Samstag, November 23

Die Schweiz und der Instagram-Tourismus: Die Menschen am Oeschinensee leiden unter den Touristenmassen. Weil sie dem Wahnsinn nicht entfliehen können, passen sie sich an.

Lea und Christoph Wandfluh haben etwas, wovon viele Gastronomen träumen: In der Hochsaison warten die Menschen vor ihrem Gasthaus am Oeschinensee oberhalb von Kandersteg auf einen freien Tisch. Sie besetzen auf der Terrasse jeden Platz, fotografieren die Szenerie und sich selbst, bestellen 600 Mittagessen.

An Spitzentagen sind 5000 bis 6000 Menschen im Gebiet des Oeschinensees. An diesem regnerisch-trüben Sommertag tummeln sich Rentnerinnen und Rentner auf der Terrasse, eine israelische Reisegruppe und Dutzende Familien. Sie essen Rösti, «Oeschi-Burger», veganes Curry. Ein Junge stürzt sich auf eine Portion Spätzli, seine Grossmutter sagt: «Langsam, langsam!»

Lea und Christoph Wandfluh führen das Berghotel Oeschinensee seit 2012. Lange Zeit bedienten und beherbergten sie die vielen Touristen so, wie es schon Generationen ihrer Familie vor ihnen taten. Lange Zeit lief das gut. Doch je mehr Menschen kamen, desto schwieriger wurde es, die hohen Ansprüche der Gäste zu erfüllen. Irgendwann krampften Lea und Christoph Wandfluh nur noch. Und in diesem Frühjahr wurde alles zu viel.

Die Schweiz und ihre Instagram-Hotspots

Der Schweizer Tourismus hat sich in den vergangenen Jahren durch die sozialen Netzwerke verändert. Nicht nur zum Guten. Was haben Instagram, Tiktok und Co. mit den schönsten Orten des Landes gemacht? Wer profitiert, und wer verliert? Und kann es ewig so weitergehen mit der Inszenierung der Natur?

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130 Jahre Familienbetrieb

Das Berghotel Oeschinensee wird seit 130 Jahren von der Familie Wandfluh betrieben. Früher war das Gasthaus nur im Sommer offen, wenn die Tiere auf der Alp weideten und die Bauern im Gasthaus einkehrten. Später, am Anfang des 20. Jahrhunderts, wurde das Berghotel zur Ferienresidenz für Schulklassen, Schriftsteller, Künstlerinnen.

Die Gäste blieben tage-, manchmal wochenlang. Sie kamen für Erholung und Ruhe und fanden beides an dem See mit dem türkisblauen Wasser und den steilen Felswänden. Der Schriftsteller Hermann Hesse verbrachte hier die Sommerferien und liess sich von den Wandfluhs hoch zur Fründenhütte führen.

Jahrzehntelang galt der Oeschinensee als unbeachtete Oase, als ruhiger, idyllischer Ort im Berner Oberland.

Wie ein gefrorener See einen Hype auslöste

Berühmt wurde der Oeschinensee ausgerechnet in einem Winter. In der Jahreszeit, in der sich nur wenige Leute dorthin verirrten. An Weihnachten 2015 fehlte überall im Berner Oberland der Schnee. Aber es war kalt. So kalt, dass der Oeschinensee zum ersten Mal seit Jahren zufror. Die Leute kamen zum Schlittschuhlaufen.

Die Bilder des gefrorenen Sees wurden auf den sozialen Netzwerken gepostet, geteilt, gefeiert. Und das Restaurant der Wandfluhs war plötzlich voller Gäste.

Heute sagt Lea Wandfluh, dass sie damals zum ersten Mal gemerkt hätten, wie mächtig, wie unkontrollierbar die sozialen Netzwerke seien. «Instagram hat dem Tal den Winter gerettet.»

Kurze Zeit später ging auf Social Media ein zweites Video vom Oeschinensee viral. Ein Besucher veröffentlichte ein Video der Rodelbahn, die von der Bergstation der Gondelbahn ins Tal führt, auf Youtube. «Mountain Coaster Switzerland» wurde zum Internet-Hit, Millionen von Menschen schauten sich das Video an und googelten den Oeschinensee. Die Wandfluhs sagen: «Plötzlich erhielten wir Hunderte Buchungsanfragen auf Englisch.» Und dann ging es richtig los.

Die Welt am Oeschinensee

Der Oeschinensee wurde in Reise-Blogs und auf Social-Media-Profilen von Influencern erwähnt. Die Gemeinde, die Gondelbahn und die Wandfluhs als Miteigentümer des Gebiets erhielten Mails von Tourismusorganisationen, Kooperationsanfragen von Influencern, Gesuche für Drehbewilligungen. SRF habe sich gemeldet, die BBC, sogar Netflix habe am See drehen wollen. Hollywood oberhalb von Kandersteg.

Heute treffen am Oeschinensee High-Tech-Regenjacken auf Designertaschen, Appenzeller Gürtel auf Selfie-Sticks. Die einen rasten vor dem steilen Aufstieg zur Blüemlisalp. Die anderen lassen sich im Elektroshuttle von der Bergstation der Gondelbahn zum See kutschieren. Für die einen liegt der Oeschinensee an der Via Alpina, einem grenzüberschreitenden Wanderwegenetz. Für die anderen ist er ein geeigneter Fotospot auf der Strecke von München nach Mailand.

Lea und Christoph sind seit elf Jahren da, um all diese Gäste zu verpflegen. Lea Wandfluh sagt, sie hätten sich jedes Jahr etwas einfallen lassen, um den Betrieb zu verbessern. Doch der Massentourismus überforderte sie je länger, desto mehr.

Im Frühjahr wurde den Wandfluhs dann alles zu viel. In einem Facebook-Post beschreiben sie Ende Mai, was es heisst, an einem «touristischen Hotspot» einen Gastbetrieb zu führen. Sie schreiben von «kaum erfüllbaren Gästeerwartungen», von «Belästigungen, abschätzigen Bemerkungen, Pöbeleien». Die Arbeit sei stressig, die Tage bis zu 15 Stunden lang. Viele langjährige Mitarbeiter hätten gekündigt. Die Stellen neu zu besetzen, sei unmöglich.

Der Facebook-Post brachte, was die Wandfluhs nicht mehr wollten: noch mehr Aufmerksamkeit. Der Post erhielt 2700 Likes, 170 Kommentare, wurde 280 Mal geteilt. «Blick» und «20 Minuten» schrieben über das Wirtepaar. Lea wie auch Christoph Wandfluh erlitten beide ein Burnout. Sie brauchten eine Pause vom Dichtestress am Oeschinensee.

Es gibt nur eine Lösung: Anpassung

Die Wandfluhs und viele Leute in der Region sind sich eigentlich einig: Man will all diesen Trubel nicht. Es gilt, das Gebiet zu schützen. Die Region versuche dem Verband Schweiz Tourismus immer wieder zu erklären, dass der Oeschinensee nicht international angepriesen werden solle. Die Wandfluhs sagen: «Die Aufmerksamkeit ist ungewollt.»

Die Aufmerksamkeit mag ungewollt sein, der Zulauf zu viel. Und doch hat man sich am Oeschinensee längst mit den Massen arrangiert. Man hat sich auf sie ausgerichtet.

Die Talstation der Gondelbahn ist umgeben von Parkplätzen, von der Bergstation aus führt eine asphaltierte Strasse zum Oeschinensee. Im Gebiet sind Ranger unterwegs, die sicherstellen, dass die Menschen der Natur Sorge tragen. Am Wegrand stehen riesige, solarbetriebene Mülltonnen, die eigenständig Müll zusammenpressen. Wenn die Tonnen voll sind, erhält der Zuständige ein SMS.

Auch die Wandfluhs entschieden sich, in diesem Sommer mitzumachen. Sie mussten. Die Touristen kommen sowieso. Ihr Betrieb hat jetzt eine neue Ausrichtung: Das Hotel bleibt geschlossen. Im Restaurant wird auf den Tischen bald ein «Verhaltenskodex» aufliegen. Um das Personal zu schützen, bitten die Wandfluhs die Gäste, anständig zu sein. Sie bedienen im Restaurant nicht mehr, sondern lassen die Gäste an einer Theke bestellen. Wenn das Essen fertig ist, werden die Gäste via Pager informiert.

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