Die drittgrösste Volkswirtschaft der Welt kommt seit mehr als fünf Jahren nicht vom Fleck. Die Bundestagswahl vom 23. Februar kann die Weichen zum Aufbruch stellen – aber je nach Koalitionskonstellation droht weiterer Stillstand.
Die Bundestagswahl in Deutschland am kommenden Sonntag wird von vielen als historisch bezeichnet, als Schicksalswahl. Denn Deutschland steht, gemeinsam mit seinen europäischen Nachbarn, vor enormen Veränderungen. Dies wurde zuletzt drastisch verdeutlicht durch das Telefonat des amerikanischen Präsidenten mit seinem russischen Kollegen, sowie die Aussagen des US-Vizepräsidenten J.D. Vance auf der Münchener Sicherheitskonferenz.
Die völlige Missachtung deutscher und europäischer Interessen, die in diesen Ereignissen deutlich wurde, veranschaulicht die Herausforderungen, vor der die nächste Bundesregierung stehen wird.
Aber damit nicht genug. Die deutsche Volkswirtschaft, einst Wachstumslokomotive in Europa, hat sich seit dem letzten Vor-Covid- Jahr 2019 nicht von der Stelle bewegt. Im gleichen Zeitraum ist die US-Wirtschaft real um 12% gewachsen, die der EU um immerhin gut 6% und die Schweiz um rund 7%.
Von der neuen Bundesregierung erwarten viele Deutsche, dass sie die Wirtschaft wieder auf Kurs bringt und Deutschland resilienter macht gegenüber den Veränderungen in der Welt.
Wirtschaft und Migration als wichtigste Themen
Neben dem Thema Wirtschaft, das in Umfragen mit 43% der Nennungen das nach Ansicht einer relativen Mehrheit dringendste Problem in Deutschland darstellt, folgt auf Platz zwei der Bereich Migration und Flüchtlinge (42%). Letzteres Thema hat allerdings die Tendenz, im Zusammenhang mit von Ausländern begangenen Attentaten in seiner Wahrnehmung vorübergehend hochzukochen. Üblicherweise wird es dann aber schon wenige Wochen später wieder als weniger dringlich wahrgenommen, wie ähnliche Episoden im Herbst 2023 und Spätsommer 2024 gezeigt haben.
Anders das Thema Wirtschaft. Der offensichtliche und von vielen Bürgern gespürte ökonomische Niedergang Deutschlands, dokumentiert inzwischen auch durch steigende Arbeitslosigkeit und Insolvenzzahlen, ist ein relativ neues Problem. Im Januar 2024 etwa rangierte es in Umfragen mit 8% der Nennungen noch unter ferner liefen.
Bemerkenswert ist schliesslich auch, wie sehr sich der Fokus auf das Thema Energie und Klima relativiert hat. Noch im Frühjahr und Sommer 2023 war dies der Bereich, in dem sogar eine absolute Mehrheit der Deutschen das grösste Problem erkannte. Zum Teil hatte dies mit den Schwierigkeiten zu tun, nach Atom- und Kohleausstieg nun plötzlich auch ohne russisches Gas auskommen zu müssen. Aber auch schon vor Beginn des russischen Angriffskriegs hatte das Thema Klima eine Rolle gespielt, etwa infolge der öffentlichen Aufmerksamkeit, welche Organisationen wie «Fridays for Future» oder «Last Generation» erhielten. Inzwischen liegt das Thema mit nur noch 18% der Nennungen weit abgeschlagen auf Platz drei der relevantesten Probleme.
Schuldenbremse als Thema mit Sprengkraft
Die nach der letzten Bundestagswahl im Herbst 2021 formierte Dreiparteienkoalition aus SPD, Grünen und FDP, nach ihren Parteifarben gern als «Ampel» bezeichnet, war als Zukunftskoalition angetreten. Denn wesentliche Problembereiche wie eine vernachlässigte Infrastruktur, Rückstand bei den Klimazielen oder ein Übermass an Bürokratie waren zu diesem Zeitpunkt schon bekannt.
Der Koalitionsvertrag der drei Parteien sah dann auch vor, sich dieser dringlichen Probleme anzunehmen. Die SPD erhielt dabei die Zusage, mit einer Ausweitung der Sozialausgaben ihre Wahlversprechen einlösen zu können, während die Grünen ausreichend Finanzmittel an die Hand bekamen, um ihrer Klientel die versprochene Transformation zur Klimaneutralität zu liefern. Die FDP schliesslich konnte, weil für die erforderlichen Staatsausgaben nicht verwendete Mittel aus dem Corona-Fonds verwendet werden sollten, ihren Wählern mitteilen, all dies werde im Rahmen der für die FDP so wichtigen Schuldenbremse stattfinden können.
Es war die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom Herbst 2023, genau diese Umwidmung der Corona-Gelder für nicht verfassungsgemäss zu erklären, welche der Ampel-Regierung den Stecker zog und schliesslich zur vorgezogenen Neuwahl am kommenden Sonntag führte. Und so wenig wir über die nächste Koalition wissen: Das Thema Finanzen dürfte erneut Sprengkraft entwickeln. Denn ohne eine gründliche Modernisierung der Schuldenbremse wird keine Regierung in der Lage sein, Defizite bei Verteidigung, Infrastruktur oder Bildung halbwegs glaubwürdig aufzuarbeiten.
Mit Blick auf die aktuellen Umfragen fällt auf, dass keine der bisherigen drei Regierungsparteien eine realistische Chance hat, die nächste Bundesregierung anzuführen. Die SPD steht bei etwa 15%, die Grünen knapp dahinter bei ca. 14%, und die FDP muss mit gegenwärtig nur 4 bis 5% um ihren Wiedereinzug ins Parlament bangen, denn dort gilt eine 5%-Hürde.
Zweier- oder Dreierkoalition?
Es ist aus derzeitiger Perspektive davon auszugehen, dass die CDU/CSU, bisher grösste Oppositionspartei und mit rund 31% in den Umfragen führend, den nächsten Bundeskanzler stellen wird. Spannend wird, welche Koalitionsoptionen sich nach dem 23. Februar ergeben werden. So ist es durchaus möglich, dass der CDU/CSU ein einzelner Koalitionspartner ausreicht – etwa, wenn sie mit der SPD oder den Grünen zusammen auf 46 bis 47% der Stimmen kommt.
Leicht bessere Chancen hätte in diesem Fall die SPD, nicht nur weil sie bisher in den Umfragen knapp vor den Grünen liegt, sondern auch, weil die bayrische CSU sich vehement gegen eine Koalition mit den Grünen sperrt und die CDU damit dieser Option berauben könnte.
Sollte aber, was ebenfalls sehr gut denkbar ist, keine Zweierkoalition die absolute Mehrheit im Bundestag erreichen, wäre vermutlich ein Dreierbündnis aus CDU/CSU, SPD und FDP (nach ihren Farben gern «Deutschland-Koalition» genannt) oder – falls die FDP den Einzug in den Bundestag verpasst – CDU/CSU, SPD und Grüne («Kenia-Koalition») zu erwarten.
Bemerkenswerterweise haben alle anderen Parteien, die Aussicht auf einen Einzug in den Bundestag haben, keine realistische Chance auf eine Regierungsbeteiligung. Dies betrifft vor allem die in Teilen rechtsextreme AfD trotz ihrer Umfragewerte von rund 20%, aber auch die Linkspartei (etwa 6%) und das von ebendieser Linkspartei abgespaltene Bündnis Sahra Wagenknecht (4–5%).
Drohender Stillstand
Was ist also vom Wahlausgang und der neuen Bundesregierung zu erwarten? Am wichtigsten scheint für die Wähler zu sein, dass die neue Regierung stabil ist. Über 80% stimmen dieser Aussage zu. Das mag verständlich erscheinen angesichts der Tatsache, dass die vorige Regierung vorzeitig zerbrochen ist, zudem weckt die Stärke der radikalen Parteien dunkle Erinnerungen an «Weimarer Verhältnisse».
Gefragt, welche Koalition sie am wahrscheinlichsten finden, entscheidet sich eine relative Mehrheit (35%) für CDU/CSU und SPD. Ob eine derartige Regierung die nach Ansicht der Befragten dringendsten Probleme lösen kann, nämlich die Wirtschaft auf Kurs zu bringen, die Migration in den Griff zu bekommen und die Energieversorgung mit den Klimasorgen zu versöhnen, bleibt allerdings offen. Denn die SPD scheint mit ihrem Wahlkampffokus auf soziale Gerechtigkeit, Renten und Umverteilung Themen anzusprechen, die eine Mehrheit der Deutschen als weniger dringlich empfindet (Umfragewerte 6 bis 7%).
Sollte sich die SPD als Juniorpartner in einer Koalition mit der CDU/CSU dem Umbau von Wirtschaft und Sozialstaat verweigern, droht fortwährender Stillstand. Und eventuell erneut eine unvollendete Legislaturperiode.
Welche Bedeutung hat dies alles für die Kapitalmärkte? Zu konstatieren, es hätte gar keine, wäre vermutlich zu einfach. Denn in der längeren Perspektive hat es durchaus eine Bedeutung, ob es der nächsten Bundesregierung gelingt, die drittgrösste Volkswirtschaft der Welt wieder auf Erfolgskurs zu bringen und gleichzeitig dafür zu sorgen, dass Europa mit einer einigen, starken Stimme spricht. Abgesehen davon, dass die unvermeidliche Reform der Schuldenbremse sehr wohl einen Einfluss auf die Verzinsung von Bundesanleihen haben könnte.
In der kurzfristigen Betrachtung jedoch gilt die Binsenweisheit, derzufolge politische Börsen kurze Beine haben. Der Dax dürfte auf das Wahlergebnis am Sonntag bestenfalls mit einem müden Lächeln reagieren.
Martin Lück