Freitag, Oktober 18

Man habe in Deutschland und in der EU die Grundprinzipien einer marktwirtschaftlichen Ordnung Stück für Stück demontiert, sagt der in Leipzig lehrende Ökonom Gunther Schnabl. Und er legt Vorschläge für eine Umkehr vor.

Ein altes CDU-Plakat ziert das Leipziger Büro von Gunther Schnabl. Unter dem Konterfei von Ludwig Erhard, der ab 1949 als erster Wirtschaftsminister der Bundesrepublik das «Wirtschaftswunder» prägte, steht der Slogan und Buchtitel «Wohlstand für Alle». Auch Schnabl hat soeben ein Buch publiziert – und es beginnt und schliesst mit Bezügen auf Erhard.

Unter dem Titel «Deutschlands fette Jahre sind vorbei» will der 1966 geborene deutsche Ökonom seine ordnungspolitisch-marktwirtschaftliche Sicht einem breiteren Publikum näherbringen. Schnabl hat an den Universitäten Tübingen, Stanford und Tokio promoviert und habilitiert. Seit 2006 ist er Professor für Wirtschaftspolitik und internationale Wirtschaftsbeziehungen an der Universität Leipzig im ostdeutschen Bundesland Sachsen, wo er das Institut für Wirtschaftspolitik leitet.

Herr Schnabl, die deutsche Wirtschaft stagniert, dazu passt der Titel Ihres Buches. Woher kommt diese Schwäche?

Im ersten Kapitel meines Buches erkläre ich, wo der Wohlstand in Deutschland herkommt. Eine marktwirtschaftliche Ordnung basiert nach Walter Eucken auf sieben Pfeilern: stabile Währung, funktionsfähiges Preissystem, Wettbewerb durch offene Märkte, Privateigentum, Vertragsfreiheit, Haftungsprinzip und Konstanz der Wirtschaftspolitik. Da diese Pfeiler Stück für Stück demontiert wurden, sind Wachstum und Wohlstand unter Druck gekommen. Unter den Regierungen Merkel galt noch die Devise, dass es uns noch nie so gut gegangen sei. Das hat damals schon nicht gestimmt, aber jetzt ist sie nicht mehr zu halten.

Wie lautet Ihre Ursachenanalyse?

Im Zuge der Euro-Rettungs-Politik ab 2008 gab es einen Dreiklang von expansiver Geldpolitik, expansiver Finanzpolitik und expansiver Regulierungspolitik. Wenn wir zurück zu einer marktwirtschaftlichen Ordnung wollen, brauchen wir einen Richtungswechsel: eine anhaltend restriktive Geldpolitik, eine Konsolidierung der staatlichen Ausgaben und eine umfassende Deregulierung.

Fangen wir bei der Geldpolitik an.

Das Rückgrat einer Marktwirtschaft ist eine stabile Währung, was der Euro nicht mehr ist. Um ihn zusammenzuhalten, braucht es eine anhaltend lockere Geldpolitik. Dies hat Inflation zur Folge, die sich nicht immer im Verbraucherpreisindex abzeichnete, aber schon früh nach Einführung des Euro versteckt vorhanden war. Auch steigende Immobilien- und Aktienpreise sind eine Form der Inflation. Eine instabile Währung hat negative Auswirkungen auf andere Pfeiler der Marktwirtschaft. Wenn die Europäische Zentralbank (EZB) Staatsanleihen kauft, setzt sie die Euro-Staaten in die Lage, instabile Finanzinstitute, ineffiziente Unternehmen und überschuldete Länder zu retten. Das unterwandert das Haftungsprinzip und den Wettbewerb.

Inzwischen hat die EZB die Zinsen stark erhöht. Reicht Ihnen das nicht?

Ein kompletter Ausstieg aus der expansiven Geldpolitik würde nicht nur Leitzinserhöhungen erfordern, sondern auch den Ausstieg aus den unkonventionellen Instrumenten der EZB. Letzteres ist nur teilweise passiert. Bei den zentralen Ankaufprogrammen für Wertpapiere von Staaten und Unternehmen ist praktisch nichts geschehen. Nun hat die EZB angekündigt, auf Dauer Anleihen in ihrer Bilanz halten zu wollen.

Sie orten auch negative Verteilungseffekte. Wie kommt es dazu?

Von der expansiven Geldpolitik haben Immobilien- und Aktienbesitzer profitiert. Die Mittelschicht hingegen lässt ihre Ersparnisse in Deutschland traditionell auf der Bank. Wenn die EZB die Zinsen auf null drückt und die Inflation steigt, werden die Bankeinlagen entwertet. Die anhaltende Niedrigzinspolitik hat zudem unsere Wirtschaft träge gemacht, so dass wir kein Wachstum mehr haben. Dann können die Löhne nicht mehr steigen, da Produktivitätsgewinne die Voraussetzung dafür sind.

Und wo liegt der Zusammenhang zwischen Geldpolitik und Regulierung?

Regulierung erzeugt grosse Kosten bei Banken und Unternehmen. Solange die Geldpolitik die Zinsen und damit die Finanzierungskosten stark gedrückt hat, hat sie einen Ausgleich geschaffen. Die Regulierung war für die Unternehmen und die Konsumenten auf den ersten Blick schmerzfrei. Seit die Zinsen gestiegen sind, müssen die Unternehmen die Kosten an die Konsumenten durchreichen. Das führt zu höheren Preisen. Deswegen werden Regulierung und Bürokratie jetzt stärker infrage gestellt. Ambitionierte Projekte wie die EU-Taxonomie und die Lieferketten-Gesetze sollten über Bord geworfen werden. Sie sind teuer und werfen zu viel Sand ins Getriebe.

Geldpolitik, Taxonomie, Lieferkettengesetz: Vieles wird auf europäischer Ebene bestimmt.

In der Tat sind die nationalen Freiheitsgrade in allen drei Politikfeldern – Geld-, Finanz- und Regulierungspolitik – gering. Selbst bei der Finanzpolitik: Wenn Deutschland die Staatsausgaben konsolidiert, müsste die Geldpolitik restriktiv sein, damit nicht zu viel Kapital abfliesst. Die EZB hat aber alle Euro-Staaten im Blick. Die Finanzpolitik im Euro-Raum müsste koordiniert sein, was man wohl nie erreichen wird.

Müsste Deutschland aus der EU austreten? Oder aus der Währungsunion?

Die Währungsunion hat einen Konstruktionsfehler. Sie kann nur funktionieren, wenn sie in eine politische Union und eine Fiskalunion eingebettet ist. Zudem sind die Mitgliedsländer zu heterogen. Da kommt man nicht vor und nicht zurück. Hingegen ist der Binnenmarkt eine grosse Errungenschaft in Europa, da der freie Verkehr von Gütern, Dienstleistungen, Arbeit und Kapital Wachstum und Wohlstand fördert. Ein zentralisierter EU-Superstaat mit einer gemeinsamen Geld- und Finanzpolitik führt hingegen in die falsche Richtung.

Ein Ausstieg aus dem Euro dürfte zu riesigen Verwerfungen führen.

Die beste Lösung wäre immer noch eine stabilitätsorientierte Geldpolitik der EZB. Inzwischen gilt aber leider: ein Ende mit Schrecken oder ein Schrecken ohne Ende. Sie verweisen zu Recht auf mögliche Verwerfungen. Um diese zu mindern, denke ich im Buch über eine Parallelwährung nach.

Sie warnen auch vor politischen Folgen der expansiven Geldpolitik.

Ihre negativen Wachstums- und Verteilungseffekte ziehen eine politische Polarisierung nach sich, die in den meisten EU-Ländern schon sehr deutlich ist. Wachsende Teile der Mittelschicht fühlen sich nicht mehr mitgenommen und driften an die politischen Ränder ab. Das ist ungesund!

Ostdeutschland sei von der Krise besonders stark betroffen, schreiben Sie. Warum?

Ostdeutschland hatte aufgrund des planwirtschaftlichen Erbes schlechtere Startbedingungen. Als ab 2008 dank der EZB viel staatliches Geld geflossen ist, hat man den Osten vergessen. Man hat die Berliner Bürokratie ausgebaut und die grossen Industrieunternehmen subventioniert, die alle den Hauptsitz im Westen haben. Seit 2010 ist die Beschäftigung in Berlin und in Westdeutschland immens gestiegen, in Ostdeutschland hingegen kaum. Zudem sind die Menschen hier sehr sensibel bezüglich planwirtschaftlicher Strukturen, die jetzt zurückkommen. Auch der Eindruck, dass man nicht mehr frei seine Meinung äussern könne, scheint in Ostdeutschland stark.

Erklärt das auch die hohen Umfragewerte der AfD in Sachsen?

In den 1990er Jahren war Sachsen das Land von «König Kurt» (dem damaligen Landes-Ministerpräsidenten Biedenkopf). Die Menschen haben zu über fünfzig Prozent CDU gewählt, Sachsen war und ist konservativ.

Sind Sie besorgt über diese Entwicklung?

Ja, ich betrachte die Entwicklung auch mit einer wirtschaftshistorischen Brille. Das deutsche Wirtschaftswunder hiess: Alle haben eine Chance. Meine Familie ist damals aus Böhmen gekommen und hatte nichts ausser vierzig Kilo Gepäck pro Person. Sie haben angepackt, konnten Vermögen bilden und in die Mittelschicht aufsteigen. Heute sind die Aufstiegschancen für junge Menschen äusserst gering.

Was meinen Sie mit der Rückkehr planwirtschaftlicher Strukturen?

Eine dauerhaft expansive Geldpolitik ist Planwirtschaft in dem Sinne, dass sie unproduktive Strukturen zementiert. Die Betriebe in der DDR waren unprofitabel, durften aber nicht restrukturiert werden, weil keine Arbeitslosigkeit entstehen durfte. Also haben sie von den staatlichen Banken Kredite bekommen, ohne dass auf Wirtschaftlichkeit geachtet wurde. Auch im Euro-Raum hat man ab 2008 Arbeitsplatzsicherung über die Geldpolitik betrieben. Durch die zusätzlichen Ausgabenspielräume, die die EZB den Euro-Staaten geschaffen hat, wurden in Deutschland viele zusätzliche Beschäftigungsverhältnisse im öffentlichen Sektor und in regulierungsnahen Sektoren geschaffen. Das ist der wesentliche Grund, warum jetzt der Arbeitsmarkt leergefegt ist.

Den fegt doch die demografische Entwicklung leer.

Natürlich spielt die Demografie eine Rolle, aber der Hauptfaktor ist die expansive Geld- und Finanzpolitik. Deutschland hat zwar geringe Geburtenraten, aber auch eine starke Zuwanderung. Laut Bundeskanzler Scholz wird Deutschland bald 90 Millionen statt 85 Millionen Einwohner haben. Die meisten Zuwanderer sind jung. Das Problem ist, dass viele nicht oder erst sehr spät im Arbeitsmarkt ankommen. Das könnte an falschen Anreizen liegen.

Beim Klimaschutz lautet Ihre These: Klimapolitik macht man mit dem CO2-Preis und nur mit dem CO2-Preis.

Ja, und nicht allein.

Müsste der CO2-Preis nicht enorm steigen, um das Ziel zu erreichen?

Deshalb würde ich den Anstieg der CO2-Steuer durch eine Senkung der Mehrwertsteuer kompensieren. Ich halte das für besser als das Klimageld, das politische Begehrlichkeiten weckt und zusätzliche Bürokratie erfordern würde. Auch die Verteilungswirkungen wären positiv, weil die Mehrwertsteuer besonders Menschen mit geringeren Einkommen trifft, die einen hohen Anteil ihrer Einkünfte für Konsum aufwenden.

«Nicht allein» heisst für Sie: Alle grossen Industriestaaten müssten mitziehen. Das ist wenig realistisch.

Ja, auch China und Indien müssten folgen. Ein Alleingang bringt dem Klima nichts. Wenn das so ist, kann man auch vorsichtiger agieren. Man kann sich über eine kontinuierliche Erhöhung der CO2-Steuer und eine kontinuierliche Senkung der Mehrwertsteuer herantasten.

Subventionen an Unternehmen für diese Transformation lehnen Sie ab. Besteht nicht das Risiko der Abwanderung?

Ja, der Abwanderung CO2-intensiver Industrien. Wenn jedoch eine Fokussierung der Klimapolitik auf den CO2-Preis die marktwirtschaftliche Ordnung aufrechterhält, stärkt das die Wirtschaftskraft und damit auch die Nachfrage in anderen Sektoren. Das ist Strukturwandel, der immer kontinuierlich sein muss und vor allem marktgetrieben. Die Politiker dürfen nicht täglich wegen unausgereifter Ideen das Ruder herumwerfen. Die Unternehmen fordern derzeit aggressiv Subventionen, weil die versteckte Subvention durch niedrige Zinsen nicht mehr gegeben ist. Subventionen haben in der Regel Verteilungswirkungen zugunsten der grossen, politisch einflussreichen Unternehmen. Mir scheint, dass oft ein grüner Anstrich dies verdecken soll. Davon rate ich dringend ab.

Und wenn die Subventionen ausbleiben?

Dann müssen die Unternehmen effizienter werden und Druck ausüben, dass dereguliert wird. Im Zuge der Bauernproteste hat Finanzminister Christian Lindner gesagt, er nehme die Subventionskürzung beim Agrardiesel nicht zurück, wolle dafür aber Regulierungen in der Landwirtschaft reduzieren. Das ist der richtige Weg.

Ihr Buch schliesst mit dem Ruf nach einem «neuen Erhard». Sehen Sie eine Kraft oder eine Person, der man das zutrauen könnte?

Es war mir wichtig, in dem Buch Lösungswege aufzuzeigen. Was geschehen müsste, ist klar. Derzeit gibt es aber noch keine politische Kraft, die die notwendigen Reformen entschlossen umsetzen will. Die FDP hat sich in den zwei Jahren der Regierungsbeteiligung deutlich in Richtung Marktwirtschaft bewegt. Aber sie wird als liberale Partei nie die Mehrheit bekommen. Also liegt der Ball im Feld der CDU. Sie ist als Partei der Mitte anschlussfähig und müsste sich stärker auf Ludwig Erhard zurückbesinnen. Friedrich Merz (der Parteivorsitzende) versteht das Problem. Carsten Linnemann (Generalsekretär) kommuniziert es immer wieder. Er müsste noch lauter werden.

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