Die neue deutsche Regierung will Grenzkontrollen ausbauen und Rückweisungen von Asylsuchenden durchsetzen. Bürgerliche Politiker in der Schweiz fordern Gegenmassnahmen.
Schon in den ersten Stunden im neuen Amt hat der neue deutsche Innenminister Alexander Dobrindt (CSU) einen Kurswechsel in der Migrationspolitik vorgenommen, der direkte Folgen für die europäischen Nachbarstaaten hat. Für die Schweiz gilt das ganz besonders: Schon jetzt werden an keiner anderen deutschen Landesgrenze so viele Personen zurückgewiesen wie an jener zur Schweiz. Nun werden die Regeln weiter verschärft: Auch Personen, die in Deutschland ein Asylgesuch stellen wollen, sollen an der Einreise gehindert werden.
Justizminister Beat Jans kritisierte diesen Kurswechsel umgehend, nachdem sein Departement zuvor erfolglos versucht hatte, Kontakt auf Ministerebene aufzunehmen. Die Schweiz bedaure, dass Deutschland diese Massnahme ohne Absprache getroffen habe, erklärte das Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) auf «X». Systematische Zurückweisungen an der Grenze verstossen aus Sicht der Schweiz gegen geltendes Recht. Die Migrationsprobleme seien von den Schengen-Staaten nur gemeinsam lösbar. Inzwischen sei auch ein Telefongespräch auf Ministerebene in Planung, heisst es beim EJPD.
Systematische Zurückweisungen an der Grenze verstossen aus Sicht der Schweiz gegen geltendes Recht. Die Schweiz bedauert, dass Deutschland diese Massnahmen ohne Absprache getroffen hat. Die Schweizer Behörden beobachten die Auswirkungen und prüfen gegebenenfalls Massnahmen. 1/4
— EJPD – DFJP – DFGP (@EJPD_DFJP_DFGP) May 7, 2025
Bisher ist allerdings unklar, was das neue Grenzregime in der Praxis bedeutet. Die Ausführungen von Dobrindt und Merz lassen vorerst nicht unbedingt auf eine ganz harte Linie schliessen. Die Polizeikräfte an der Grenze würden «Schritt für Schritt» erhöht, sagte Dobrindt. Zu den 11 000 Bundespolizisten an der Grenze sollen 3000 zusätzliche Beamte kommen. Das Schweizer Bundesamt für Zoll und Grenzsicherheit (BAZG) erklärt, es habe noch keine Veränderungen festgestellt.
Rückweisungen «ab sofort» möglich
Katharina Kessler, Mediensprecherin bei der deutschen Bundespolizei in Weil, erklärt auf Anfrage der NZZ, die bisherigen Grenzkontrollen würden fortgesetzt. Bereits im Oktober 2023 hatte Deutschland die Kontrollen an der Grenze zur Schweiz wieder eingeführt und dafür zusätzliches Personal der Bundespolizei abgestellt. Ob nun weiter aufgestockt wird, lässt sie offen. Neu sei vorerst nur, dass auch Personen zurückgewiesen werden könnten, die in Deutschland um Asyl ersuchen wollten.
Die Anrainerstaaten von Deutschland seien dabei generell verpflichtet, Personen, denen die Einreise im Rahmen der vorübergehend wieder eingeführten Binnengrenzkontrollen verweigert werde, ohne weitere Voraussetzungen oder Formalitäten zurückzunehmen. Unklar ist, ob es in den ersten Stunden seit Einführung des neuen Regimes an der Grenze zur Schweiz bereits zu solchen Rückweisungen gekommen ist.
Die Schweiz zeigt allerdings ein geringes Interesse, auf den neuen Kurs an der Grenze einzugehen, zumal sie sich nicht in der Pflicht sieht. Sie positioniert sich allerdings etwas zurückhaltender als andere Nachbarstaaten von Deutschland. Der polnische Regierungschef Donald Tusk machte gegenüber Bundeskanzler Merz am Mittwoch mit deutlichen Worten klar, dass sein Land nicht zur Aufnahme von Asylsuchenden bereit sei, die Deutschland zurückweise.
Sowohl beim SEM als auch beim BAZG erhält man derzeit keine konkreten Angaben, wie man mit zurückgewiesenen Personen verfahren will. Diese hätten oft selbst gar kein Interesse an einem Asylgesuch in der Schweiz und wollten weiterziehen. Es sei völlig unklar, was Deutschland erreichen wolle.
Auch zwei oder drei Einreiseversuche möglich
Die Sprecherin der deutschen Bundespolizei Kessler sagt, eine physische Übergabe von zurückgewiesenen Personen werde «aufgrund der partnerschaftlichen Zusammenarbeit der Grenzbehörden angestrebt». Grundsätzlich genüge jedoch auch die Ankündigung der Zurückweisung, «um diese an einem abgestimmten Überstellungsort ohne physische Übergabe zu vollziehen».
Das bedeutet nichts anderes, als dass die aufgegriffenen Personen im Grenzgebiet freigelassen werden. Es sei deshalb nicht ausgeschlossen, dass Asylsuchende zwei oder mehrere Anläufe nehmen könnten, um nach Deutschland zu gelangen, so Kessler. Den deutschen Behörden sei dies allerdings bekannt, weshalb sie ihr Dispositiv entsprechend ausgerichtet hätten.
Das Staatssekretariat für Migration (SEM) hat die Wirkung von Grenzkontrollen wegen solcher Mehrfachversuche stets infrage gestellt. Eine hohe Zahl an Rückweisungen bedeute nicht automatisch, dass die Personen tatsächlich an der Einreise nach Deutschland gehindert worden seien. In der Schweiz hätten die Asylgesuche in Zentren nahe zu Deutschland jedenfalls nicht zugenommen. Auch die aus Sicherheitsgründen verschärften Grenzkontrollen während der Fussball-EM und der Olympischen Spiele hätten keinerlei Auswirkung auf die irreguläre Migration gehabt.
Der innenpolitische Druck auf Jans, die Grenzkontrollen weiter zu verschärfen, wird allerdings dennoch zunehmen. Bereits im Frühjahr hatte das Parlament beschlossen, die Kontrollen zu intensivieren. «Unter Berücksichtigung der Massnahmen der Nachbarstaaten» seien Massnahmen zu ergreifen, um Personen ohne gültige Aufenthaltsberechtigung konsequent wegzuweisen. Nun flammt die Debatte erneut auf.
SVP begrüsst Migrationspolitik von Merz
Der Luzerner FDP-Ständerat Damian Müller sagt auf Anfrage, die Schweiz müsse verlangen, dass Deutschland sich an Vereinbarungen halte, doch könne sie dies kaum erzwingen. Sie müsse deshalb Massnahmen ergreifen, um ihre Grenzen zu schützen: «Die Schweiz kann nicht alle Migranten behalten, die die Schweiz durchqueren – nur weil sich die Nachbarländer entgegen den Regeln weigern, sie aufzunehmen.» Der Thurgauer SVP-Nationalrat Pascal Schmid sagt, er erwarte, dass der Bundesrat nun sofort nachziehe, statt Deutschland zu kritisieren, und die illegale Einreise von Asylsuchenden unterbinde.
Das Vorgehen der deutschen Regierung stellt aber auch das gemeinsame europäische Asylsystem (Geas) infrage – auch wenn sich Deutschland dazu nach wie vor bekennt. Nächstes Jahr soll die Reform des Geas in Kraft treten: Asylsuchende sollen künftig konsequent schon an den EU-Aussengrenzen kontrolliert, registriert und bei erfolglosen Anträgen in Schnellverfahren abgelehnt werden. Dieser Mechanismus soll die Schwächen des Dublin-Abkommens ausgleichen und innereuropäische Grenzkontrollen überflüssig machen.
Mit der Einführung von zusätzlichen Grenzkontrollen läuft Deutschland nun in die entgegengesetzte Richtung. Polens Regierung hat bereits anklingen lassen, dass sie als Reaktion auf Deutschlands Vorpreschen die Grenzen ebenfalls wieder stärker überwachen könnte. Verschiedene Fachleute skizzierten in den letzten Monaten das Szenario eines Dominoeffektes: dass nämlich schrittweise alle Schengenstaaten die Dublin-Vorschriften ausser Kraft setzen könnten.
Schlechte Chancen für Solidaritätsmechanismus
Bereits im Dezember 2022 kündigte Italien an, wegen der grossen Zahl der ankommenden Flüchtlinge keine Dublin-Fälle zurückzunehmen. Dabei handelt es sich um Personen, die auf italienischem Gebiet bereits ein Asylgesuch gestellt haben. Die Zuständigkeit von weit mehr als 1200 Fällen ist seither von Italien auf die Schweiz übergegangen.
In der Schweiz, wo derzeit über die Beteiligung an der Geas-Reform diskutiert wird, kommt diese Entwicklung gar nicht gut an. Der Bundesrat hatte erst kürzlich vorgeschlagen, sich freiwillig an einem Solidaritätsmechanismus im Rahmen von Geas zu beteiligen. Dieser verpflichtet EU-Staaten dazu, Länder mit hoher Migrationsbelastung, wie Italien oder Griechenland, zu unterstützen. Demnächst entscheidet das Parlament, ob sich die Schweiz beteiligen soll. Es wäre eine Überraschung, wenn das Projekt jetzt noch eine Chance hätte.