Die Anleger haben eingesehen, dass die amerikanische Notenbank vorerst für keine weiteren Rekorde an der Börse sorgen wird. Umso stärker klammern sie sich an andere Quellen der Hoffnung.
Börsianer sind seltsame Geschöpfe. Über Monate hielten sie sich an der übertriebenen Erwartung fest, dass die amerikanische Notenbank Fed den Leitzins 2024 bis zu sechs oder sieben Mal senken würde. Der US-Aktienmarkt erklomm neue Rekordwerte, obwohl die Inflation in den USA deutlich über dem Zielwert von 2 Prozent lag.
Das Fed wartet, die Zinsen steigen
Erst nachdem auch die März-Inflation höher als erwartet ausgefallen war und der Notenbankchef Jerome Powell baldigen Zinssenkungen eine klare Absage erteilt hatte, setzte sich die Erkenntnis durch, dass die Zinsen länger hoch bleiben werden. Inzwischen gehen zwei Drittel der Marktteilnehmer für 2024 nur noch von einer bis zwei Senkungen um je 0,25 Prozentpunkte aus. Jeder sechste erwartet gar, dass das Leitzinsband auf dem aktuellen Stand von 5,25 bis 5,5 Prozent bleibt.
Die Zinsen für US-Staatsanleihen haben sich in der Folge wieder merklich erhöht. Das hat Konsequenzen: Die USA müssen mehr für ihren Schuldendienst bezahlen, und der amerikanische Häusermarkt droht erneut einzufrieren, weil die sehr hohen Hypothekarzinsen – für dreissigjährige Kredite werden wieder mehr als 7 Prozent Zins fällig – potenzielle Käufer abschrecken.
An den Aktienmärkten hält sich die Enttäuschung jedoch in Grenzen, die Kurskorrektur ist moderat. Der S&P 500, der wichtigste amerikanische Börsenindex, liegt seit Jahresbeginn noch immer mehr als 5 Prozent im Plus. Normalerweise reagieren die Anleger heftiger, wenn ihnen sicher geglaubte Zinssenkungen vorenthalten werden. Warum nicht diesmal?
KI, die zweite Quelle der Zuversicht
Der Hauptgrund ist simpel: Die amerikanische Wirtschaft läuft besser als zu Jahresbeginn erwartet. Björn Eberhardt, Leiter Investment Office der Luzerner Kantonalbank, verweist auf die guten Abschlüsse der amerikanischen Unternehmen – gegen Ende 2023 und auch bisher im ersten Quartal 2024. «Auch der Hype um künstliche Intelligenz hat den Aktienmarkt gestützt zu einer Zeit, als die Renditen auf Anleihen bereits gestiegen sind.»
Diesen Support werden die Märkte fortan nicht mehr haben, im Gegenteil. Die Anleger würden zusehends erwarten, sagt Eberhardt, dass den Ankündigungen von 2023 bald reale Gewinne folgten. Im Fokus stehen die «Magnificent Seven», die sieben grossen Tech-Unternehmen, die für das jüngste Rekordhoch des amerikanischen Aktienmarkts massgeblich verantwortlich waren. Von Interesse sei etwa Nvidia; der Chiphersteller wird seine Quartalszahlen indes erst in vier Wochen präsentieren.
Die Abschlüsse anderer Tech-Giganten aus dem Kreis der «glorreichen sieben» haben diese Woche deutlich gemacht, wie sehr die Hoffnung auf Milliardengewinne dank KI die Finanzmärkte prägt. Das Fazit bleibt zwiespältig.
Meta enttäuscht, Alphabet liefert
Mark Zuckerbergs Meta-Konzern, der die sozialen Netzwerke Instagram und Facebook betreibt, überraschte am Mittwoch zwar positiv bei Umsatz und Gewinn; die Online-Werbemärkte spülen viel Geld in die Kasse. Doch schockte Zuckerberg die Anleger mit dem Eingeständnis, dass Meta noch viel mehr als erwartet in seine KI-Pläne investieren muss, bevor sich Gewinne einstellen. Die Aktie brach sofort um 15 Prozent ein.
Die Vorgeschichte erklärt diese scharfe Reaktion: Vor 18 Monaten dümpelte die Meta-Aktie noch bei unter 100 Dollar vor sich hin. Damals zeichnete sich ab, dass Zuckerbergs Wette auf das «Metaversum» scheitern würde. Die Konsumenten hatten keine Lust, in Metas virtueller Parallelwelt Zeit totzuschlagen und dabei Geld auszugeben.
Ab Ende 2022 erfasste mit der Lancierung von Chat-GPT der KI-Boom die Märkte, was Zuckerberg ganz zupasskam. Meta verwandelte sich nun in ein KI-Unternehmen, und die Investoren glaubten die Story. Metas Aktienkurs schoss in etwas mehr als einem Jahr auf über 500 Dollar hoch. Und wer hoch fliegt, kann auch tief fallen.
Doch hat es diese Woche auch Anzeichen dafür gegeben, dass hinter dem KI-Hype mehr steckt als nur hohe Erwartungen. Deutlich besser als Meta schnitten nämlich zwei andere Tech-Schwergewichte ab: Alphabet und Microsoft übertrafen am Donnerstag nachbörslich die Gewinnerwartungen deutlich. Sie verzeichneten in ihrem Cloud-Geschäft Fortschritte, und ihre KI-Pläne scheinen auf Kurs zu sein. Am Freitag legten vor allem die Alphabet-Titel deutlich zu. Die Anleger zeigten sich erfreut, dass der Google-Mutterkonzern erstmals eine Dividende zahlen will.
Die Portemonnaies der Amerikaner leeren sich
Der Druck auf die «Magnificent Seven» bleibt aber gross, einfach weil ihre Bewertungen derart hoch sind. Anastassios Frangulidis, Head of Swiss Multi Asset bei Pictet Asset Management, erwartet denn auch, dass sich die Balance zwischen den «Magnificent Seven» und dem Rest wieder neu einstellen wird. Diese weiteren Unternehmen hätten die Phase stagnierender Gewinne von 2023 überwinden können. Die gegenwärtige Entwicklung des S&P 500 stütze sich insofern auf ein breiteres Fundament als zuvor, was positiv zu werten sei.
Die Achillesferse dieser neuen Erzählung ist der amerikanische Konsument. Er hält die Wirtschaft des Landes derzeit am Laufen. Die Amerikaner fragen ungemein viele Dienstleistungen nach und stützen so die Konjunktur und die Firmengewinne; sorgen aber auch für die weiterhin erhöhte Inflation. Alle Welt fragt sich daher, was passiert, sollten die Amerikaner aufhören, im Restaurant ihre Kreditkarten zu zücken.
Bis jetzt halten sie sich noch nicht zurück: Am Donnerstag vermeldete das Department of Commerce, dass die amerikanische Wirtschaft im ersten Quartal um 1,6 Prozent gewachsen ist. Erwartet wurden zwar 2,4 Prozent. Doch Anastassios Frangulidis sagt, dass die privaten Konsumausgaben, die wichtigste Komponente, stark geblieben sind.
Dennoch könnte der Konsumrausch bald enden. Frangulidis verweist darauf, dass die Sparquote in den USA derzeit bei nur 3,6 Prozent liegt – «das ist der zweittiefste Wert in der Geschichte». Die Amerikaner brauchen zurzeit ihr Erspartes auf, so dass die Konsumdynamik bald nachlassen dürfte – und damit mittelfristig auch der Inflationsdruck bei den Dienstleistungspreisen.
Erst das Fed und Amazon, dann Apple
Apropos Inflation: Das Augenmerk der Märkte gilt bereits wieder dem Fed, das am 1. Mai seinen nächsten Zinsentscheid vorstellen wird. Es gilt als ausgemacht, dass das Zinsband bei 5,25 bis 5,5 Prozent gehalten wird. Doch wartet man gespannt auf Signale, wie scharf seine Abkehr von der über Monate angekündigten Lockerungspolitik ausfallen wird.
«Jerome Powell befindet sich in einer schwierigen Situation», sagt Frangulidis, «nachdem er zweimal in den vergangenen Monaten eine Kehrtwende eingelegt hat.» Im vergangenen Dezember habe er mit optimistischen Aussagen die Aussicht der Märkte auf starke Zinssenkungen im Jahr 2024 geschürt, vergangene Woche habe er diese Position revidiert.
Das Fed will einen weiteren Inflationsschub wie 2021 um jeden Preis vermeiden. Die Aussichtslage für die kommenden Monate scheint damit klar: Jerome Powell wird die Märkte nicht bei Laune halten. Wenn bald auch die Konsumenten zu schwächeln beginnen, müssen Mark Zuckerberg und die anderen Tech-Bosse umso mehr liefern. Die nächste Woche liefert weitere Hinweise, ob sie diesen Erwartungen standhalten. Dann stellen Amazon (am Dienstag) und Apple (am Donnerstag) ihre Quartalszahlen vor.