Montag, November 25

In den kommenden Wochen werden die Schweiz und die EU wohl ein Stromabkommen schliessen. Dieses gäbe es schon lange, wenn es nach der Industrie ginge. Die Schweizer Konsumenten werden sich bei der Wahl des Versorgers künftig mehr Gedanken machen müssen.

Die Schweiz hält gerne etwas Distanz zu ihren europäischen Nachbarn. Umgekehrt aber gibt es Bereiche, wo diese das Land mit offenen Armen aufnähmen. Besonders der Fall ist das bei der Elektrizität.

Energiefirmen in der EU wünschen sich beinahe sehnlichst, dass die Schweizer Stromfirmen am Binnenmarkt teilnehmen. «Die Schweiz hier als schwarzes Loch zu behandeln, wäre fatal», sagt Peter Scheerer, der Experte für europäische Angelegenheiten bei Transnet BW, einem Netzbetreiber in Baden-Württemberg mit 11 Millionen Kunden.

Das ist gleichsam die Einheitsmeinung in der EU. «Mehr Integration im Strommarkt verbessert die Versorgungssicherheit in Europa», sagt etwa auch Andreas Schwab, EU-Parlamentarier der CDU.

Jahrelange Verhandlungen ohne Ergebnis

Was wirtschaftlich und technisch sinnvoll wäre, ist politisch bislang aber misslungen. Ein Stromabkommen zwischen der Schweiz und der EU kam nie zustande, obwohl sie bereits zwischen 2007 und 2018 darüber verhandelten. Die Gespräche scheiterten, unter anderem an politischen Dauerbrennern: Man wurde sich nicht einig, ob die Schweiz neues EU-Recht automatisch übernehmen muss und wie allfällige Differenzen beigelegt werden sollen.

Nun laufen seit März wieder Gespräche. Ein Stromabkommen soll Teil einer neuen bilateralen Übereinkunft werden, welche die Schweiz und die EU anstreben.

Ein Stromabkommen machte den europäischen Markt für Elektrizität effizienter und würde allgemein die Transaktionskosten senken. Bereits heute ist die Schweiz mit dem europäischen Strommarkt zwar auf vielfältige Weise verbunden, aber sie ist nicht voll in ihn integriert.

Das gestaltet den Austausch von Informationen und letztlich Strom kompliziert. Dabei ist gerade eine nahtlose Kommunikation zwischen den Netzbetreibern die Voraussetzung für einen funktionierenden Markt.

Um eine sichere Versorgung mit Strom zu gewährleisten, müssen die europäischen Stromanbieter beispielsweise ihre grenzüberschreitenden Netzkapazitäten koordinieren. Diese können kleiner oder grösser sein, je nachdem, ob Kraftwerke oder Stromleitungen gerade revidiert werden oder wie hoch der Anteil erneuerbarer Energie ist.

Heute koordiniert der Netzbetreiber Swissgrid die Stromflüsse mit seinen europäischen Geschäftspartnern im Rahmen von privatwirtschaftlichen Verträgen. Es gibt die Übereinkunft mit dem Verbund Italy North, der Italien, Frankreich, Österreich und Slowenien umfasst, und seit kurzem auch eine mit der Koordinationsgruppe Core. Sie setzt sich aus dreizehn Ländern zusammen, die nördlich und östlich der Schweiz liegen.

Die Verträge mit den Koordinationsgruppen weisen allerdings eine begrenzte Laufzeit auf, müssen also immer wieder neu ausgehandelt werden. Falls die Schweiz und die EU ein Stromabkommen schlössen, wäre die Schweiz bei diesen Koordinationsgruppen automatisch dabei, und die Kooperation wäre völkerrechtlich abgesichert.

«Da die Schweiz zentral in Europa liegt und über starke Netzanbindungen zu den Nachbarn verfügt, ist Koordination im Strombereich essenziell», sagt Wolfgang Urbantschitsch, der Chef der österreichischen Regulierungsbehörde E-Control. «Ein Abkommen würde diese Koordination wesentlich vereinfachen und ist deshalb wünschenswert.»

Das ist der eine Grund, warum die europäische und zu einem grossen Teil auch die Schweizer Stromwirtschaft auf ein Abkommen drängen.

Schweizer Wasserkraft als Energiespeicher

Darüber hinaus haben europäische Energiefirmen auch ein wirtschaftliches Interesse an einer Übereinkunft. Je mehr in Europa die Wind- und die Solarenergie ausgebaut wird, desto volatiler ist die Stromproduktion. Manchmal herrscht Flaute, etwa an der Nordsee, so dass weniger Windkraft auf den Markt gelangt, dann gibt es wieder Phasen von Überproduktion. Dies drückt die Preise.

Laut einem deutschen Strommanager hat es an den europäischen Strombörsen noch nie so viele Stunden mit negativen Preisen gegeben wie im laufenden Jahr. Für Schweizer Wasserkraftbetreiber sei das eine Geschäftschance, meint er. Sie würden für das Hochpumpen von Wasser in die Speicherkraftwerke zusätzlich bezahlt. In den Abendstunden könnten die Schweizer Unternehmen dann Strom nach Deutschland exportieren. Das wirkt im Nachbarland preissenkend, die Haushalte und Firmen profitieren.

Die EU fordert von der Schweiz die Liberalisierung

In der Schweiz gilt ein Stromabkommen derweil als ein politisch heikles Thema. Stromfirmen erhielten den freien Marktzugang in die EU, umgekehrt fordert diese aber die Liberalisierung des Schweizer Marktes im Sinne eines «level playing field». Auch Schweizer hätten dann die Möglichkeit, den Stromlieferanten frei zu wählen.

In der Schweiz befindet sich die Stromwirtschaft in öffentlichem Besitz. Die Bande zwischen Politik und Stromwirtschaft sind eng; Kritiker finden, dass sich die beiden Sphären zu stark überschneiden. So entsteht ein Interessenkonflikt: Eigentlich muss es das Anliegen der Politik sein, dass die Haushalte und Firmen von günstigen Stromtarifen profitieren. Gleichzeitig nimmt die Verwaltung mit Elektrizität aber Geld ein. Eine Liberalisierung bräche solche Strukturen auf.

Strom gilt in der Schweiz allerdings als Service public, den viele für ein Heiligtum halten. Entsprechend betrachten sie eine Liberalisierung mit Skepsis: Manche, weil sie glauben, privates Kapital habe in einer Schlüsselinfrastruktur nichts zu suchen, andere sehen es möglicherweise als mühsam an, den Stromversorger selber zu wählen.

Doch was die Europäer schaffen, sollten auch die Schweizer zustande bringen: einen Vertrag mit einem privaten Anbieter abschliessen. Zumal es in der Schweiz wie in den EU-Ländern weiterhin eine Grundversorgung geben wird, über die sich die Haushalte einfach mit Elektrizität versorgen lassen können.

Niedrigere Strompreise in der Schweiz?

Trotzdem kann die Liberalisierung des Strommarkts für die Kunden mit Mühsal verbunden sein. In Österreich beispielsweise haben in den ersten neun Monaten 2024 nur 3,4 Prozent der Stromkonsumenten den Anbieter gewechselt, in den Niederlanden waren es dagegen über 20 Prozent.

Die österreichische Wettbewerbsbehörde führt die geringe Wechselrate auf die kompliziert verfassten Verträge zurück, durch die es vielen Kunden schwerfalle, die Angebote zu vergleichen. Zudem agiere fast kein Stromunternehmen national, was die Wettbewerbsintensität beschränke.

Urbantschitsch hat die Österreicher deshalb vor kurzem erneut dazu aufgerufen, den Anbieter häufiger zu wechseln und den Wettbewerb so anzuheizen. Die Folge wären dann auch niedrigere Preise.

Solche stellt Martin Koller, der Strategiechef des Schweizer Energieunternehmens Axpo, auch den Schweizer Stromkunden in Aussicht. «Langfristig gesehen werden die Strompreise mit einem Stromabkommen in der Schweiz niedriger sein als in einem Szenario ohne einen solchen Vertrag», sagt er. Allerdings mit einer Einschränkung, die bei solchen Prognosen immer gilt: ceteris paribus, also unter sonst gleichbleibenden Bedingungen.

Europas Stromwirtschaft ist für eine institutionalisierte Kooperation bereit. Wenn es nach den Elektrizitätsfirmen ginge, gäbe es längst ein Abkommen, sagt ein Manager. Der Bremsklotz war bisher die EU-Kommission. Wahrscheinlich im Dezember werden die Schweizer erfahren, wie die neue bilaterale Übereinkunft mit der EU aussehen wird – inklusive Stromabkommen.

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