Der berühmteste Autor des Landes füllt mit seinen Lesungen ganze Stadien und meldete sich letztes Jahr freiwillig für die Armee. Nun pendelt er zwischen der Front und seiner Heimatstadt.
Das Café «Makers 66» ist ein Paralleluniversum neben dem Krieg. Draussen, in den Strassen der Frontstadt Charkiw, schlagen fast täglich Raketen ein. Doch drinnen sitzen Studenten und trinken rechts vom Eingang vor ihren Computern Cold Brew. Links davon essen Soldaten während einer Kampfpause ein Stück Kuchen. Der Literatur-Superstar Serhij Zhadan sitzt genau dazwischen.
Charkiw sei wie Ernest Hemingways Madrid im Spanischen Bürgerkrieg. «Auch dort lag die Front gleich daneben, während die Menschen in den Restaurants assen und tranken», sagt der berühmteste ukrainische Dichter. Im Mai meldete sich Zhadan freiwillig für die Armee. Doch für sein Land kämpft der 50-Jährige auf seine eigene Weise – zwischen Front und Heimatstadt. «Ich bin heute kein Künstler mehr. Aber ich bin auch kein Frontsoldat.»
Geistiger Vater der Brigade Chartija
Zhadan gilt in der Ukraine als so etwas wie ein Nationaldichter. Das verpflichtet ihn dazu, Vorbild zu sein. «Ich bin eigentlich kein Mann des Militärs», sagt er. Die Grundausbildung, die er erst letztes Jahr absolvierte, fiel ihm schwer. «Aber Disziplin ist Disziplin.» Und doch kam er in eine Einheit, mit der ihn mehr verbindet als die Kameradschaft von Soldaten: Die 13. Brigade der Nationalgarde heisst Chartija. Es ist eine spezielle Einheit, gegründet durch Freiwillige, breit verankert in der Zivilgesellschaft von Charkiw. Zhadan schlug nicht nur den Namen vor, der eine Verpflichtung ausdrückt, die Menschen aus eigenem Willen eingehen. Er schrieb mit seiner Ska-Band Zhadan i Sobaky auch die offizielle Hymne.
Chartija verteidigte 2022 zunächst als spontan gegründete Landwehr die Stadt. Auch nach ihrer Eingliederung in die Armee erhielt sie die engen Kontakte zur Kulturszene und zur Zivilgesellschaft aufrecht. Gleichzeitig hat die Brigade Nato-Standards bei der Ausbildung und im Kampf übernommen. Letztes Jahr schlug sie eine neue russische Invasion im Norden zurück und steht beim Ort Lipzi an vorderster Front.
Der Literat als Aushängeschild
Zhadan ist ein zentrales Bindeglied zwischen der Brigade und seiner Heimatstadt. Auch er trägt eine Waffe. Doch wichtiger ist der Literat als Aushängeschild: Zhadan, der immer wieder für die NZZ schrieb, betreibt den Radiosender der Einheit, organisiert für Chartija Spenden, Drohnen und Störsender. «Das muss sein, weil wir viele Dinge nur privat kriegen.» Er trägt so dazu bei, dass die Brigade gut ausgerüstet ist und sich professionelle Rekrutierungskampagnen leisten kann.
Seine spezielle Rolle erlaubt Zhadan auch, an diesem Samstag im bekannten Charkiwer Studio M-Art an einer neuen Platte zu arbeiten. Musik macht er schon seit Jahrzehnten, wobei er zwischen verschiedenen Projekten und Stilen wechselt. Nun singt er zwischen Keyboards, historischen Fotos, Ehrenurkunden für die Chartija-Brigade und einer Ikone Gospel. Die Musiker und die Mitglieder des Chors sind Vertriebene, deren Heimat nun unter russischer Besetzung steht. «Mir geht es um Spiritualität, den Glauben an etwas Gutes. Gerade im Krieg.» Ähnliche Themen behandelte er in seinem letzten Gedichtband, der 2024 erschienenen «Chronik des eigenen Atems».
Zhadan scheut das Pathos nicht, weder als Musiker noch als Poet. Manchmal verschwimmen die Grenzen zum Klischee. So trat er letzten August mit einem seiner Gedichte in einem Werbespot für McDonald’s auf. Ein Soldat hört ihm bei einer Lesung vor der Armee zu, dessen Freundin in einem Theater. Am Ende treffen sie sich im Fast-Food-Lokal wieder und kuscheln, während sie einen Burger essen. Seine Gage hat Zhadan gespendet, der künstlerische Wert ist zweifelhaft. Dennoch bekommt man beim Zuschauen eine Gänsehaut.
Ukrainischer Kult der Literatur
Ein Land, das sich im Krieg befindet, sieht patriotisches Pathos weniger kritisch als der friedliche Westen. Die Ukrainer finden gerade in Zhadans Poesie Halt: Jüngst pilgerten 4000 Menschen an eine Lesung von ihm in Kiew. Das wäre bei uns undenkbar. Der Krieg habe den Schriftstellern einen höheren Status verliehen, sagt Zhadan. «Die Leute suchen moralische Autoritäten.» Gleichzeitig habe der Kult um Literaten etwas sehr Sowjetisches. Der Charkiwer weiss, dass dies etwas ironisch ist für ein Volk, das gerade darum kämpft, sich von Moskau zu befreien.
Die Ukrainer verteidigen dabei auch die eigene Kultur gegen Russlands Aggression. Und dies nicht erst seit 2022. Bei der Wiederbelebung des im 20. Jahrhundert unterdrückten ukrainischen Nationalbewusstseins spielte Zhadan eine wesentliche Rolle. Er zog 1991, im Jahr des Zerfalls der Sowjetunion, nach Charkiw. Früher als viele andere begann er, auf Ukrainisch zu schreiben, oft im heutigen Café Makers 66. Dieses war in seiner Studentenzeit eine billige Kneipe für Künstler und Arbeiter. Heute sieht es aus wie ein Hipster-Café, wie es sich in jeder westeuropäischen Metropole findet.
Auf der gegenüberliegenden Strassenseite steht das Literaturmuseum, wo er zu Beginn seiner Karriere arbeitete. Es ist wegen der Gefahr durch russische Bomben geschlossen. Doch im Garten stehen die Porträts wichtiger ukrainischer Autoren neben Spiegeln, in denen sich die Besucher betrachten können. Es ist ein idyllischer Ort, obwohl gerade die Sirenen des Luftalarms dröhnen. Charkiw, die erste Hauptstadt der Ukraine, war in den 1920er Jahren das Zentrum der kulturellen Renaissance des Landes. Doch Stalin liess fast alle Vertreter des Ukrainischen ermorden – Künstler, Schriftstellerinnen, Professoren.
Zhadan wehrt sich gegen die Vorstellung, dass die Ost- und die Westukraine sprachlich getrennt seien. «Die Gegend war stets zweisprachig – die grossen Industriestädte russisch, die Dörfer ukrainisch.» In seiner Jugend habe er in Starobilsk oft «Surschik» gesprochen, eine ost- und südukrainische Mischsprache. Die wichtigsten Trennlinien sieht er anderswo: «Wir sind ein grosser Staat mit starken Regionen, die wenig miteinander zu tun hatten. Nun kämpfen die Leute aus verschiedenen Gegenden gemeinsam.»
Vereinte und getrennte Ukraine
Zhadan glaubt, dass erst die letzten drei Jahre des Abwehrkampfs ein Land aus der Ukraine gemacht haben. Als Russland 2014 den Krieg im Donbass losgetreten habe, habe dies die Charkiwer wenig interessiert. «Sie dachten: Das ist nicht unser Krieg. Er war 200 Kilometer weg, während man mit dem Taxi in weniger als einer Stunde über die Grenze nach Russland fahren konnte.» Leider habe es die grosse Invasion von 2022 gebraucht, um den Leuten ihre Illusionen zu nehmen. Viele Westukrainer hätten die Namen von Städten wie Bachmut oder Pokrowsk erstmals im Zusammenhang mit dem Krieg und ihrer Zerstörung gehört. Viele Ostukrainer seien zum ersten Mal als Flüchtlinge in Lwiw gewesen.
Die gegenseitigen Vorurteile, so Zhadan, seien dadurch nicht einfach verschwunden. Und weil die Ukraine so gross ist, dass der Alltag in Kiew und Lwiw nur punktuell vom Krieg gestört wird, während Frontstädte täglich hundertfache Zerstörung erleben, sind die Erfahrungen extrem unterschiedlich. «Natürlich ist einer, der seit zwei Monaten im Schützengraben steht, frustriert, wenn er Bilder von vollen Restaurants in Kiew sieht», sagt Zhadan. Andere kämpften genau dafür, ihren Familien und Freunden ein friedliches Leben zu ermöglichen.
Zhadan bleibt in beiden Welten verankert. Worin besteht also seine Rolle? Muss er als patriotischer Literat die Moral der Menschen heben? Zhadan beantwortet die Frage nicht direkt. Das Schreiben fällt ihm schwer dieser Tage, weil er in der Brigade zu viel andere Arbeit hat. Und er fragt sich, worüber er schreiben kann. Über den Krieg nicht, sagt er. Über schwierige Themen wie Kollaboration und Besetzung vielleicht nach dem Krieg. Er überlegt viel, was seine Texte bei Leuten auslösen können, die viel erlitten haben. «Das ist natürlich eine Selbstzensur. Aber es ist keine politische, sondern eine ethische.»
Der Literat, der in den letzten Jahren auch eine Reihe prestigeträchtiger internationaler Preise erhielt, ist müde. «Wie alle in der Ukraine», sagt Zhadan. Er, der zunächst auch im Ausland stets für die Sache der Ukraine warb, hat momentan keine Energie, «den Westlern immer wieder sehr einfache Sachen zu erklären». Dass der neue amerikanische Präsident Trump sogar russische Propaganda verbreitet und die Militärhilfe eingestellt hat, will er auf Nachfrage nicht kommentieren. «Es war 2022 schwer, und es ist immer noch schwer», sagt Zhadan nur.
Die Ukraine habe schon viele Unabhängigkeitskriege geführt. Die Chancen, zu gewinnen, stünden heute gut, weil Russland keine Strategie habe. «Klar, sie wollen unsere Armee zerstören, sie wollen vorrücken. Aber was ist ihre längerfristige Perspektive? Ich verstehe das nicht.» Ihm habe der Krieg hingegen gezeigt, was wichtig sei: die Freunde, seine Heimatstadt Charkiw, der Kampf in der Armee. Dafür arbeite er. «Wir alle haben nur ein Leben und nicht so viel Zeit.»
Serhij Zhadan: Keiner wird um etwas bitten. Neue Geschichten. Aus dem Ukrainischen von Sabine Stöhr und Juri Durkot. Suhrkamp, Berlin 2025. 165 S., zirka Fr. 35.–.