Im Viertelfinal trifft Deutschland am Freitag auf Spanien. Gegen die Iberer haben die deutschen Fussballer seit 36 Jahren kein Pflichtspiel gewonnen.

Grosser Fussball findet nicht im Vakuum statt. Mannschaften haben ihre Geschichte und mit ihr die Duelle, die sie austrugen. Die Deutschen hatten einmal während Jahrzehnten einen geradezu furchterregenden Ruf. Sie galten als die «Turniermannschaft» schlechthin, bis sie dieses Renommee in den vergangenen Jahren so gründlich ramponierten, dass von ihrem Nimbus nicht mehr viel übriggeblieben ist.

«Turniermannschaft» bedeutete vor allem, zu einem Steigerungslauf fähig zu sein, zu wissen, wann genau es ernst gilt. Für gewöhnlich lief ein Turnier der deutschen Fussballer so: Sie kamen langsam in Tritt, leisteten sich einen Aussetzer, qualifizierten sich am Ende doch noch einigermassen souverän für die K.-o.-Runde. Sie kamen mit Höhen und Tiefen durch das Turnier, bis sie es entweder gewannen oder auf Italien trafen.

Italien war nämlich der sogenannte Angstgegner der Deutschen. Über Jahrzehnte konnte man mit einigem Recht von einem Komplex sprechen. Hat sich eine solche Serie von Niederlagen erst einmal verfestigt, ist es schwer, sie zu durchbrechen. 2012 an der EM waren die Deutschen favorisiert, doch der Nationaltrainer Joachim Löw verfiel im Halbfinal auf die destruktive Idee, die Kreativkraft von Toni Kroos zu verplempern und diesen zur Bewachung des italienischen Spielgestalters Andrea Pirlo abzustellen.

Bloss hat die Squadra Azzurra mittlerweile ihren Schrecken verloren; es waren die Deutschen, die sie im EM-Viertelfinal 2016 im Elfmeterschiessen bezwangen. Zwar ist der Angstgegner von damals im Feld von den Deutschen nach wie vor unbesiegt, doch würde die beiden Nationen das Los erneut zusammenführen, würde dies nicht für schlaflose Nächte im DFB-Team sorgen.

Der letzte Pflichtspielsieg liegt 36 Jahre zurück

Angstgegner sind Gestaltwandler. In die Rolle, die einstmals die Italiener innehatten, sind nun die Spanier geschlüpft, und auf sie treffen die Deutschen im Viertelfinal der EM am Freitagabend in Stuttgart. Wer in die Statistik blickt, der wird erstaunt feststellen, dass der letzte Sieg einer deutschen Auswahl gegen die Iberer in einem Pflichtspiel 36 Jahre zurückliegt. 1988 war das, im letzten und entscheidenden Gruppenspiel der EM in Deutschland. Der zuvor arg gescholtene Rudi Völler traf zweimal – einmal, nachdem ihm Lothar Matthäus den Ball nach einem Solo mit der Ferse serviert hatte.

Einen Spanien-Komplex gab es lange Zeit aber trotzdem nicht. Die Spanier hatten nicht den gleichen Ruf wie die Italiener. In Duelle gegen die Iberer gingen die Deutschen meist zuversichtlich, was vor allem damit zu tun hatte, dass die spanische Nationalmannschaft, ganz im Gegensatz zu den Klubteams, international weder Angst noch Schrecken verbreitete. Der Triumph an der EM 1964 beim damals noch schlecht besetzten Turnier war der einzige, bis sich die Spanier anschickten, das Spiel zu revolutionieren.

Der Stil, der Tiki-Taka genannt wurde, perfektioniert vom Nationalteam und vom FC Barcelona, fand auch in Deutschland Anklang – erst recht, nachdem die Deutschen im Final der EM 2008 schmerzliche Erfahrungen mit dem Kurzpassspiel der Mannschaft von Trainer Luis Aragonés gemacht hatten. Spanien hatte den Deutschen zuvor den Gefallen getan, Italien aus dem Turnier zu werfen, zudem wurden im Halbfinal die scheinbar turbobefeuerten Russen regelrecht demontiert.

Trotzdem galten die körperlich robusten Deutschen, in deren Reihen so feine Fussballer wie Michael Ballack, Philipp Lahm und Miroslav Klose standen, nicht als Aussenseiter. Und so traten sie zunächst auch nicht auf: Zwanzig Minuten lang beherrschten sie das Spielgeschehen, ehe die Spanier ihren Rhythmus fanden. Das 1:0 durch Fernando Torres gab nicht im Ansatz die Dominanz des Gegners wieder, der in dieser Nacht eines abschüttelte: den Komplex, als Nationalmannschaft nichts gewinnen zu können.

Van Gaal prägte das Spiel der Deutschen massgeblich

Der Triumph der Spanier war damals mehr als nur ein Turniersieg. Die Überlegenheit des neuen Klassenprimus gründete auf einem ästhetisch äusserst ansehnlichen Spielsystem, das Nachahmer fand. Vor allem in Deutschland, wo der Bundestrainer Joachim Löw sich bald daran machte, die spanische Spielidee zu adaptieren. Es war eine günstige Zeit, um dieses Unterfangen zu wagen. Ab 2009 trainierte Louis van Gaal den FC Bayern; er war einer der massgeblichen Protagonisten der niederländischen Fussballschule, die dem FC Barcelona einst als Vorbild gedient hatte.

Beinahe jeder Spieler, der in den folgenden Jahren prägend wurde im deutschen Fussball, wurde in diesen Jahren von van Gaal gefördert – nur Toni Kroos nicht, der mit dem Altmeister aus den Niederlanden nicht zurechtkam. Kopieren liess sich die Idee freilich nicht, die Klein-Klein-Virtuosen blieben stets als das Original erkennbar.

2010 hatten sich die Dinge verschoben. Deutschland spielte bis zum Halbfinal den besten Fussball der Weltmeisterschaft in Südafrika, der niederländisch-spanische Einfluss, den Louis van Gaal via den FC Bayern ausübte, zeitigte Wirkung. Deutschland war vor allem der Favorit der Fussball-Ästheten, die zuvor den Spaniern gehuldigt hatten. Der europäische Champion mühte sich durch das Turnier und kam zu knappen Siegen, die nur noch entfernt an die glanzvollen Auftritte an der EM 2008 erinnerten.

Als Spanien und Deutschland im Halbfinal aufeinandertrafen, hatten die Deutschen allerdings eine andere Idee: Sie verwarfen ihr Konzept und spielten nicht mehr so aggressiv wie zuvor beim 4:1 gegen England und beim 4:0 gegen Argentinien. Sie verlegten sich darauf, die Entfaltung des Favoriten zu stören, ihm die übliche Dominanz zu verweigern. Ein, vielleicht zwei Konter – das hätte schon reichen können für einen Sieg, doch es waren die Spanier, die spät durch einen wuchtigen Kopfball von Carles Puyol in Führung gingen. Als der Treffer fiel, gaben die Deutschen ein sonderbares Bild ab. Sie wirkten, als glaubten sie selbst nicht daran, dem Spiel noch eine Wende geben zu können.

Für den Augenblick waren die Verhältnisse geklärt, doch das deutsche Team, das in Südafrika begeisterte, stand erst am Anfang. 2012 verhinderte das Halbfinal-Aus gegen Italien ein Aufeinandertreffen mit dem Titelverteidiger Spanien. Ob die Deutschen den Spaniern tatsächlich gewachsen gewesen wären, ist fraglich, wenn man die imponierende Art und Weise betrachtet, in der Spanien beim 4:0 im Final die Italiener beherrschte. Die Deutschen mussten sich in diesen Jahren also damit abfinden, nur das zweitbeste Team gewesen zu sein, eine Mannschaft mit enormen Qualitäten – fähig, Brasilien, Argentinien und England zu deklassieren, aber eben nicht den neuen Hegemonen.

Noch immer schauen die Deutschen neidisch auf Spanien

Diesen Makel legten sie erst ab, als sie 2014 in Brasilien den WM-Titel gewannen. Der Einfluss des Vorbildes, das mittlerweile nicht mehr so gut funktionierte und in der Vorrunde ausschied, war unübersehbar. Die Spanier wurden den Deutschen an Turnieren fortan zwar nicht mehr zum Verhängnis. 2016, als die Iberer an der EM im Achtelfinal scheiterten, überwanden die Deutschen ihren Italien-Komplex und siegten im Viertelfinal. Doch noch immer schauten sie bewundernd auf den spanischen Fussball, der weiterhin Talente in Hülle und Fülle hervorbrachte und die europäischen Klubwettbewerbe dominierte.

Gleichwohl waren die Iberer schlagbar – wenn auch nur für die deutschen Junioren im Final der U-21-EM. Diese bezwangen im Final von 2017 den hochfavorisierten spanischen Nachwuchs 1:0. Spieler wie Gerard Deulofeu, Héctor Bellerín, Dani Ceballos, Marco Asensio und Saúl Ñíguez gaben sich damals genauso präpotent wie heute der Nationalcoach Luis de la Fuente, der keine Gelegenheit auslässt, seine Mannschaft als die beste des Wettbewerbs zu preisen und die Klasse der Protagonisten als konkurrenzlos herauszustellen.

Nicht ausgeschlossen, dass de la Fuente nicht bloss den Fehler begeht, seine teilweise noch sehr jungen Spieler zu überschätzen, sondern auch den Gegner für schwächer hält, als er tatsächlich ist. Die Eindrücke, die die deutsche Mannschaft an den vergangenen zwei Weltmeisterschaften hinterlassen hat, gelten nicht mehr. Ebenso wenig das 0:6 aus der Nations League 2020, das zu den trüben Momenten des deutschen Fussballs gehörte. In Stuttgart steht am Freitag also nicht nur der Halbfinaleinzug auf dem Spiel: Für die Deutschen geht es um nicht weniger als darum, den Spanien-Komplex zu überwinden.

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