Im Land herrscht bisher kaum Turnierstimmung, das eigene Team ringt um die Gunst seines Publikums. Doch durch Anbiederung allein wird diese nicht zurückzugewinnen sein.
Am Freitag wird sie angepfiffen, die Fussball-Europameisterschaft in Deutschland. Im Münchner Stadion, wo sonst der FC Bayern seine Gegner empfängt, mit dem Eröffnungsspiel der Gastgeber gegen Schottland.
Es ist ein Turnier klassischen Zuschnitts, eine Veranstaltung in einem Land mit Fussballtradition und grosser Fussballbegeisterung, konzentriert auf die Zentren Nordrhein-Westfalen, München und Berlin. Damit ist diese EM das genaue Gegenteil der letzten Europameisterschaft, die ein transnationales Turnier mit Spielorten von Bilbao bis St. Petersburg war.
Eigentlich sind das gute Bedingungen für eine Grossveranstaltung. Doch der Gastgeber befindet sich gerade in einer speziellen Situation; im Land vermag bis jetzt kaum Turnierstimmung aufzukommen – und das hat seinen Grund. Zu trübe waren die letzten Jahre im deutschen Fussball, zu wechselhaft die Leistungen, zu gross die Enttäuschungen.
Vor allem daran liegt es, dass sich jene Stimmung noch nicht einstellen will, die einer grossen Fussballnation angemessen wäre – ganz anders als damals, im Jahr 2006, als die Deutschen die Weltmeisterschaft ausrichteten und sich der Welt als exzellente Gastgeber präsentierten.
Das «Sommermärchen» von 2006 gilt als der Goldstandard
Damals schien alles perfekt. Das Wetter war prächtig; fünf Wochen durchgängiger Sonnenschein galten als glückliche Fügung und nicht als Vorbote des Klimawandels. Die Stimmung war ausgelassen, das Heimteam spielte ansehnlichen Fussball, und bald wurde bloss noch vom deutschen «Sommermärchen» gesprochen.
«Die Welt zu Gast bei Freunden» – dieser Slogan wurde während des Turniers tatsächlich mit Leben erfüllt, und das Land profitierte in den folgenden Jahren von der positiven Wahrnehmung der auswärtigen Besucher, die eine ungewohnt heitere Seite der Deutschen entdeckten. Und weil alles, zumindest auf den ersten Blick, so reibungslos über die Bühne ging, galt die Weltmeisterschaft fortan als Goldstandard für alle nachfolgenden Turniere.
An diesem wird sich die Europameisterschaft messen lassen müssen – und erst recht das deutsche Nationalteam mit seinen Leistungen. Denn 2006 entpuppte sich in der Retrospektive als der Beginn einer rasanten Entwicklung, die in dem deutschen WM-Sieg 2014 in Brasilien ihren Höhepunkt hatte. Nie zuvor war der deutsche Fussball mit solcher Regelmässigkeit Stammgast in den Halbfinals der internationalen Turniere wie in den Jahren nach 2006.
Spitzenpolitiker, allen voran die CDU-Kanzlerin Angela Merkel, sahen gern beim Team vorbei, das sich politisch leicht vor den Karren spannen liess. Weil in den Jahren darauf ein paar Protagonisten dazukamen, die das hatten, was als Migrationshintergrund bezeichnet wird, galt die Auswahl als ein Beispiel gelungener Integration. Legendär ist das Foto der Kanzlerin mit dem Spielmacher Mesut Özil in der Kabine nach einem Spiel gegen die Türkei 2010.
Heute erscheinen die Bilder von damals wie eine Illusion. Die Sehnsucht nach einem harmonischen Multikulturalismus wurde auch im Fussball enttäuscht, die Hoffnung, der Fussball könne gesellschaftliche Probleme lösen oder zumindest den Weg weisen, entpuppte sich als naiv.
Die Erwartungen an den Fussball sind naiv
Mesut Özil liess sich, ebenso wie der derzeitige Captain Ilkay Gündogan, 2018 mit dem türkischen Despoten Erdogan ablichten; der Eklat führte nach einer hysterisch geführten Diskussion zum Ende seiner Karriere als Nationalspieler.
Es war nicht das einzige Krisenereignis im deutschen Fussball nach dem WM-Gewinn 2014. Gegenwärtig läuft ein Gerichtsverfahren in Frankfurt am Main gegen die Verantwortlichen des WM-Organisationskomitees, der «‹Sommermärchen›-Prozess», es geht um den Vorwurf der Steuerhinterziehung; der Verdacht, die WM 2006 sei gekauft worden, ist zudem nie entkräftet worden. Auch das trug bei zur krisenhaften Stimmung, die rund um den Deutschen Fussball-Bund (DFB) herrscht, dessen Präsidenten sich seit 2015 die Klinke in die Hand geben.
Und auf sonderbare Weise scheint dies mit der Stimmung im Land zu korrespondieren: Deutschland wirkt an allen Ecken und Enden überfordert, die Konjunktur harzt, die Infrastruktur ist marode, so dass an der Europameisterschaft vor allem die Deutsche Bahn dafür sorgen dürfte, dass die Fussballfans nicht wie 2006 reibungslos an ihre Zielorte gelangen werden.
Vor allem aber ist das Nationalteam unentwegt Gegenstand gesellschaftlicher wie politischer Debatten. Jüngst erst wurde vom Westdeutschen Rundfunk (WDR) eine Umfrage lanciert, die wissen wollte, ob sich die deutschen Fussballfans mehr weisse Nationalspieler wünschten. 21 Prozent sprachen sich dafür aus.
Julian Nagelsmann ist Optimist, er befasst sich mit Chancen, nicht mit Risiken. Entsprechend formuliert er im Interview mit uns seine wichtigste Eigenschaft fürs Turnier: Mut.
Hier könnt ihr das komplette Interview lesen:
📑 https://t.co/Le19c7z74t pic.twitter.com/nveVqYINxy— DFB-Team (@DFB_Team) June 6, 2024
Das Ergebnis bekräftigte zwar nicht mehr als das, was bekannt war, denn der Wert entspricht etwa den Umfragewerten der rechtsradikalen AfD, bevor Teile von deren Spitzenpersonal in den letzten Wochen begannen, sich selber zu demontieren. Doch die Umfrage taugte ein weiteres Mal dazu, die Ergebnisse zu skandalisieren, zumal die Verbandsoffiziellen mit der Situation nicht umzugehen wussten. Der Nationaltrainer Julian Nagelsmann reagierte verschnupft: Er wolle nie wieder eine solche «Scheiss-Umfrage» lesen.
Alles ausser Fussball: Auf diese Formel lassen sich viele Diskussionen reduzieren, die um die deutschen Kicker kreisen. Und gerade das macht die Situation so heikel. Denn die Verantwortlichen im DFB haben in den letzten Jahren allerhand getan, um sich vom Publikum zu entfremden.
Mit Verve wurden gesellschaftspolitische Debatten geführt, etwa darum, ob die Mannschaft in Katar mit einer Binde auftreten werde, die an einen Regenbogen gemahnt, um auf die Situation von Homosexuellen vor Ort aufmerksam zu machen. Mit einer an Penetranz grenzenden Beharrlichkeit wurden Anliegen betrieben, die sich samt und sonders unter der schwer erträglichen Phrase «Vielfalt, Toleranz und Offenheit» subsumieren lassen.
Ein Fussballverband ist keine NGO
Wenn aber der Erfolg ausbleibt, dann folgt schnell die Frage nach den Prioritäten. So kann es kaum verwundern, dass das Publikum sich zusehends von einer Mannschaft distanziert, die vergessen hat, was die Anhänger verbindet: erinnerliche Augenblicke auf dem Feld – aber gewiss keine Aktionen, die früher einmal die Domäne von NGO waren.
Fehler wurden reichlich begangen. Im Bemühen, allen gefallen zu wollen, kam der ehemalige DFB-Direktor Oliver Bierhoff auf die Idee, aus der Nationalmannschaft nur noch «Die Mannschaft» zu machen. Solche Beliebigkeit blieb nicht ohne Folgen. Das einstmals liebste Kind der Deutschen wurde zum Sorgenfall. Und spätestens mit dem Scheitern an der Weltmeisterschaft in Katar 2022 wirkte der Verband bloss noch wie eine Karikatur jener erfolgreichen Organisation, die er während Jahrzehnten war.
Nun ist gerade ein solcher Entfremdungseffekt meistens dann zu beobachten, wenn sich Anzeichen von Dekadenz einschleichen. Der Erfolg hatte lange gewährt – lange genug jedenfalls, dass man offenbar glaubte, er sei garantiert. Der Erosion nun zu begegnen, ist keine leichte Aufgabe, denn jeder Kurswechsel dünkt wie eine Anbiederung.
Den Volkshelden Rudi Völler zum DFB-Direktor zu ernennen, war ein keineswegs unsympathisches Zugeständnis an die Kernklientel; dass die Mannschaft in Thüringen ein Trainingslager in der Nähe von Weimar abhielt, um dort einmal nach dem Rechten zu sehen, wirkt allerdings eigenartig: Für die Bundesländer im Osten der Republik haben sich die Macher der Nationalmannschaft nie sonderlich interessiert.
Es geht um mehr als nur Ergebnisse
Die Gemengelage ist also explosiv. Daher ist gut zu verstehen, dass der Nationaltrainer Nagelsmann äusserst verärgert auf Irritationen von aussen wie jene WDR-Umfrage reagiert. Er wittert nicht zu Unrecht, dass auf diese Art und Weise bloss Radau gemacht werden soll. Und vielleicht dämmert nun auch dem ein oder anderen im Verband, dass der deutsche Fussball vor allem ein Trittbrett ist, das besonders dann von Nutzen ist, wenn darauf Debatten ausgetragen werden können, die anderswo schwerer zu führen wären.
So war es auch vor der WM 2022 in Katar, als es plötzlich am Fussball war, Deutschlands gutes Gewissen zur Schau zu tragen, während der Wirtschaftsminister Robert Habeck einen tiefen Bückling vor den katarischen Machthabern tat, da Russland wegen des Ukraine-Krieges als Gaslieferant ausgefallen war.
Daher ist es gar nicht so leicht, sich wieder mit dem zu beschäftigen, worum es an einem Turnier für gewöhnlich geht: darum, wie es sportlich um die Equipe bestellt ist. Doch so profan sind die Fragen nicht, die um den dreimaligen Europameister kreisen. An diesem Turnier geht es schlicht darum, zu klären, welches Verhältnis die Deutschen mittlerweile zu ihrem Volkssport haben.
Anspruchsvoller könnte die Europameisterschaft daher nicht sein für den Gastgeber. Das DFB-Team muss weit mehr leisten, als bloss ein anständiges Turnier zu spielen. Es muss sein Publikum zurückgewinnen.