Samstag, September 28

Zu prasselndem Regen und rollendem Donner erzählt das Internationale Literaturfestival Leukerbad viele Geschichten von verschiedenen Generationen.

Dunkle Wolkenschleier degradieren die schroffen Felsmassive rund um Leukerbad immer wieder zu einer Ahnung. Der Donner rollt, die Strässchen fliessen mit dem Regen durchs Dorf, und die Fenster der Beizen und Hotels hängen auch tagsüber wie viereckige Sonnen in den Hauswänden.

In der Ferne schwillt das Tosen der Wasserfälle an, auf einer Wiese in der Dorfmitte füllt der Niederschlag die Senken rund um das James-Baldwin-Zelt zu einem Burggraben auf.

Dass das Literaturfestival Leukerbad seinen wichtigsten Austragungsort nach einem amerikanischen Schriftsteller benannt hat, ist Hommage und Programm zugleich: Für drei Tage im Juni soll der Bäderort Leukerbad eine internationale Literaturhochburg sein. Angezogen wird aber vor allem eine überschaubare Menge von Gästen aus der Deutschschweiz. Oder, wie es eine Frau im Migros neben den Leuker Thermen sagte: «Di Biecher-Grüezini sind wider da.» Grüezini – die Walliser Bezeichnung für die Deutschschweizer.

Alles hat seine Ordnung

Obwohl Leukerbad dieser Tage zu einem Mehrzweckort wird, herrscht Ordnung. Man sieht den Leuten bald an, wohin sie gehören: die trocken geföhnten Familien zur Therme mit der bunten Wasserrutsche, die Touristen mit Selfie-Sticks und Regenponchos aus dünnem Plastik in den Reisebus auf dem Dorfplatz und die Menschen mit praktischen Schuhen, eleganten Kleidern und orangen Bändeln um den Hals ins weisse Festivalzelt auf der schlammigen Wiese.

In dieses Zelt führt, einer improvisierten Zugbrücke gleich, ein Weg aus genormten Europaletten. Drinnen lauscht man den oft etwas angestrengten Diskussionsrunden, dem steten Regen und den Lesungen, die sich zum grössten Teil durch ebenso interessante Bücher wie Autoren auszeichnen und dank guter Moderation auch neben den vorgetragenen Lesestellen viel Hörenswertes bieten.

Eine Art von Erzählung fällt besonders auf in diesem Jahr in Leukerbad: jene über viele Jahre hinweg. Die polnische Autorin Joanna Bator bringt mit «Bitternis» ein Buch mit in die Berge, das von vier Generationen erzählt. Es geht um deutsch-polnische Geschichte und polnische Traumata und um die Wege, die der Schrecken von Grossmüttern über Mütter, Töchter und Enkelinnen bis in die Gegenwart findet.

Generationengeschichte

Auch Michelle Steinbeck hat mit «Favorita» eine Generationengeschichte geschrieben – jene einer bei der Grossmutter aufgewachsenen Tochter, die sich auf die Suche nach dem Mörder der Mutter macht. Während ihre Protagonistin einen Täter sucht, geht die Autorin der kontrollierenden Kraft der Scham nach. Ein Gefühl, das das Leben der beschriebenen Grossmutter kleinhielt, so wie es viele Frauenbiografien mitschrieb und -schreibt. Die Auswirkungen der Scham zeigen sich auch in der Gegenwart der Tochter. Denn Scham hemmt vor allem Frauen und verhindert, dass sie ihr Potenzial ausschöpfen.

Die deutsche Autorin Ronya Othmann, die neulich von einem pakistanischen Literaturfestival ausgeladen wurde, weil man ihr Islamfeindlichkeit vorwarf, spricht über «Vierundsiebzig». Eine sanfte, beobachtende Erzählung über ihre Beziehung zu ihrem kurdisch-jesidischen Vater, über die sie sich dem Genozid an der jesidischen Bevölkerung annähert, der 2014 in Shingal von Kämpfern des IS verübt worden war.

Und dann liest da auch noch Marlene Streeruwitz, die Älteste auf der eben aufgezählten Liste, die anders als die Jüngeren bewusst darauf verweist, dass es bei ihr vor allem um Protagonistinnen, Frauen also, gehe. Die Patriarchen habe sie in ihrem «Handbuch für die Liebe» bewusst aussen vor gelassen, obwohl es sie natürlich gebe, die Männer, in ihrem Roman. «Aber sie werden nicht mit Fanfaren eingeführt. Es gibt keine Trompeten und kein: ‹Hurra, da ist wieder einer!› Das wäre nur im Märchen so, und ich schreibe keine Märchen.»

Allen Werken und Autorinnen ist eigen, dass sie sich mit dem Blick auf eine aufwühlende, schwierige Vergangenheit die Gegenwart zu erschliessen suchen. Sei das nun im Einzelfall, wie bei Steinbeck, oder im grandiosen Epos, wie bei Bator. Dass ihre Lesungen grossen Zulauf finden, zeigt auch, wie sehr sie damit gerade ein Bedürfnis treffen – zu verstehen in Zeiten, in denen vieles so schrecklich ist, dass es erst einmal mit Verständnislosigkeit aufgenommen wird.

Ein gutes Verständnis

Das ist es denn auch, was Literatur im besten Fall gelingt: ein besseres Verständnis zu schaffen. Man eignet sich neues Wissen, fremde Perspektiven und andere Gefühle an. Schreiben heisst immer auch Vermitteln. Und wer liest, wer sich einlässt auf die Worte eines anderen, will auch verstehen.

Bei einem internationalen Literaturfestival, an dem viel Englisch und Französisch, aber auch Polnisch, Japanisch oder Arabisch gesprochen und gelesen wird, nimmt die Sache mit dem Verstehen allerdings um einiges trivialere Züge an.

Logan February aus Nigeria etwa, Muttersprachen Englisch und Yoruba, lernt gerade Deutsch in Berlin. Noch aber reiche der Wortschatz nicht, um etwa die Kollegen bei der gemeinsamen Lesung im Alten Bahnhof zu verstehen. «Ich will mich nicht beklagen, ich bin ja in der Schweiz», sagt February später, «aber es ist schwer, alles richtig wertzuschätzen, wenn man fast nichts versteht.»

«Dieses Walliserisch»

Allzu weit her muss man für erste Übersetzungsschwierigkeiten allerdings nicht kommen, dafür sorgt der Walliser Dialekt. Traditionell wird in Leukerbad nicht nur den Tag hindurch, sondern auch um Punkt Mitternacht gelesen: einst auf der Gemmi, heute auf dem Torrent, immer dort, wo es nach Skifahren riecht und man den Sternen etwas näher ist. Selbst wenn Letztere an diesem Abend nur hinter den Regenwolken leuchten.

Statt Sternenlicht gibt es drinnen in der Rinderhütte Kerzenschein und Weisswein und eine Walliser Nacht, bei der es lauter und lustiger zu und her geht als bei allen anderen Veranstaltungen. Der Leuker Autor Wilfried Meichtry etwa setzt erst zu einem Studentengesang und später, unterstützt vom Publikum, zum Schlager an.

Der Dorfkollege Rolf Herrmann trägt seine Walliser-Sage erst auf Hoch- und dann auf Walliserdeutsch vor. Später, als die Gondel durch die pechschwarze Nacht hinunter ins Tal gleitet, fragt ein deutscher Gast die Schweizer Begleitung: «Versteht ihr dieses Walliserisch eigentlich wirklich?»

Verlorene Emotionen

Auch bei einer deutsch-arabisch geführten Diskussion über die Situation im Nahen Osten und den politischen Islam gibt es kurzfristige Verständnisprobleme. Dann etwa, wenn der algerische Autor Saïd Khatibi mit lauter, emotional werdender Stimme spricht, sich vorbeugt und auffordernd ins Publikum blickt – und das Publikum verständnislos zurückschaut. Es erkannte in dem arabischen Plädoyer nur ein einziges Wort: Europa.

Die spätere Übersetzung zeigt: Khatibi spricht davon, dass Araber die ersten Opfer des politischen Islam gewesen seien. Er wünscht sich, Europa könnte über das schlechte Bild hinwegsehen, das es seit dem 11. September von Muslimen habe, und ohne Religion und Politik im Hinterkopf um die Menschen trauern, die in Gaza gerade sterben.

Während Khatibi von Verständnis und Mitgefühl spricht, den politischen Islam verurteilt und zu differenzierter Betrachtung des Konflikts aufruft, einigen sich seine beiden deutschen Gesprächspartner Joseph Croitoru und Stefan Weidner – er wird per Call ohne Bild aus Rom zugeschaltet – auf ein krudes Fazit davon, dass der Westen die Palästinenser gelehrt habe, dass sie sich nur mit Gewalt Gehör verschaffen könnten, und die westliche Islam-Kritik vor allem auf Missverständnissen basiere.

Schwerpunkte sind die Diskussionsrunden in Leukerbad allerdings nicht. Stattdessen setzt man mit der nächtlichen Fahrt auf den Torrent und den literarischen Spaziergängen durch die Dala-Schlucht und das Dorf selbst auf ein uraltes Rezept: die Vermengung von Büchern und Bergen.

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