Freitag, Oktober 4

Im ersten Spiel nach der EM zeigt die Mannschaft, dass sie die Rücktritte von Routiniers gut verkraftet hat. Diese könnten Energie freisetzen.

Der deutsche Nationaltrainer Julian Nagelsmann hat ein Ziel, und er kennt auch den Weg dorthin: Wenn seine Mannschaft die nächsten 19 Spiele gewinne, dann zähle sie bei der Fussball-WM 2026 zu den Favoriten, sagte er am Samstagabend. Zwar würde Nagelsmann die Trophäe nicht in einem der grossen Tempel des Fussballkults entgegennehmen, wie einst Joachim Löw 2014 im Maracanã in Rio, sondern in einer Multifunktionsarena in New Jersey. Aber die Historie des Ortes dürfte für den deutschen Bundestrainer nachrangig sein, sofern das Ergebnis stimmt.

Was den 37-Jährigen, dem es gewiss nicht an Selbstbewusstsein mangelt, so zuversichtlich stimmt, war der erste Auftritt seiner Mannschaft nach der Europameisterschaft im eigenen Land. Der letzte ist vielen noch in bester Erinnerung geblieben, trotz einer 1:2-Niederlage gegen Spanien. Denn der Viertelfinal gegen den späteren Europameister war das beste Spiel des gesamten Wettbewerbs.

Auf den ersten Blick ein Klasseteam – das überrascht

Gegen Ungarn schlossen die Deutschen dort an, wo sie gegen Spanien aufgehört hatten: Das 5:0 in der Nations League beeindruckte. Die Deutschen zeigten in Düsseldorf eine Melange aus Spielfreude, Kombinationsfähigkeit, Improvisation und einer guten Abschlussquote. Auf den ersten Blick ein Klasseteam. Und auch auf den zweiten durchaus eindrucksvoll, was angesichts der Vorzeichen doch etwas überrascht – erst recht, wenn es den Deutschen gelingen sollte, dies am Dienstag gegen die Niederländer zu bestätigen.

Denn die Mannschaft durchläuft gerade eine Rundumerneuerung. Unmittelbar nach der Europameisterschaft hatte Thomas Müller seinen Rücktritt erklärt. Dass Toni Kroos nur für dieses eine Turnier zurückkehren würde, war schon vorher ausgemachte Sache. Captain Ilkay Gündogan gab ebenfalls seinen Rücktritt bekannt, genauso wie Manuel Neuer, das Torhüter-Denkmal. Alles prägende Figuren, nicht nur im deutschen Nationalteam, sondern auch international anerkannte Koryphäen. Es war also nicht abwegig, davon zu sprechen, dass für den deutschen Fussball eine Ära endet.

Der erste Schritt beim grossen Umbau wurde allerdings bravourös getan. Und vielleicht setzt die Serie von Rücktritten jene Energie frei, die diese recht junge Mannschaft zu erstaunlichen Leistungen beflügeln kann. Ganz ähnlich war es ja 2010, als Michael Ballack sich vor der WM in Südafrika verletzte. Die Art und Weise, wie die Deutschen in Südafrika aufspielten, legte den Verdacht nahe, dass die Präsenz des Routiniers die jungen Spieler gehemmt hatte.

Damals wie heute ging es also auch um Fragen der Hierarchie. Auf Ilkay Gündogan als Captain folgt der Bayer Joshua Kimmich. Natürlich ist der Einwand legitim: Eine Mannschaft, die von Kimmich angeführt wird, hat möglicherweise ein Problem mit der Hierarchie. Denn Kimmich übernimmt zwar sehr gerne Verantwortung, ächzt aber häufig unter dieser Last. Der 29-Jährige ist niemand, der ein solches Amt mit Lässigkeit ausfüllt. Vielmehr ist ihm die Bürde anzusehen. Dem Selbstverständnis nach ein Führungsspieler, zu Grossem berufen: Das ist die Attitüde von Joshua Kimmich.

Kimmich ist nun der Captain

Kimmich ist also nicht zu übersehen. Aber ein Charismatiker ist er dennoch nicht. Die Frage ist jedoch, ob dies unbedingt nötig ist. Ilkay Gündogan trat äusserst gediegen auf, Ansehen verschaffte ihm vor allem seine Leistung im Team von Pep Guardiola bei Manchester City.

Gündogans Vorgänger Manuel Neuer wirkte weniger wie ein Leader, sondern vielmehr wie ein Alterspräsident, der den Job aus Pflichtgefühl heraus erledigte. Ein gewisses Engagement war allenfalls zu erkennen, als es darum ging, die Captainbinde in Regenbogenfarben zu tragen. Ehrgeiz in dieser Rolle entwickelte letztmals Philipp Lahm, der 2010 durch eine kleine Revolte ins Amt kam.

Nun spielt Kimmich auf derselben Position, auf der Lahm einst seine glänzende Karriere in der Nationalmannschaft beendete: als Rechtsverteidiger. Kimmich sieht sich jedoch, wie ehedem Lahm, als ein Stratege im Mittelfeld; eine Position, die er als angemessen für seine Qualitäten erachtet. Bloss stellt sich heute wie damals das Problem, dass Kimmich auf der Verteidigerposition besser aufgehoben ist.

Auch Trainer Nagelsmann sieht dies inzwischen so. Der Umbau, den der Coach zu moderieren hat, ist alles andere als klein. Mit Gündogan und Kroos verabschiedeten sich zwei Mittelfeldspieler, die in den letzten Jahren zu den prägenden Figuren des europäischen Fussballs gehörten. Nagelsmanns neue Formation erscheint auf den ersten Blick abenteuerlich, auf den zweiten jedoch durchaus einleuchtend.

Pavlovic könnte eine grosse Zukunft haben

Der Dortmunder Pascal Gross oder der Leverkusener Robert Andrich haben zwar nicht das Renommee ihrer Vorgänger, aber sie sind durchaus in der Lage, das Mittelfeld abzusichern und gediegene Aufbauarbeit zu leisten. Allerdings zeigte der eingewechselte Bayer Aleksandar Pavlovic, dass er mit 20 Jahren der Spieler der kommenden Jahre auf dieser Position sein könnte.

Vor ihnen agieren dann die Offensivspezialisten: Jamal Musiala, Kai Havertz und Florian Wirtz. Eine Formation ohne klassischen Aussenstürmer, sondern mit drei extrem spielstarken Akteuren. Jeder von ihnen sucht selbst gern den Abschluss, kann aber auch den Mittelstürmer Niclas Füllkrug in Szene setzen. Sowohl Jamal Musiala als auch Florian Wirtz glänzen als Vorbereiter und Torschützen. Ein ähnlich starkes Duo haben gegenwärtig nur die Spanier mit ihren Flügelstürmern Lamine Yamal und Nico Williams zu bieten.

Solche Qualitäten ergeben allein zwar noch keinen WM-Favoriten. Aber Nagelsmann ist in weniger als einem Jahr etwas Bemerkenswertes gelungen: Sein Team vermag auf spielerische Art zu begeistern.

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