Freitag, April 25

Union und SPD, die bald zusammen regieren, haben sich auf schärfere Regeln für die Migration geeinigt. Doch sie sind für die Umsetzung auf nachbarschaftliche Zusammenarbeit angewiesen.

Eigentlich ist die Sache klar. Auch wenn ein Migrant künftig an der deutschen Grenze das Wort «Asyl» sagt, darf er nicht mehr automatisch in die Bundesrepublik einreisen. Darauf hat sich die neue Koalition aus konservativer Union und Sozialdemokraten in ihrem Koalitionsvertrag geeinigt. «Wir werden in Abstimmung mit unseren europäischen Nachbarn Zurückweisungen an den gemeinsamen Grenzen auch bei Asylgesuchen vornehmen», heisst es darin.

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In den Tagen nach der Vorstellung des Papiers wurde jedoch deutlich, dass die Koalitionäre die Passage unterschiedlich interpretieren. Insbesondere am Begriff «in Abstimmung» scheiden sich in Berlin die Geister.

Der CDU-Innenpolitiker Christoph de Vries deutet den Satz so: «Das heisst, dass man nicht einfach unangekündigt in ein Nachbarland zurückweist», sagte er der «Zeit». Er betonte jedoch auch, was es explizit nicht bedeutet: im Einvernehmen. Die Zurückweisungen sollen also kommen – egal, ob die Nachbarländer einverstanden sind oder nicht.

Bei den Sozialdemokraten hingegen versteht man den Satz vollkommen anders. Es sei gar nicht so schwierig, sagte kürzlich der Parteivorsitzende Lars Klingbeil in einem Podcast der «Bild». «Wenn ein deutscher Bundeskanzler bei seinem polnischen oder französischen Pendant anruft und sagt: ‹Wir finden jetzt hier einen gemeinsamen Weg› – dann ist das eine Abstimmung.» Soll heissen: Er erwartet von seinem Koalitionspartner Friedrich Merz sehr wohl, dass er zum Hörer greift und um Erlaubnis bittet.

Mit einigen Nachbarländern soll Deutschland bereits Gespräche geführt haben. Konkret nannte Merz am vergangenen Sonntag in der ARD-Talkshow von Caren Miosga Frankreich, Dänemark und Polen. Aus anderen Ländern kommt jedoch auch Kritik – insbesondere aus jenen, die bereits von den verschärften Grenzkontrollen der scheidenden deutschen Regierung betroffen sind.

Aus Wien etwa heisst es bereits seit Monaten, Österreich werde keine in Deutschland abgewiesenen Migranten aufnehmen. Der Innenminister Gerhard Karner von der konservativen ÖVP erklärte bereits im vergangenen September gegenüber der Zeitung «Der Standard», da gebe es «keinen Spielraum». Er habe auch den Bundespolizeidirektor angewiesen, keine Übernahmen durchzuführen.

Der neue Bundeskanzler Christian Stocker bekräftigte diese Position letzte Woche im Interview mit der NZZ: Wenn Deutschland widerrechtlich Migranten abweise, werde man sie nicht zurücknehmen. Er mache sich aber keine Sorgen, weil die künftige deutsche Regierung angekündigt habe, in Abstimmung mit den Nachbarn vorzugehen.

Direkte Gespräche zwischen Deutschland und Österreich gab es darüber aber offenbar noch nicht. Innenminister Karner sagte in einem Interview mit der «Presse», er sei mit Deutschland in engem Kontakt, aber es gebe ja noch keinen neuen deutschen Innenminister. Er begrüsste, dass Berlin einen «robusteren Asylkurs» verfolgen wolle. Er gehe aber davon aus, dass EU-Recht eingehalten werde.

Österreich übernahm bisher sehr wohl Personen, die an deutschen Grenzen abgewiesen wurden – etwa weil sie keinen Asylantrag stellten oder ein Einreiseverbot bestand. Laut der Nichtregierungsorganisation Asylkoordination handelte es sich dabei um rund 12 000 Fälle in den letzten drei Jahren. Österreich habe diese Personen dann jeweils registriert und freigelassen. Die meisten hätten erneut versucht, nach Deutschland zu gelangen.

Migranten, die einen Asylantrag in Deutschland stellen wollen, können aber laut EU-Recht erst nach einer Prüfung der Zuständigkeit und im Rahmen eines Dublin-Verfahrens zurückgeschickt werden. Was passiert, wenn ihnen diese Möglichkeit an der deutschen Grenze künftig verwehrt wird, Österreich sie aber nicht zurücknimmt, ist unklar. Merz antwortete bei Miosga lapidar, das Nachbarland brauche sie gar nicht zurückzunehmen. «Die haben sie. Die sind noch gar nicht bei uns.»

Würden beide Regierungen so handeln, wie sie es ankündigen, könnten Migranten also im Grenzbereich stranden. Oder es kommt zu einem Dominoeffekt, den Stockers Vorgänger Karl Nehammer noch vor der Parlamentswahl vom letzten Herbst angedeutet hatte. Sollte Deutschland unter Berufung auf die Notstandsklausel nach Artikel 72 der EU-Verträge die Schengen- und Dublin-Regeln aussetzen und alle Personen zurückweisen, werde man das auch tun, erklärte Nehammer damals.

Man habe die gleiche rechtliche Voraussetzung, und es könne nicht sein, dass «der Druck einfach auf Österreich abgeladen wird». Die markigen Töne waren auch dem Wahlkampf geschuldet, aber angesichts der innenpolitischen Lage mit einer starken FPÖ ist anzunehmen, dass die gegenwärtige Regierung ähnlich reagieren würde.

In der Schweiz halten sich die Behörden bislang mit Äusserungen zurück. «Wir erwarten, dass deutsche Massnahmen an den Grenzen in Abstimmung mit der Schweiz und unter Einhaltung des geltenden Rechts erfolgen», erklärt das Staatssekretariat für Migration (SEM) auf Anfrage.

Dabei besteht kein Zweifel, dass das SEM darunter mehr als eine einseitige Information durch die Bundesregierung versteht: Die Schweiz sei überzeugt, dass die Antwort auf die Herausforderungen im Schengenraum gemeinsam erfolgen müsse, erklärt ein Sprecher.

Längst hat die deutsche Grenzdebatte auch auf die Schweiz übergegriffen. Im März stimmte das Parlament einem Antrag zu, wonach die Landesregierung «unter Berücksichtigung der Massnahmen der Nachbarstaaten» Vorschläge für verstärkte Grenzkontrollen unterbreiten muss.

Nachdem Deutschland im Oktober 2023 die Wiederaufnahme von Grenzkontrollen beschlossen hatte, wuchs der politische Druck sukzessive. Es sei nicht akzeptabel, wenn Personen, die von Deutschland abgewiesen worden seien, in der Schweiz landeten, kritisieren Politiker vor allem aus dem bürgerlichen Lager.

Im Unterschied zu Deutschland hat die Schweiz mit ihren Grenzkontrollen allerdings nie ganz aufgehört. Dies, weil das Land nicht der EU angehört und das Schengener Assoziierungsabkommen keinen Einfluss auf die Tätigkeit des Zolls hat. In diesem Rahmen werden auch weiterhin ausländerrechtliche Wegweisungsverfügungen ausgestellt.

Das erklärt auch, weshalb sich das Land bisher mit zusätzlichen Massnahmen an der Grenze zurückhielt. Würde Deutschland aber seine Praxis weiter verschärfen und künftig auch Personen zurückweisen, die in Deutschland ein Asylgesuch stellen wollten, geriete die Schweiz vor allem innenpolitisch erneut unter Zugzwang.

Mit viel Wohlwollen bei der Schweizer Regierung dürfte das deutsche Innenministerium in diesem Fall nicht rechnen. Zurückweisungen an der Grenze durch die deutschen Behörden könnten zudem mittelbar das gesamte Dublin-System infrage stellen – ein System, von dem die Schweiz dank ihren vergleichsweise effizienten Verfahren profitiert: Pro Asylbewerber, den die Schweiz aufgrund der Dublin-Regeln übernehmen muss, kann sie heute drei Personen fristgerecht ins Ausland überstellen.

Die Regierung setzt deshalb ganz darauf, dass das Schengen-Dublin-Abkommen nach dem Inkrafttreten des EU-Migrationspaktes wieder besser funktioniert. Kürzlich hat sie beschlossen, sich auch als Nicht-EU-Mitglied am Solidaritätsmechanismus zu beteiligen, um das europäische Migrations- und Asylsystem nachhaltig zu stärken.

Frankreich dürfte auf deutsche Zurückweisungen an der gemeinsamen Grenze skeptisch, aber nicht grundsätzlich ablehnend reagieren. Bei zwei Treffen mit Merz – eines im Élyséepalast, eines in Berlin – hatte der französische Präsident Emmanuel Macron im Februar und März Verständnis für Deutschlands geplante «Migrationswende» signalisiert.

Klar aber ist, dass Paris auf einem koordinierten Vorgehen besteht. Ein deutscher Alleingang in der Asylpolitik würde kritisch gesehen. Wichtig für die französische Regierung ist, dass Grenzkontrollen die enge grenzüberschreitende Zusammenarbeit – etwa den Pendlerverkehr oder den öffentlichen Nahverkehr wie die Strassburger Strassenbahn nach Kehl – nicht beeinträchtigen.

Tatsächlich geht Frankreich bei den Zurückweisungen an seinen Grenzen selber nicht zimperlich vor. Besonders an seiner 480 Kilometer langen Grenze zu Italien verhindert es regelmässig die Einreise von irregulär ankommenden Migranten. Begründet wurde dies zunächst mit Sicherheitsbedenken, später wurde es als Reaktion auf die Praxis Italiens bezeichnet, die über das Mittelmeer einreisenden Migranten einfach durchzuwinken.

Seit einiger Zeit können Personen ohne gültige Einreisepapiere an der französisch-italienischen Grenze sogar vorübergehend in speziellen Rückführungszentren festgehalten werden. Die Zahl der Polizisten und Grenzbeamten wurde verstärkt, und es kommen Drohnen im Grenzgebiet zum Einsatz.

Der Europäische Gerichtshof hatte das Vorgehen 2023 für rechtswidrig erklärt. Die französische Regierung beruft sich jedoch auf einen Artikel im Schengener Grenzkodex, der es erlaubt, bei ernsthaften Gefahren für die öffentliche Ordnung oder die innere Sicherheit vorübergehend Grenzkontrollen wiedereinzuführen.

Seit den Terroranschlägen von 2015 macht Paris im halbjährlichen Rhythmus von der Ausnahmeregel Gebrauch und verweist dabei auf islamistische Bedrohungen oder die organisierte Schlepperkriminalität. An den übrigen Landesgrenzen, etwa zu Belgien oder Deutschland, führt Frankreich zwar seit dem 1. November 2024 temporäre Kontrollen durch – analog zum deutschen Modell –, weist dort aber keine Asylbewerber ab.

Migration ist in Frankreich kaum ein weniger heisses Eisen als in Deutschland. Vor allem die rechte Oppositionsführerin Marine Le Pen nutzt das Thema, um politischen Druck auf die Minderheitsregierung von Premierminister François Bayrou auszuüben.

Der konservative Innenminister Bruno Retailleau kündigte unlängst ebenfalls eine Art Migrationswende an, um die Zahl illegaler Einreisen zu senken. Retailleau stellte auch infrage, dass bestehende EU-Vorgaben der französischen Souveränität gerecht werden, und er forderte mehr nationale Spielräume bei Rückführungen und Grenzkontrollen – während das Aussenministerium auf enge europäische Koordinierung setzt. Für Deutschland könnte das eine Abstimmung mit Frankreich erschweren, wenn unklar ist, welche Linie sich in Paris durchsetzt.

Wenig Kritik hat die künftige deutsche Regierung aus Warschau zu erwarten. In den mittel- und osteuropäischen Ländern ist die Skepsis gegenüber Zuwanderung generell hoch, und Polen lehnt wie Ungarn auch den neuen Asyl- und Migrationspakt ab, auf den sich die EU-Mitgliedstaaten im vergangenen Jahr geeinigt haben.

In den beiden Ländern wird befürchtet, dass man über den darin verankerten Solidaritätsmechanismus gezwungen sein wird, gegen den eigenen Willen Migranten aufzunehmen. Ministerpräsident Donald Tusk bekräftigte im Februar, man werde sich über entsprechende Rechtsvorschriften hinwegsetzen. Er begründete das mit der grossen Zahl von ukrainischen Flüchtlingen in Polen, die das Land in eine besondere Lage versetze.

Warschau ging kürzlich noch einen Schritt weiter und setzte das Recht, Asyl zu beantragen, für aus Weissrussland ins Land kommende Personen gänzlich aus. Die Regelung gilt vorerst für 60 Tage und liefert die Grundlage für eine Praxis, die Polen schon seit geraumer Zeit anwendet.

Berichte über gewaltsame Zurückweisungen an der Grenze zu Weissrussland haben immer wieder für Schlagzeilen und Kritik gesorgt. Die polnischen Behörden bestätigen, zwischen 2021 und Ende 2024 rund 9000 Personen an der Grenze zurückgewiesen zu haben.

Brüssel äusserte sich zu dieser völkerrechtswidrigen Praxis kaum. Die EU-Kommission schien sie Ende letzten Jahres vielmehr zu legitimieren. Sie äusserte sich in einer Stellungnahme mit Polen solidarisch, weil Russland und Weissrussland das Asylrecht als Waffe im hybriden Krieg missbrauchten, indem sie Migranten über die Grenze schleusten.

In einem solchen Fall könne sich ein Mitgliedstaat auf die Notstandsklausel der EU-Verträge berufen, schreibt die Kommission. Während laut der Grenzschutzagentur Frontex die Zahl der irregulären Einreisen in die EU 2024 insgesamt um mehr als ein Drittel zurückging, verdreifachte sie sich an der Grenze zwischen Polen und Weissrussland.

Wenn sich nun mit Deutschland auch das mächtigste EU-Land auf die Notstandsklausel berufen sollte, um an der Grenze Migranten abzuweisen, könnte das Warschau nur recht sein. Es würde die eigene umstrittene Politik legitimieren und die Ausnahme wohl mittelfristig zur Regel machen.

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