Donnerstag, Oktober 3

Gefährdet die Biodiversitätsinitiative die Ernährungssicherheit? Warum sich diese Frage erübrigt.

Gefährdet die Biodiversitätsinitiative die Ernährungssicherheit? Befürworter und Gegner der Vorlage werden sich bis zur Abstimmung am 22. September auch in dieser Frage nicht einig werden. Der Initiativtext ist so formuliert, dass die Bauern vom Schlimmsten ausgehen müssen. Für die Biodiversität zur Verfügung gestellte Landwirtschaftsflächen, so die Befürchtung, würden faktisch zu No-Go-Areas für Mensch und Maschinen.

Die Bauern sorgen sich vor allem um die Fruchtfolgeflächen. Diese Böden haben das höchste landwirtschaftliche Ertragspotenzial – und sind von existenzieller Bedeutung für das Land. Im Kriegsfall oder bei einer schweren Mangellage sind sie die Grundlage, um die Selbstversorgung der Schweiz sicherstellen zu können. Die Sicherung der Fruchtfolgeflächen ist mit mehreren Artikeln in der Bundesverfassung verbrieft.

Bevölkerungszahl von 2013

Wären aber die Bauern überhaupt noch fähig, sich innert nützlicher Frist in eine Anbauschlacht zu stürzen, wenn die wertvollen Fruchtfolgeflächen in der Zwischenzeit in Schmetterlings- und Bienenhabitate umfunktioniert worden wären? Die Antwort auf diese Frage erübrigt sich. Die Anbauschlacht ist heute schon verloren.

Geht es um die Fruchtfolgeflächen und das Thema Ernährungssicherheit hantiert der Bund mit längst überholten Zahlen. Die Beamten im Bundesamt für Raumentwicklung (ARE) rechnen immer noch mit einer Bevölkerungszahl von 8,14 Millionen. Diese Zahl entspricht der ständigen Wohnbevölkerung von Ende 2013. Heute, gut zehn Jahre später, ist die 9-Millionen-Grenze bekanntlich überschritten. Knapp eine Million Mäuler mehr, die der Staat im Krisenfall gar nicht stopfen könnte – Biodiversitätsinitiative hin oder her.

Dass der Bund seinen Verfassungsauftrag zur Landesversorgung (Art. 102) womöglich nicht erfüllen kann, wird vom ARE bestritten. Das Gegenteil sei der Fall. Im vergangenen November liessen die nationalen Raumplaner verlauten: «Die Schweiz hat genügend gute Ackerböden für die Ernährungssicherheit.» Die Fruchtfolgeflächen stünden zwar unter Druck. Der «Raumbedarf der Gesellschaft» nehme zu, räumte man ein – wobei das Wort Zuwanderung tunlichst vermieden wird. Gemäss einem 2020 fertiggestellten Sachplan sei die Ernährungssicherheit für die Schweizer Bevölkerung aber im Krisenfall gesichert – alles basierend auf einer Bevölkerungszahl von 8,14 Millionen Einwohnern.

Insgesamt könnten auf knapp 446 000 Hektaren Fruchtfolgeflächen genügend Kartoffeln, Getreide, Raps und Zuckerrüben angepflanzt werden, um den Kalorienbedarf pro Tag und Schweizer auch in einer schweren Mangellage decken zu können. Die Schweiz, schrieb das ARE damals stolz, sei das einzige Land, das seine Fruchtfolgeflächen für den Krisenfall sichere. Der im Sachplan festgelegte Mindestumfang werde gar um 7220 Hektaren überschritten. Das entspreche der Fläche der Gemeinde Frutigen.

Dass dieser Vorrat durch das Bevölkerungswachstum von gut 10 Prozent in den letzten zehn Jahren längst aufgebraucht wäre, blendet man aus. Es stimme nicht, dass es schweizweit zu wenig Fruchtfolgeflächen gebe, schreibt das ARE auf Anfrage. «Es sind nicht nur die derzeitige Wohnbevölkerung zu berücksichtigen, sondern auch aktuelle Daten zu den Erträgen und den wirtschaftlichen Anbaumethoden sowie weitere Faktoren.» Immerhin hat das ARE auch ein Faktenblatt zu den Fruchtfolgeflächen herausgegeben, worin man sich implizit auf die Bevölkerungszahl von Ende 2022 stützt. Aber auch diese 8,8 Millionen sind in der Zwischenzeit überholt.

Zur Verteidigung der Bundesbeamten könnte man ins Feld führen: So rasant, wie die Schweizer Bevölkerung wächst, kann keine Verwaltung Berichte aktualisieren – geschweige denn neue verfassen. Hinzu kommt, dass auch das Erfassen der Fruchtfolgeflächen nicht einfach ist. Hier kann es zwischen den Kantonen zu Unterschieden in der Methodik und Qualität der Zahlenerhebung kommen. Gleichzeitig erstaunt die Starrheit der Annahme.

Bund prüft neue Berechnungen

Die Bevölkerungszahl von 2013 stammt ursprünglich aus einer Potenzialanalyse des Bundesamts für wirtschaftliche Landesversorgung. Man wollte prüfen, wie autark die hiesige Nahrungsmittelversorgung im Krisenfall sein würde. Für die damaligen Berechnungen, aus denen bis heute verschiedene politische Forderungen abgeleitet werden (etwa die Verringerung des Fleischkonsums), wurde «eine konstante Bevölkerungszahl» angenommen.

Die Erfahrung zeige, dass der Ertragszuwachs auch dank Fortschritten in der Produktion mit der wachsenden Bevölkerungszahl Schritt halten könne, schrieben die Autoren der 2017 erschienenen Analyse. «Inwieweit dies auch in Zukunft möglich sein wird, kann nicht abgeschätzt werden.»

Heute, unter dem zuständigen Bundesrat Albert Rösti, ist sich das ARE immerhin bewusst geworden, dass die «stark wachsende Bevölkerung» auch Auswirkungen auf den Mindestumfang der Fruchtfolgeflächen haben kann. Das Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung prüfe den Einfluss der Zuwanderung und plane neue Berechnungen, hiess es jüngst in einer Antwort auf eine Interpellation des SVP-Nationalrats Mike Egger. Man wartet gespannt und hofft, dass die Zahlen bis zu einem neuen Berechnungsansatz nicht schon wieder obsolet sind.

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