Wir brauchen eine grössere Masse an Panzern, Flugzeugen und Schiffen, aber auch mehr Klasse, findet der Hensoldt-Chef. Dazu zählt er die firmeneigenen Radare zur Raketenabwehr, die sich in der Ukraine das Prädikat «einsatzerprobt» erworben haben.
Herr Dörre, Ihr Vater war Fussballprofi bei Rot-Weiss Essen. Was hat Sie dann zur Bundeswehr geführt, in der Sie einen grossen Teil Ihres Berufslebens verbracht haben?
Als kleinen Jungen hat mich mein Vater zur internationalen Polizeiausstellung mitgenommen, an der auch die Bundeswehr ausgestellt hat. Dort waren Fahrzeuge, Hubschrauber und dergleichen zu sehen. Da hat eine Grundbegeisterung begonnen. Förderlich war auch, dass der Vater eines Kameraden in meiner Abiturklasse, ein General, ein Schnupperwochenende bei der Bundeswehr organisiert hat. Damals, Ende der 1980er Jahre, war zudem der Film ‹Top Gun› das grosse Thema. Die Kombination Zeitsoldat mit Informatikstudium war dann ein Paket, das mich überzeugt hat, zur Bundeswehr zu gehen.
Dort haben Sie es bis zum Oberstleutnant gebracht, sind schliesslich aber kurz vor dem Erreichen der Pensionsansprüche in die Privatwirtschaft gewechselt. Warum?
Das war keine Entscheidung gegen die Bundeswehr. Ich habe den damaligen Deutschland-Chef des Flugsicherungsspezialisten Frequentis kennengelernt, der sehr charismatisch war und einen Nachfolger suchte. Der Schritt ist mir nicht leichtgefallen, aber er hat sich ausgezahlt. Nach zwei Jahren war ich bereits der Chef meines Chefs, und ich habe gemerkt, welche Freiheitsgrade einem die Industrie bei entsprechender Leistung bietet.
Seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine hat sich in der Verteidigung viel getan. War es genug?
Das Glas ist halb voll. Gemessen an den fast 35 Jahren, die ich in der Branche unterwegs bin, hat sich seit der Zeitenwende eine Menge getan, die scheidende Bundesregierung hat viel bewegt. Natürlich könnte man immer schneller sein und mehr machen.
Wie viel vom «Sondervermögen Bundeswehr», einem Topf von 100 Milliarden Euro, entfällt auf Bestellungen bei Hensoldt?
Als grobe Grössenordnung konnten wir rund 10 Prozent des Sondervermögens als Aufträge bei uns verbuchen. Es geht im Wesentlichen um Luftverteidigung. Für das bodengebundene Luftverteidigungssystem Iris-T SLM von Diehl, das auch an die Ukraine geliefert wird, tragen wir die Radartechnologie bei. Hinzu kommen viele weitere Technologien, darunter Fahrzeugprogramme oder Periskope für U-Boote.
Wie sehen Sie die künftige finanzielle Ausstattung der Bundeswehr?
Bis zum Auslaufen des Sondervermögens Ende 2027 sehen wir die Ausstattung eigentlich gut. Auch hier gilt zwar: Mehr geht immer. Die Frage ist, was danach kommt. Da erwarte ich, dass der Bund die Verteidigungsausgaben bei mindestens 2 Prozent des Bruttoinlandprodukts verstetigt. Ich glaube aber auch, dass wir in Richtung 3 bis 3,5 Prozent des BIP gehen müssen. Wir haben weiterhin Fähigkeitslücken, die ein Vielfaches des Sondervermögens Bundeswehr darstellen. Langfristig wird der Investitionsbedarf der Bundeswehr auf 200 bis 300 Milliarden Euro geschätzt.
Wofür?
Zum einen brauchen wir Masse: mehr Panzer, mehr Flugzeuge, mehr Schiffe. Zum andern Klasse: Wir benötigen Verbesserungen bei bestehenden Produkten, beispielsweise für die Fregatte 125, die für einen heissen Konflikt gerade im Bereich Luftverteidigung derzeit nicht adäquat ausgestattet ist. Hinzu kommt, dass Russland und China in drei Monaten so stark aufrüsten wie Europa in einem Jahr. Um dieser Masse zu begegnen, brauchen wir eine neue Klasse. Da liegt die Zukunft in Digitaltechnologien, und da kann Hensoldt einen starken Beitrag leisten.
Sollte Deutschland dieses Niveau durch eine Erhöhung des regulären Verteidigungshaushalts oder weitere Sondervermögen erreichen?
Das ist eine politische Entscheidung. Wir als Industrie sind da indifferent. Was wir brauchen, ist Planungssicherheit über etliche Jahre. Deshalb bin ich dafür, das Bekenntnis zu den Verteidigungsausgaben im Grundgesetz festzuschreiben und damit unabhängig von der jährlichen Haushaltsführung zu machen. In der Weihnachtszeit darf man sich ja etwas wünschen: Deutschland sollte 3 Prozent des BIP für die Verteidigung im Grundgesetz verankern. Dies sollte dann zumindest für zehn Jahre gelten.
Die Ukraine-Krieg hat auch Ihr eigenes Unternehmen verändert.
Wir haben in den letzten zweieinhalb Jahren unsere Produktionskapazität massiv ausgebaut. Beim Mittelbereichsradar TRML-4D, das täglich in der Ukraine im Einsatz ist, haben wir die jährliche Produktion von 3 auf 15 Radare verfünffacht. Und wir setzen alles daran, sie in den nächsten Jahren weiter zu erhöhen.
Sie können Ihre Produkte jetzt verstärkt im realen Einsatz testen. Haben Sie neue Erkenntnisse gewonnen?
Vor dem Hintergrund der operationellen Sicherheit sind wir etwas zurückhaltend mit Informationen. Sagen kann ich, dass wir im Austausch sind und definitiv sehen, dass dieses Radar hervorragende Dienste leistet beim Schutz der Bürgerinnen und Bürger der Ukraine. Ich denke, das dies einer der Gründe dafür ist, dass es als Standardprodukt für die European-Sky-Shield-Initiative (ESSI) im Mittelbereichssegment ausgewählt wurde. Da ist das Prädikat «einsatzerprobt» natürlich gut für eine Technologie.
Alle Rüstungsunternehmen bauen derzeit aus. Werden Sie auf Überkapazitäten sitzenbleiben, wenn der Ukraine-Krieg irgendwann zu Ende geht und die Staaten die Verteidigungsausgaben wieder zurücknehmen?
Das ist ein Missverständnis. Lieferungen in die Ukraine tragen nur etwa 6 Prozent zu unserem diesjährigen Umsatz und 3 Prozent zum Auftragsbestand von 6,5 Milliarden bei. Zudem würde ein Frieden oder Waffenstillstand in der Ukraine nicht bedeuten, dass Putin von seinen Aggressionen von heute auf morgen ablässt. Sein hybrider Krieg gegen die Nato findet ja bereits statt. In Deutschland geht man davon aus, dass Russland 2028 oder 2029 die Fähigkeit erreichen wird, die Nato anzugreifen. Wir brauchen eine eigene Abschreckungsfähigkeit in Europa. Um diese wieder aufzubauen, benötigen wir nach zwei, drei Jahrzehnten Friedensdividende mindestens ein Jahrzehnt Rüstungsbeschaffung – unabhängig von der Lage in der Ukraine.
Sie haben die ESSI erwähnt, ein 2022 lanciertes Projekt für den Aufbau eines verbesserten europäischen Luftverteidigungssystems. Wo steht die Umsetzung?
Über 20 Nationen haben sich der Initiative angeschlossen. Hensoldt hat mit drei Ländern Verträge geschlossen, zwei weitere Verträge befinden sich im Abschluss, mit drei Staaten sind wir in Diskussion. Das Projekt nimmt Fahrt auf. Die Herausforderung liegt in der Standardisierung. Wir erleben immer wieder, dass Kunden die Systeme auf ein anderes Fahrzeug montiert haben wollen, ein zusätzliches Feature oder andere kaufmännische Bedingungen wünschen. Doch je konsequenter wir auf eine Standardbeschaffung und ein Standardvertragswerk setzen, desto schneller können wir umsetzen.
Die Schweiz ist seit Oktober Mitglied in der ESSI. Ist das Land dadurch für Hensoldt wichtiger geworden?
Wir begrüssen den Beitritt der Schweiz sehr. Ich hoffe, dass sich die Verantwortlichen auch unsere Radare genauer anschauen, auch unser Passivradar. Zudem interessiert sich die Schweiz für den Bereich elektromagnetischer Kampf, in dem wir mit Deutschland und den Niederlanden sehr gut unterwegs sind. Wir hoffen, dass sich die Schweiz diesem Team anschliesst. Darüber hinaus sind wir schon lange in der Schweiz aktiv, etwa mit dem Radar für den Leopard-Panzer, wo wir eine gute Kooperation mit der Ruag haben. Zudem haben wir einige Flugplätze der Schweizer Luftwaffe mit Anflugleitsystemen ausgestattet.
Deutschland ist mit einer Sperrminorität von 25,1 Prozent Grossaktionär bei Hensoldt, der italienische Rüstungshersteller Leonardo hält 22,8 Prozent. Sind Sie dennoch offen für eine weitere Konsolidierung in der Rüstungsindustrie?
Wir haben mit dem Kauf des Elektronikanbieters ESG gerade erst eine grosse Akquisition abgeschlossen. 2025 wird für mich das Jahr der Partnerschaften, in dem wir erst mal in die Diskussion mit verschiedenen Firmen einsteigen. Wir können uns aber kleinere oder mittlere Akquisitionen vorstellen. Der Anteil der Bundesregierung ist für uns ein stabilisierender Anker, und wir freuen uns über die Rückendeckung aus Berlin. Mit Leonardo haben wir eine sehr gute Kooperation, beispielsweise beim Eurofighter. Vielleicht kommen da noch Panzer hinzu, da Leonardo in diesem Bereich mit Rheinmetall kooperiert.
Laut Medienberichten sind Sie am Kauf der Elektroniksparte Atlas von TKMS, des zum Verkauf stehenden Marinebereichs von ThyssenKrupp, interessiert.
Hensoldt ist als nationaler Technologieführer im Segment Verteidigungselektronik ausgezeichnet positioniert, zur nationalen Konsolidierung der Verteidigungsindustrie in Deutschland beizutragen. Nach unserem Verständnis präferiert ThyssenKrupp derzeit jedoch andere Transaktionsszenarien und keinen separaten Verkauf von Atlas. Unabhängig davon entstünde durch einen möglichen Zusammenschluss von Atlas und Hensoldt ein weltweit wettbewerbsfähiger deutscher Champion für die Marine.
Bis 2016 war Hensoldt ein Teil von Airbus. Hat die Ausgliederung den entscheidenden Wachstumsschub gebracht, oder war das am Ende doch der Krieg in der Ukraine?
Die Ausgliederung hat uns Freiheiten verschafft, und wir waren tüchtig. Letzteres wurde 2018 mit dem Auftrag für das neue Radar für den Eurofighter und 2021 mit dem Milliardenvertrag für das Pegasus-Aufklärungssystem belohnt. Darüber hinaus hat uns der Kriegsausbruch sicherlich einen grossen Schub gegeben. Der wichtigste Erfolgsfaktor nach der Ausgliederung war jedoch unsere Plattformunabhängigkeit: Wir haben nicht mehr primär für Airbus produziert, sondern konnten unsere Systeme allen Unternehmen anbieten. Unsere Radare sind nun bei verschiedenen Kampfflugzeug- und Panzerherstellern im Einsatz.
Sie waren ein paar Jahre Deutschland-Chef des französischen Rüstungskonzerns Thales und kennen dadurch beide Länder. Warum läuft es so schlecht zwischen Deutschen und Franzosen?
Eines vorab: Wir brauchen eine sehr starke deutsch-französische Kooperation. Bei vielen Differenzen geht es um kulturelle Aspekte. Zwei Beispiele: Deutschland ist sehr juristisch-vertraglich orientiert, in Frankreich gibt es dagegen eine grössere Flexibilität. Zudem ist der Nuklearmacht Frankreich die strategische Dimension viel wichtiger. Diese wurde uns in Deutschland mit den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges ein bisschen aberzogen. Darüber hinaus setzen die französische Armee und die Bundeswehr unterschiedliche Schwerpunkte, was die Entwicklung gemeinsamer Produkte erschwert.
In Deutschland wird im Februar gewählt. Haben Sie Wünsche an die neue Bundesregierung?
Wir benötigen vor allem Planungssicherheit, das betrifft drei Ebenen. Erstens, wie zuvor beschrieben, den Haushalt. Zweitens wünschen wir uns eine konsequente Umsetzung der Sicherheits- und Verteidigungsindustriestrategie. Und drittens benötigen wir Stabilität bei der Exportpolitik. Auch wenn Deutschland und Europa jetzt wieder aufrüsten, reicht das nicht, um unseren Motor langfristig am Laufen zu halten. Dazu benötigen wir auch den Export, wofür es klare und dauerhaft verlässliche Richtlinien geben muss.
Man konnte dieses Jahr lesen, dass es Mordpläne gegen Rheinmetall-Chef Armin Papperger gegeben hat. Gehen Sie in Ihrer Position auch ein persönliches Risiko ein?
Wir nehmen die potenzielle Bedrohung sehr ernst und treffen auch Sicherheitsvorkehrungen. Momentan sehe ich jedoch keine Einschränkungen, die mich von meiner Aufgabe abhalten würden. Es kommt mir sicherlich zugute, dass ich als ehemaliger Soldat nicht allzu ängstlich bin. Wie man im Soldatischen sagt: Wir leben in der Lage.
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