Samstag, Oktober 5

Rüdiger Maas befragt regelmässig Deutschlands Jugend. Er erklärt den Erfolg der AfD bei ihr – und was das mit Social Media und Helikoptereltern zu tun hat.

Noch vor kurzem haben die jungen Deutschen für Fridays for Future demonstriert und die Grünen gewählt. Jetzt haben 38 Prozent der Wähler unter 25 Jahren in Thüringen für die AfD gestimmt, auch in Sachsen ist die Partei stärkste Kraft bei den jungen Leuten. Was ist da los, Herr Maas?

Erstens, die Wahlergebnisse sind nicht überraschend. Wir erleben einen Rechtsrutsch bei den Erstwählern in ganz Deutschland. Das haben wir bei den Europawahlen gesehen. Zweitens konnten wir nie empirisch belegen, dass sich die jungen Leute besonders nachhaltig verhalten. Das haben wir als Gesellschaft bloss in sie hineinprojiziert. Drittens sind seit dem Beginn der Schulstreiks gegen den Klimawandel fünf Jahre vergangen.

Das heisst?

Wir haben es heute mit einer komplett neuen Kohorte von jungen Leuten zu tun. Um diese besser zu verstehen, haben meine Kollegen und ich eine repräsentative Studie durchgeführt. Wir haben im vergangenen Monat 1000 Deutsche zwischen 16 und 25 Jahren befragt, aus Ost und West. Erst über Online-Fragebögen, dann auf der Strasse. Unsere Ergebnisse decken sich mit den Wahlresultaten.

Was haben Sie herausgefunden?

Einige Ergebnisse haben mich schockiert. Jeder dritte Deutsche unter 25 Jahren hat beispielsweise Angst vor den Grünen, sie fürchten eine Verbotspolitik durch die Partei. Ich bin 45 Jahre alt und komme aus einer Generation, die viel eher Angst vor der AfD hat. Doch mit der AfD hadern die jungen Menschen weniger. Das hat verschiedene Gründe.

Welche?

Unsere Daten zeigen: Die jungen Menschen sehen als dringlichstes politisches Problem in Deutschland die Migration an. Die AfD erscheint ihnen da als Partei, die das lösen kann. Spannend ist: Früher haben die Menschen gesagt, die Ausländer nähmen ihnen die Arbeitsplätze weg. Heute sagen die jungen Leute, die Migranten arbeiteten zu wenig.

Sie sprachen von verschiedenen Gründen für die Beliebtheit der AfD . . .

Ein weiterer Grund ist die veränderte Mediennutzung der jungen Menschen. Sie verbringen mehr als vier Stunden pro Tag in den sozialen Netzwerken, besonders beliebt ist Tiktok. Jeder zweite informiert sich ausschliesslich über Social Media. Die Auswirkungen davon unterschätzen wir schlichtweg.

Über 30 Prozent aller jungen Menschen haben in Sachsen und Thüringen die AfD gewählt. Das liegt doch nicht an den sozialen Netzwerken . . .

Social Media wirkt als Grund für den Rechtsruck tatsächlich unterkomplex. Doch in unseren Gesprächen auf der Strasse haben die jungen Menschen immer wieder mit denselben Videos argumentiert, die sie gesehen haben. Das spricht für den grossen Einfluss der sozialen Netzwerke. Wir wissen: Je eingängiger eine Botschaft formuliert wird, desto erfolgreicher ist sie auf Social Media. Die AfD hat das ebenso wie das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) verstanden. Mit ihren populistischen Aussagen haben sie dort enorme Erfolge.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Ein ganz aktuelles: Nach dem Attentat in Solingen haben die etablierten Parteien deutlich gemacht, dass sich in der deutschen Migrationspolitik etwas ändern muss. Die AfD hat darauf geantwortet: Seht, wir sagen das schon seit Jahren. Das unterstützt das gängige Narrativ der Partei, dass sie ein Underdog sei. Jemand, der nicht ernsthaft angehört werde. In den sozialen Netzwerken lässt sich diese Erzählung gut verkaufen. 40 Prozent aller jungen Menschen gaben bei unserer Befragung an, die AfD werde in den Medien ungerecht behandelt. Fast jeder Dritte sagte, der Staat handle gegen das Interesse seiner Bürger, bei den AfD-Wählern waren es sogar 70 Prozent.

Viele junge Menschen wählen also extreme Randparteien, weil deren Ansichten für sie völlig normal geworden sind?

Ihrer Ansicht nach wählen sie nicht extrem. Das bisherige Verständnis von linker und rechter Politik funktioniert für viele junge Menschen gar nicht mehr. 17 Prozent unserer befragten jungen AfD-Wähler würden sich selbst etwa der politischen Mitte zuordnen. Die AfD ist für sie eine volksnahe Partei, welche die Sprache der Jugend spricht und Themen angeht, die sie beschäftigen. Genauso verkauft sich die Partei auf Social Media. Auch das BSW ist für viele eine Partei der Mitte, weil es linke und rechte Ansichten vereine. Jeder vierte Befragte sagte zudem, die Begriffe «links» und «rechts» ergäben keinen Sinn mehr.

Das klingt nach mangelnder Bildung . . .

Es hat auch etwas mit dem Alter zu tun. In den Gesprächen überall in Deutschland habe ich bemerkt: Erst ab etwa 20 Jahren werden die jungen Leute politisch mündig. Davor können viele ihre politischen Entscheidungen gar nicht begründen, sie wissen viele Dinge nicht und interessieren sich auch kaum dafür. Mit dem Alter steigen dann Wissen und Interesse. Bei der Frage nach dem Wahlalter sollte man das berücksichtigen. In manchen Bundesländern darf man auf Kommunal- und Landesebene schon ab 16 wählen. Das finde ich grundsätzlich gut. Die jungen Menschen sind die Zukunft unserer Gesellschaft, sie sollten eine Stimme haben. Aber wir müssen sie in der Schule anscheinend stärker auf die Demokratie vorbereiten.

Was möchten die jungen Menschen denn?

Viele junge Menschen haben Zukunftsängste. Sie glauben, dass ihr Leben langfristig schlechter wird. Eigentlich sind sie auf der Suche nach einer Partei der gesellschaftlichen Mitte, mit der sie nichts falsch machen können. Doch von den Ampelparteien fühlen sich viele im Stich gelassen. Man darf das nicht vergessen: Während ihrer gesamten Kindheit hat Merkel regiert, und die Welt schien heil zu sein. Jetzt dürfen sie wählen, doch die Umstände sind komplizierter geworden. Viele sehnen sich zurück nach der Kanzlerin und der Stabilität, die sie verkörpert hat. Ich würde von einer Merkel-Nostalgie sprechen – von der Sehnsucht nach dem Gestern.

Sturm und Drang, 1968 oder die Ökos: Die Jugendbewegungen der Vergangenheit schauten progressiv nach vorne. Warum verklären die jungen Leute heute die Vergangenheit?

Es gibt heute im Grunde keine Räume mehr nur für junge Menschen. Nehmen wir als Beispiel Tiktok. In dem sozialen Netzwerk haben sich zuerst die jungen Leute versammelt, dann drängten Politiker, Unternehmerinnen und Eltern hinein. Doch ohne Abgrenzung von den Erwachsenen kann keine Jugendbewegung entstehen. Früher haben sich die jungen Menschen von ihren Eltern distanziert, heute übernehmen sie deren Werte. Die Eltern sind oft die besten Freunde der Jugendlichen.

Die Helikoptereltern sind also schuld, dass die jungen Leute populistischer wählen als früher?

Wir können tatsächlich einen Zusammenhang herstellen. Viele Eltern haben ihre Kinder zu sehr verwöhnt, ihnen alle Probleme abgenommen. Das übertragen ihre Kinder jetzt auf den Staat. Sie sehen die Bringschuld bei der Regierung, sie soll sich um alle Probleme kümmern. Diese jungen Menschen fühlen sich kaum eigenverantwortlich. In dieser Logik folgt die Angst, dass die Regierung etwas tut, was einem nicht gefällt – und wogegen man sich nicht wehren kann. Die jungen Leute fühlen sich ohnmächtig. Das macht sie empfänglich für die Versprechen der populistischen Parteien.

Zur Person

PD

Rüdiger Maas, 45, ist promovierter Psychologe und leitet das private Institut für Generationenforschung in Augsburg. Zusammen mit seinem Team führt er regelmässig Umfragen und Studien durch, um die junge Generation besser zu verstehen. Er ist Autor mehrerer Sachbücher.

Bei der Europawahl haben 16 Prozent der jungen Deutschen die AfD gewählt, bei den jetzigen Landtagswahlen waren es über 30 Prozent. Warum wählen junge Ostdeutsche eher rechts als gleichaltrige Westdeutsche?

Auch das lässt sich durch die Eltern erklären. Viele Menschen in Ostdeutschland sind unzufrieden. Sie haben das Gefühl, dass ihnen nach der Wende ein gesellschaftliches System übergestülpt wurde, in dem sie als Mensch vergessen wurden. Die Erzählungen und Gefühle der Eltern übernehmen viele Jugendliche unreflektiert, die Unzufriedenheit der Alten überträgt sich auf sie. Gleichzeitig hat sich im Osten in den vergangenen Jahren viel verändert. Wenn ein paar tausend Flüchtlinge nach Frankfurt am Main kommen, fällt das niemandem auf. In einem ländlich geprägten Landkreis in Ostdeutschland schon.

Dabei ist die Mauer vor fast 35 Jahren gefallen . . .

Die Unterschiede zwischen Ost und West nehmen auch ab. Wenn wir auf unsere Daten schauen, sehen wir zwar, dass die jungen Leute im Osten eher AfD und BSW wählen als im Westen. Aber die Parteien sind auch im Westen beliebt.

Ich fasse zusammen: Die jungen Leute machen, was ihre Eltern sagen. Und sie verbringen zu viel Zeit mit Social Media. Das hört sich nach einem internationalen Phänomen an . . .

Meine Kollegen und ich wollen daher junge Menschen in ganz Europa befragen, um herauszufinden, wie sie politisch ticken. Wir wollen auch besser verstehen, welchen Einfluss die sozialen Netzwerke auf unsere Demokratie haben. Sicher ist, wir müssen uns anpassen.

Wie meinen Sie das?

Nehmen wir als Beispiel die aktuelle Ampelregierung. Die stetige Unschlüssigkeit und das innere Opponieren der Regierung passen in keine Social-Media-Strategie. Wie soll die Regierung eingängige Botschaften kommunizieren, wenn sie keine hat? Dabei brauchte es das Korrektiv der etablierten Parteien dort dringend. Die Randparteien haben sich in den sozialen Netzwerken breitgemacht, die etablierten Parteien müssen folgen.

Olaf Scholz ist doch auf Tiktok. Braucht es einfach mehr Videos von ihm?

So einfach ist es nicht. Die etablierten Parteien haben keine Extrembotschaften, nach den Gesetzmässigkeiten der sozialen Netzwerken können sie dort also gar nicht erfolgreich sein. Eine Möglichkeit könnten Influencer sein, die wissen, wie man die jungen Menschen anspricht. Die Parteien müssen sich darüber Gedanken machen. Andernfalls verlieren wir noch mehr junge Menschen an die Populisten.

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