Putin und seinem Regime getötet».

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