Sonntag, Februar 23

Geschichtsklitterung, Anleihen beim NS-Gedankengut und Träume von einer deutsch-russischen Dominanz in Europa: Der «Correctiv»-Reporter Marcus Bensmann analysiert das Gedankengut der deutschen Rechtspartei.

Das Zoom-Gespräch mit der NZZ führt Marcus Bensmann aus einem Hotelzimmer in Frankfurt. «Ich lerne Deutschland gerade in einer neuen Intensität kennen», sagt der Reporter, der einst für die NZZ aus Zentralasien berichtet hat. Derzeit tourt Bensmann als Vertreter des Medienhauses «Correctiv» durch Deutschland, um in Köln-Braunsfeld, Passau und an anderen Orten über sein Buch zu sprechen. «Niemand kann sagen, er hätte es nicht gewusst. Die ungeheuerlichen Pläne der AfD», heisst es.

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Anders als der Titel vermuten lässt, ist Bensmanns Bericht über weite Strecken frei von moralisierenden Anklagen. Dafür zeigt er anhand von Zitaten und programmatischen Veränderungen auf, wie die AfD schrittweise von Extremisten gekapert wurde – und welches Gedankengut mittlerweile in dieser Partei vorherrscht, die gemäss Umfragen auf 20 Prozent der Stimmen kommt.

Herr Bensmann, was ist der häufigste Irrtum im Umgang mit der AfD?

Es gibt zwei Grundirrtümer. Der eine ist, dass man sich nicht mit den ideologischen Entgrenzungen der Partei beschäftigt. Dazu gehört die völkische Ideologie, die es 2025 über das Wort «Remigration» sogar ins Wahlprogramm der AfD geschafft hat. Ebenso die 180-Grad-Wende, welche die AfD in der deutschen Erinnerungskultur einfordert, und die Hinwendung der Partei zu Russland und Putin.

Und der zweite Irrtum?

Dass man Unterschiede zwischen der AfD und anderen Parteien verwischt, etwa zur CDU. Natürlich kann man darüber diskutieren, wie Einwanderung kontrolliert und geregelt werden soll. Aber die AfD fordert das aufgrund einer alten völkischen Ideologie: Das angeblich Eigene gilt es zu bewahren, alles Fremde abzuwehren.

Die AfD würde diesen Vorwurf wohl von sich weisen und sagen, es gehe ihr nur um die Ausweisung krimineller Ausländer.

Wenn die AfD «Remigration» sagt, behauptet sie zwar, sie meine die Ausschaffung von Kriminellen oder Menschen ohne Aufenthaltstitel. Sie übernimmt dafür aber einen Tarnbegriff der völkischen Ideologie, und den prägen Leute wie Björn Höcke oder Martin Sellner. Für Sellner bedeutet «Remigration» die Vertreibung von Millionen Migranten, auch von Deutschen mit Migrationshintergrund, um eine angeblich segensreiche Homogenität herzustellen. Björn Höcke hat es in einer Rede so ausgedrückt: «Wir werden ohne Probleme mit 20, 30 Prozent weniger Menschen in Deutschland leben können.» Das wären 25 Millionen! Maximilian Krah hofft in seinem Buch «Politik von rechts – ein Manifest» darauf, dass China und Russland eine neue Ordnung herstellen, in der die universellen Menschenrechte nicht mehr gelten. Die USA als «raumfremde Macht» sollen in dieser «multipolaren Weltordnung» verschwinden. Diese drei Vordenker berufen sich auf den Juristen Carl Schmitt, der die nationalsozialistische Herrschaft legitimierte.

Die AfD war bei ihrer Gründung 2013 eine liberalkonservative Partei, die gegen den Euro war. Wie ist daraus die Partei von heute geworden?

Die völkische Rechte ist nach dem Zweiten Weltkrieg nicht verschwunden. Ihre Vordenker kommen nicht aus dem Osten, sondern vor allem aus dem Bürgertum des Westens. Das sind Leute wie Björn Höcke, Götz Kubitschek oder Gernot Mörig. Höcke erzählt, sein Vater habe 1989 vor dem Fernseher geweint, als die Bilder vom Fall der Mauer zu sehen gewesen seien.

Aus Freude?

Nein, weil Höckes Vater im Mauerfall das «Ende des deutschen Volkes» sah. Für ihn war die DDR offenbar ein von Stasi-Leuten und Sowjet-Truppen beschütztes Germanenreservat, eine «Vertrauensgemeinschaft», die nun von Fremden überrannt werde. Mörig ist seit den 1970er Jahren ein Netzwerker in völkisch-neonazistischen Kreisen. Gleichzeitig war er ein angesehener Bürger. Diese Kreise sind nur manchmal sichtbar geworden, etwa als Kritiker der Wehrmachtsausstellung. Sie haben immer eine Partei gesucht, an die sie ideologisch andocken konnten. Das ist ihnen bei der AfD schnell gelungen.

Die völkische Rechte hat mehrfach versucht, Parteien aufzubauen, mit der NPD, der DVU oder den Republikanern. Weshalb konnte sie sich in der AfD festsetzen?

Das Personal der erwähnten Parteien erweckte in einem grossen Teil des Bürgertums Abscheu. Bei der AfD war das anders. Die ersten bekannten AfD-Vertreter waren Professoren wie Bernd Lucke und Joachim Starbatty. Sie wirkten nach aussen seriös, nicht «rechts». Für die völkischen Ideologen war das ein günstiges Umfeld. Sie hatten von Anfang an die Absicht, die AfD zu kapern. Weder Lucke noch Starbatty haben das erkannt, geschweige denn bekämpft.

Sie beschreiben in Ihrem Buch, wie Vorsitzende von Frauke Petry über Jörg Meuthen die Stimmen der Völkischen genutzt haben, um Rivalen auszuschalten, bevor sie selber von den Radikalen abgesetzt wurden. Die AfD-Parteileitung wollte Höcke 2017 ausschliessen, Meuthen hat das Verfahren jedoch versanden lassen.

Das ist zentral, um die Radikalisierung der AfD zu verstehen. Es ist die wohl einzige Partei im rechten Spektrum Europas, die bisher keine Leitfigur hatte, wie Christoph Blocher in der Schweiz oder Marine Le Pen in Frankreich. Die Vorsitzenden der AfD hingegen wechselten: Lucke, Petry, Gauland, Meuthen, Weidel, Chrupalla. Es gab interne Wahlkampfschlachten, Kampf um Mehrheiten. In diesem Chaos waren die Völkischen nie die Mehrheit, aber immer die bestorganisierte Minderheit. Sie konnten dank taktischen Bündnissen Ämter besetzen und die Machtkämpfe zu ihren Gunsten drehen. Die Moderaten wussten um das Stimmenpotenzial von Höcke und haben ihn gewähren lassen. Dabei stellte die Parteileitung 2017 fest, dass er Hitler-Rhetorik verwende und dem NS-Gedankengut nahestehe.

Sie zitieren in Ihrem Buch vor allem Maximilian Krah, Björn Höcke und den identitären Vordenker Martin Sellner, der nicht AfD-Mitglied ist. Sind diese Leute wirklich repräsentativ für die ganze Partei?

Ja. Man könnte noch viele andere Namen nennen. Krah hat 2023 sein Manifest «Politik von rechts» geschrieben und ist danach als Spitzenkandidat für die Europawahl nominiert worden. Er ist nicht gewählt worden, weil er seine Ideen versteckt hat, sondern weil er sie stolz verbreitet. Von einzelnen Funktionären wurden diese illiberalen Ideen kritisiert, aber in der Basis kommen solche Duftmarken an. Etwas umstrittener ist die Hinwendung der AfD zu Russland, vor allem in Westdeutschland. Diese Position wird jedoch von einer Minderheit vertreten. Alice Weidel hat 2024 in Essen gesagt, die Ukraine gehöre nicht zu Europa. Was gehört denn sonst nicht zu Europa? Das Baltikum? Polen? Entscheidet das Frau Weidel? Egal: Das ist eine Ansage, die ankommt.

Als lesbische Frau müsste Alice Weidel in Putins Russland mit Repressalien rechnen. Ist Ihre Russland-Affinität echt, oder macht sie das, weil sie die ostdeutschen Wähler braucht?

Sie hat jedenfalls früh Kontakt gesucht zu Götz Kubitschek in Schnellroda und fand das dort alles supernett. Ich finde auch die Debatte um diese E-Mail interessant (Weidel wird vorgeworfen, sie habe 2013 geschrieben, die deutschen Regierenden seien «Schweine» und «Marionetten» der Siegermächte, Anm. d. Red.). Weidel hat zwar versucht, diese Vorwürfe wegzuklagen, aber sie hat nie ein klares Dementi abgegeben. Wenn sie die E-Mail nicht geschrieben hat, wäre das ja beweisbar. Falls sie sie geschrieben hat, war ihr die völkische Idee schon damals nicht fremd, dass Deutschland von aussen manipuliert wird. Auf jeden Fall ist sie sehr machtorientiert.

AfD-Exponenten sind auch mit Sympathien für Asads Syrien und Iran aufgefallen. Nach dem Hamas-Massaker des 7. Oktober liess Tino Chrupalla verlauten, die regionalen Mächte müssten eine Lösung finden. Gehört das auch zum Konzept einer multipolaren Weltordnung?

Ja. Der Grundgedanke ist, in Anlehnung an Carl Schmitt, dass ein ethnisch homogenes Deutschland gemeinsam mit Russland Europa dominiert und die Welt mit Mächten wie Iran und China in «Einflusssphären» teilt. Das ist sehr gefährlich. Um es mit einem Zitat aus «Herr der Ringe» auszudrücken: Sauron teilt seine Macht nicht. Ich verstehe nicht, weshalb die CDU diesen penetranten Russlandkurs der AfD nicht mehr ausschlachtet.

Vielleicht, weil sie dann ihre eigenen Versäumnisse aufarbeiten müsste? Auch die SPD hat lange einen Putin-freundlichen Kurs verfolgt, heute zeigt man auf die AfD. Das ist doch verlogen.

Die deutsche Russlandpolitik, die Gerhard Schröder angefangen und Merkel mit der SPD fortgesetzt hat, ist das grösste aussenpolitische Desaster Europas. Die kitschige Sehnsucht nach Russland ist bis heute auch in der CDU verbreitet. Aber die AfD hat das nie kritisiert und ihre prorussischen Positionen nach dem russischen Überfall sogar noch ausgebaut. Andere rechte Parteien, etwa Giorgia Meloni in Italien, haben sich auf die Seite der Ukraine gestellt. Wenn Frau Weidel glaubt, die Ukraine sei bloss eine widerspenstige Sowjetrepublik, die uns nichts angehe, täuscht sie sich. Wir sind für Russland keine Mediatoren, sondern Beute. Dies umso mehr, wenn sich die USA zurückziehen. Wer die AfD wählt, muss sich bewusst sein: Diese Partei ist der Büchsenspanner Putins.

In Ihrem Buch versuchen Sie zu ergründen, was die AfD stark gemacht hat. Sie erwähnen die überdrehte grüne Energiepolitik, schreiben aber nichts über die Schattenseiten der Migration. Das irritiert angesichts von antisemitischen Demos, Aufmärschen von Kalifats-Anhängern und Terror in Deutschland.

Ich habe ja kein Buch über Migration geschrieben. Es gibt einen naiven Blick auf diese Probleme, das ist nicht hilfreich, klar. Aber anders, als die AfD suggeriert, ist Migration nicht per se eine Bedrohung, und Einwanderungsgesellschaften sind erfolgreich. Wo ist denn der ethnisch homogene Staat, in dem alle glücklich sind? In Nordkorea?

Im Wahlkampf werden dauernd Vergleiche mit 1933 gezogen, manche warnen gar vor einem neuen Auschwitz. Ist das verhältnismässig?

Alice Weidel hat in einem Gespräch mit Elon Musk gesagt, Adolf Hitler sei ein Kommunist gewesen. Das ist genau der Punkt. Hitler war ein völkischer Ideologe und Politiker. Diese Ideologie ist in der AfD wieder präsent. Um diesen Ideen Raum zu geben, wird die Erinnerung an die Naziverbrechen verdrängt, die laut Alexander Gauland nur ein «Vogelschiss» waren. Ein Topos dieser Ideologen ist immer, dass Deutschland untergehen könne. Deutschland ist aber nur einmal wirklich untergegangen, als diese völkischen Politiker Macht bekommen haben. Deshalb steht auch die Möglichkeit eines Parteiverbots in der Verfassung. Das steht ja nicht da, weil es noch Platz hatte, sondern wegen einer historischen Erfahrung.

Müsste man die AfD verbieten?

Ich mache keine Verbote, das ist das Schöne an der Verfassung. Das machen die Gerichte. Es ist ja nicht wie in Zentralasien, wo das ein Präsident mit einem Ukas beschliesst. Das Oberverwaltungsgericht Münster hat es treffend ausgedrückt: Eine politische Zielsetzung, die aus einem ethnokulturellen Volksbegriff entsteht und die Gleichheit der Staatsbürger infrage stellt, ist verfassungswidrig.

«Correctiv» hat 2024 eine Recherche über ein «Geheimtreffen» in Potsdam veröffentlicht, welche die Verbotsdiskussion befeuerte. Mittlerweile bezweifeln selbst Medien wie die «Zeit», dass die Grundthese von «Correctiv» stimmt: dass AfD-Anhänger in Potsdam die massenweise Ausweisung von Migranten und deutschen Staatsbürgern geplant hätten.

Sagen wir es so: Die Teilnehmer, welche die «Zeit» zitiert, sind erwischt worden, als sie die Finger in der völkischen Keksdose hatten. Sie haben noch überall Krümel auf dem Hemd und sagen jetzt: «Damit hatten wir nichts zu tun.» Das zentrale Thema des Treffens sei die «Remigration», sagte zu Anfang der Veranstaltung der Gastgeber Mörig, damit das Volk im Abendland überleben könne. Man hatte Martin Sellner eingeladen, der in einem Buch schreibt, das Wichtigste sei die Erhaltung der ethnokulturellen Identität. Sellner schlug dann «Remigration» für «nichtassimilierte Staatsbürger» über «Anpassungsdruck» wie «massgeschneiderte Gesetze» als «Jahrzehnteprojekt» vor. Wenn man an eine Veranstaltung geht, zu der ein Neonazi einlädt und auch Rassisten und Rechtsextreme kommen, kann man natürlich behaupten, davon habe man nichts gewusst. Aber warum hat keiner der Teilnehmer interveniert und gesagt: «Halt, ich möchte nur über den Missbrauch des Asylrechts diskutieren»?

In Ihrem Buch plädieren Sie dafür, enttäuschte AfDler wieder in der Gesellschaft willkommen zu heissen, wie einst verirrte Linksradikale und alte Nazis. Ist das realistisch? Schon der gemässigte Bernd Lucke wurde nach seinem Austritt aus der AfD als Nazi beschimpft und unter dem Applaus von Linken angepöbelt.

Mitglieder der AfD müssen tatsächlich damit rechnen, dass man ihnen nie verzeiht, im Sinne von: einmal AfD, immer Nazi. Ich finde das falsch, weil die Bundesrepublik gezeigt hat, dass sie solche Leute integrieren kann.

Marcus Bensmann / «Correctiv»: Niemand kann sagen, er hätte es nicht gewusst. Die ungeheuerlichen Pläne der AfD. Verlag Galiani, Berlin 2024. 255 S., 22 €.

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