Samstag, September 28

Das «Geschäftsmodell» der deutschen Industrie ist in Teilen obsolet geworden. Ein beschleunigter Strukturwandel erschüttert einstige industrielle Ikonen. Das spüren auch ihre Schweizer Zulieferer.

Als perfekter Sturm gilt in der Meteorologie ein (seltenes) Wetterphänomen, das durch das zeitliche Zusammentreffen mehrerer ungünstiger Faktoren ausgelöst wird. In einen solchen Sturm ist die deutsche Industrie geraten. Das zeigt sich anekdotisch daran, dass bei industriellen Ikonen wie Volkswagen, der Stahlsparte von ThyssenKrupp oder am Ludwigshafener Stammsitz des Chemiekonzerns BASF Personalabbau und die Schliessung einzelner Anlagen oder gar ganzer Fabriken ein Thema sind.

Das billige Gas ist weg

Und es zeigt sich in der Statistik: Seit ungefähr Mitte 2018 sinkt die Industrieproduktion in der Tendenz. Im Juli lag sie laut dem Statistischen Bundesamt preis-, kalender- und saisonbereinigt fast 10 Prozent unter dem Wert von Anfang 2015.

Woran liegt das? Mehrere Säulen des bisherigen deutschen Industrieerfolgs seien gleichzeitig ins Wanken geraten, fasste unlängst eine im Auftrag des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI) erstellte Studie zusammen. So hat, erstens, der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine die günstigen Erdgasimporte aus Russland zum Erliegen gebracht, von denen sich das Land zuvor abhängig gemacht hatte. Zwar erfolgte ab 2022 eine rasche Umstellung auf andere Lieferanten und Energiequellen, aber zu viel höheren Preisen.

Das bekamen vor allem energieintensive Branchen wie die Chemie- und die Stahlindustrie zu spüren, die in Deutschland noch immer relativ stark vertreten sind. Ihre Produktion sackte zusammen und hat sich erst in jüngster Zeit mit den nachlassenden Energiepreisen etwas erholt. Doch die verkorkste Art der deutschen Energiewende dürfte dazu beitragen, dass Energie auf absehbare Zeit teuer bleiben wird. Derzeit bezahlten Produzenten energieintensiver Grundstoffe wie Aluminium und Stahl bis zu 15 Prozent mehr für Energie als ihre Konkurrenten in den USA oder China, hält das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft (IW) fest.

Technologiewandel bedroht Schlüsselbranchen

Zweitens bedroht der technologische Wandel laut beiden Studien Schlüsselbranchen wie die Automobilindustrie. Ihr über Jahrzehnte erarbeiteter Vorsprung in Bereichen wie der Verbrennertechnologie verliert an Bedeutung, die Weltmärkte dafür schrumpfen. Gerade die Autohersteller und ihre Zulieferer, der bedeutendste Industriezweig Deutschlands, haben sich zu lange auf ihren Erfolgen ausgeruht. Heute hinkt die Branche bei der E-Mobilität und dem digitalisierten Auto hinter Konkurrenten wie dem US-Konzern Tesla oder Chinas BYD her.

Ein dritter Aspekt ist die für eine Volkswirtschaft dieser Grösse überdurchschnittlich hohe Auslandsabhängigkeit. 2023 entsprachen die deutschen Exporte und Importe von Waren und Dienstleistungen laut Weltbank zusammen 90 Prozent der Wirtschaftsleistung, während es in Italien und Frankreich unter 70 Prozent waren.

Galt dies lange als Stärke, wird es in Zeiten geopolitischer Umbrüche zur Herausforderung: China schwächelt als Absatzmarkt, wird aber zugleich als Produzent auch hochwertiger Güter wichtiger. Autos, Chemikalien und Maschinen für China werden zunehmend vor Ort hergestellt statt aus Deutschland importiert. Zudem erschweren protektionistische Tendenzen weltweit das Exportgeschäft.

Aufgestaute Standortschwächen

Verschärft werden diese Verwerfungen, viertens, durch allgemeine Standortschwächen: In Umfragen nehmen Bürokratie und langwierige Genehmigungsverfahren sowie der durch die Alterung der Gesellschaft forcierte Arbeitskräftemangel stets vorderste Plätze ein. Hinzu kommen hohe Löhne und Steuern, die nicht mehr ausreichend durch herkömmliche Stärken wie hohe Produktivität, Innovationskraft und stabile Rahmenbedingungen kompensiert werden. Die meisten dieser Schwächen haben sich lange vor Amtsantritt der Ampelregierung aufgebaut. Doch diese hat die Lage mit ihrem unklaren, interventionistischen Kurs und ständigem Streit verschlimmert.

All dies trifft Deutschland besonders stark, weil es ähnlich wie die Schweiz gemessen am Anteil des verarbeitenden Gewerbes an der gesamten Bruttowertschöpfung industrielastiger ist als Staaten wie Frankreich oder Grossbritannien. Auch sind die Industriebetriebe durch Lieferbeziehungen eng miteinander verflochten, so dass Friktionen in der Grundstoff- oder der Automobilindustrie in andere Bereiche ausstrahlen.

Vor diesem Hintergrund ist die akute Schwäche nicht nur konjunkturell bedingt, sondern auch Ausdruck eines beschleunigten Strukturwandels. Verstärkt wird dieser durch die politische Vorgabe, bis 2045 Klimaneutralität zu erreichen. Pessimisten leiten aus alldem eine Deindustrialisierung ab, wie sie Frankreich oder Grossbritannien bereits hinter sich haben. Rund ein Fünftel der deutschen Industriewertschöpfung sei mittelfristig gefährdet, heisst es in der BDI-Studie.

Eine Prise Optimismus

Doch diese steuert auch eine optimistische Note bei: Deutschland habe in künftigen Wachstumsmärkten wie Klimatechnologie, industrieller Automatisierung und Gesundheit eine gute Ausgangslage, um neue Wertschöpfung aufzubauen. Es verfüge über kompetente Fachkräfte in Ingenieurberufen, Unternehmen mit hoher Technologiekompetenz, starke Innovationskraft und gute Forschungsinstitutionen.

Ein Blick auf die industrielle Wertschöpfung scheint diese Sicht zu unterstützen. Diese misst nicht die Produktion, sondern den nach Abzug der Vorleistungen durch das verarbeitende Gewerbe geschaffenen Mehrwert. Im Gegensatz zur Industrieproduktion ist die industrielle Wertschöpfung seit 2018 abgesehen von der Corona-Delle nur geringfügig gesunken. Die Diskrepanz zwischen den beiden Entwicklungen kann verschiedene Ursachen haben, doch zumindest die Analytiker der Deutschen Bank sehen darin einen Hinweis darauf, dass eine Verschiebung von volumenbasierten, energieintensiven zu hochtechnologischen, margenstarken Aktivitäten stattfinde.

Um es an Beispielen zu illustrieren: Mag die energieintensive Produktion von Massenprodukten wie Rohstahl oder Ammoniak in Deutschland längerfristig wenig Zukunft haben, kann es bei «grünem» Spezialstahl oder hochwertiger Spezialchemie anders aussehen. Wenn Stahl- und Chemiekonzerne oder Haushaltgerätehersteller wie Miele Produktionen ins Ausland verlagern, kann das sogar positiv sein – wenn es dazu beiträgt, das Überleben zu sichern und Wertschöpfung in Deutschland zu halten.

Schweizer Industrie ist anders zusammengesetzt

Was heisst all das für die Schweiz? Mit einem Anteil von 12 Prozent an den Warenexporten und von 18 Prozent an den Importen (2023) ist Deutschland laut Daten des Bundesamts für Statistik gemessen am Gesamtvolumen ihr wichtigster Handelspartner. Die Industrien der beiden Länder sind eng verflochten.

Anders als in Deutschland spielen in der Schweiz energieintensive Branchen hingegen nur noch eine geringfügige Rolle. Der hiesige Stahlsektor beispielsweise, der ohnehin nie gross war, ist auf lediglich zwei Produktionswerke geschrumpft. Auch aus der Fertigung von Chemikalien haben sich Unternehmen in der Schweiz stark zurückgezogen. Verblieben sind nur wenige Werke, die sich meist auf höherpreisige Spezialitäten wie Riechstoffe für Parfums konzentrieren.

Klumpenrisiko mit Pharmageschäften

Umso stärker haben sich Aktivitäten im Bereich der Pharmabranche entwickelt, die einst mit dem Chemiesektor eng verbunden war. Sie trägt mittlerweile mit fast 40 000 Beschäftigten knapp 40 Prozent zu den gesamten Warenausfuhren bei. Die Kehrseite ist, dass die Medikamentenhersteller, ähnlich wie die Autokonzerne in Deutschland, ein Klumpenrisiko für die ganze Volkswirtschaft bilden.

Industrieunternehmen mit engen Verbindungen zur Autobranche sind in der Schweiz ausschliesslich Zulieferer. Sie stellen einzelne Komponenten oder Halbfabrikate her. Auch gewisse Maschinenproduzenten gehören dazu. Unter ihnen spüre man selbstverständlich die Krise in Deutschland, sagt Martin Hirzel, der Präsident des Verbands Swissmem, der die Maschinenbau-, Elektro- und Metallindustrie (MEM-Sektor) vertritt.

Insgesamt steuert die MEM-Branche rund einen Viertel zu den Schweizer Warenausfuhren bei. Sie ist damit nach wie vor ein zentraler Akteur der hiesigen Industrie, auch wenn sie vom Pharmasektor mittlerweile deutlich übertroffen wird. Und Deutschland ist für sie unverändert der wichtigste Absatzmarkt.

Deutschland verliert für MEM-Sektor an Gewicht

Allerdings ist der Anteil der MEM-Exporte, die ins nördliche Nachbarland gehen, seit 2010 von 26,4 auf 23,5 Prozent gefallen. Im selben Zeitraum nahm das Gewicht der USA von 9,4 auf 14,5 Prozent und jenes Chinas von 6,2 auf 7,6 Prozent zu.

Bei Swissmem stellt man sich angesichts der vielschichtigen Herausforderungen der deutschen Industrie auf eine weitere Abschwächung bei Geschäften mit dem grössten Exportpartner ein. Nach Einschätzung des Verbandspräsidenten würde es «richtig schlimm» werden, wenn deutsche Autobauer weltweit immer mehr Marktanteile verlören. Noch herrscht in Schweizer Industriekreisen aber die Hoffnung vor, dass Konzerne wie Volkswagen, BMW und Mercedes-Benz die Wende schaffen und Automobilisten wieder für ihre Produkte begeistern können.

An der Autoindustrie hängen rund 30 000 Stellen im hiesigen MEM-Sektor. Das ist etwas weniger als ein Zehntel der 330 000 Arbeitsplätze, welche die Branche schweizweit zählt.

Ingenieure statt Produktionsarbeiter

Die Beschäftigung innerhalb der Schweizer Maschinenbau-, Elektro- und Metallindustrie hat sich in den vergangenen knapp zehn Jahren erstaunlich stabil entwickelt. Laut Martin Hirzel wurde der Abbau sogenannter Blue-Collar-Tätigkeiten im Produktionsbereich mehr als kompensiert durch die Schaffung zusätzlicher White-Collar-Jobs, beispielsweise im Engineering oder im Design von Maschinen.

Ein typisches Beispiel dafür, sagt der Swissmem-Präsident, sei der Schiffsmotorenanbieter Winterthur Gas & Diesel. Die Firma, die Teil des Industriekonzerns Sulzer war und sich heute in chinesischen Händen befindet, beschäftigt ihre Ingenieure weiterhin vornehmlich in der Schweiz. Auch bei Rieter arbeiten noch immer Dutzende von Ingenieuren, obschon am Winterthurer Stammsitz längst keine Textilmaschinen mehr hergestellt werden.

Zugleich haben viele Schweizer Industriefirmen trotz wiederholten Verlagerungen ins Ausland zumindest einen Teil der Produktion in der Heimat behalten. Der Spezialist für Automatisierungslösungen Mikron will sogar 30 Millionen Franken in die Erweiterung seines Produktionswerks am Stammsitz in Boudry investieren. Allerdings profitiert er von einem Boom, an dem wohl jede Industriefirma gerne partizipieren würde. Mikron zählt den Pharmakonzern Novo Nordisk zur Kundschaft. Dieser investiert gegenwärtig laut eigenen Angaben über 30 Milliarden Dollar in den Ausbau seiner Produktionsstandorte weltweit, um der riesigen Nachfrage nach seinen Abnehmspritzen gerecht zu werden.

Starker Franken zwingt zu Optimierungen

Wie Philippe Wirth, Finanzchef von Mikron, sagt, hat man sich konsequent auf Nischen im Bereich der Fertigungstechnik konzentriert, in denen Präzision sowie Geschwindigkeit gefragt sind. Dabei bediene man in erster Linie Unternehmen aus der Medizintechnik- und Pharmabranche. «Die Automobilindustrie spielt für uns anders als früher nur noch eine geringfügige Rolle.»

Das Rezept für die anhaltende Robustheit der Schweizer MEM-Branche sieht auch Hirzel in der starken Spezialisierung sowie der Erfüllung hoher Qualitätsanforderungen. Beides ermögliche Firmen, höhere Preise zu verlangen und damit auch mit der laufenden Erstarkung des Frankens fertigzuwerden. «Der starke Franken ist kurzfristig unser härtester Feind und langfristig unser grösster Freund», sagt der Verbandspräsident, der als ehemaliger Chef des Winterthurer Automobilzulieferers Autoneum selbst Wege zur Bewältigung der Frankenstärke finden musste.

In den Abgrund geblasen wird die Schweizer Wirtschaft durch die Schwierigkeiten des grossen Nachbarn nicht. Aber eine steife Brise weht ihr aus dem Norden schon ins Gesicht.

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