Donnerstag, Oktober 10

Autoritäre Regime bestimmen, was im Nahen Osten und in Osteuropa geschieht. Wie kann der Westen die Initiative zurückgewinnen?

Die Öffentlichkeit empört sich, wenn ein israelischer Luftangriff auf die Hamas zivile Opfer fordert. Die Verzweiflung und die Trauer der Menschen im Gazastreifen sind unübersehbar, schon das Mitleid diktiert eine Reaktion. Weniger plakativ sind die fundamentalen Machtverschiebungen im Nahen Osten. Darauf fallen die Reaktionen des Westens bedeutend träger, beinahe gleichgültig aus. Seine Gegner profitieren davon.

Drei Ereignisse zeigen, wie sich die Welt verändert hat – zu Ungunsten der USA und ihrer Verbündeten, namentlich Israels. Während der Invasion im Irak 2003 war die Dominanz der amerikanischen Streitkräfte erdrückend. Im Libanonkrieg 2006 beherrschte die israelische Luftwaffe das Schlachtfeld; und 2011 stürzte eine Koalition den libyschen Diktator Ghadhafi.

Es herrschte kein Zweifel daran, wer überlegen war. Amerikanische Politiker versprachen den arabischen Völkern Schutz vor ihren Tyrannen, Demokratie und echte Staatlichkeit. Sie klangen wie europäische Kolonialisten, die hundert Jahre zuvor den «Orientalen» Zivilisation und die Überwindung ihrer Rückständigkeit verheissen hatten.

Und heute? Die westlichen Lautsprecher sind leiser geworden. Die Erfolge der schiitischen Vormacht Iran und ihrer Hilfstruppen sind evident. Ihre Militärschläge gelten Israel, doch eigentlich richten sie sich gegen den Hegemonen USA. Iran hat die Initiative an sich gerissen, der Westen verhält sich passiv.

Die Angst vor einer Eskalation lähmt Washington

Zwar konnte Israel den letzten iranischen Grossangriff mit 300 Raketen und Drohnen abwehren. Aber seither verstummen die Zweifel nicht, ob die Luftverteidigung standhält, wenn der Hizbullah Tausende von Projektilen mit viel kürzeren Vorwarnzeiten abfeuert. Bereits drohen die Schiiten in Teheran und Beirut mit dem nächsten Angriff.

Als Vorgeschmack veröffentlichte der Hizbullah triumphierend Bilder, die eine Drohne vom wichtigsten israelischen Militärhafen in Haifa aufgenommen hatte. Die jemenitischen Huthi, iranische Verbündete, die lange als primitive Sandalen-Krieger abgetan wurden, töteten mit einer Drohne einen Zivilisten in Tel Aviv.

Früher hatten die Israeli Angst vor Syrien, Ägypten oder Jordanien, ihren direkten Nachbarn. Heute sind ihre Feinde 2500 Kilometer entfernt und gleichwohl zu einem tödlichen Schlag fähig.

Die israelische Luftwaffe ist formidabel, doch ihre Herrschaft über den Himmel ist nicht mehr unangefochten. Die Iraner besitzen zwar nur schrottreife Kampfflugzeuge; dank dem technischen Fortschritt in der Drohnen- und Raketentechnologie kompensieren sie dieses Manko. Ihren palästinensischen Handlangern gelang zudem, was seit dem Jom-Kippur-Krieg vor fünfzig Jahren undenkbar schien: eine Invasion Israels.

Noch immer sind Stärken und Schwächen asymmetrisch verteilt, aber heutzutage ist das oft zum Vorteil des Unterlegenen. Eine Langstreckendrohne kostet maximal 50 000 Dollar. Das Projektil, das sie abfängt, kann fast hundertmal so teuer sein, bis zu 4 Millionen. Israels Mittel sind nicht unerschöpflich. Der Hightech-Kampf treibt es mehr denn je in die Abhängigkeit von Amerika.

Die Autonomie des jüdischen Staates nimmt ab, während sich Washington auf China konzentriert. Um Israel zu unterstützen, muss das Pentagon eilends den Flugzeugträger «Abraham Lincoln» aus dem Pazifik in den Nahen Osten verlegen. Die U.S. Navy schrumpft seit Jahrzehnten. Es fällt ihr daher schwer, die Abschreckung auf allen Schauplätzen gleichzeitig aufrechtzuerhalten.

Teheran schuf hingegen eine Hydra: Hamas, Hizbullah, Huthi und die schiitischen Milizen im Irak. Sie alle sind kein echter Gegner für die amerikanische und israelische Kriegsmaschinerie. Doch in ihrer Addition ergeben sie einen Machtfaktor, der den Nahen Osten transformiert.

Am Tag nach der Invasion der Hamas begann der Hizbullah seine Raketenangriffe, die den israelischen Norden unbewohnbar machten. Die Atommacht Israel und Iran, die Atommacht im Wartestand, befinden sich in einem konventionellen Krieg.

Begonnen hat ihn Teheran, ausgeführt wird er von seinen Handlangern. Die Mullahs aber leugnen die Verantwortung und verschanzen sich hinter der angeblichen Selbständigkeit ihrer Satelliten.

Als Israel in Beirut Fuad Shukr, den Militärchef des Hizbullah, tötete und in Teheran den Hamas-Führer Ismail Haniya, war man in Amerika empört. Präsident Biden klagte, die Eskalation erschwere die Verhandlungen mit der Hamas.

Dabei hat Washington eine Belohnung von fünf Millionen Dollar für die Ergreifung von Shukr ausgesetzt. Er gehört zu den Hintermännern des Attentats, dem im Jahr 1983 in Beirut 243 Marines zum Opfer fielen. Ausserhalb der USA forderte kein anderer Anschlag mehr amerikanische Leben. Shukr rangiert damit direkt hinter der von Amerika eliminierten Terror-Prominenz wie Usama bin Ladin oder Abu Bakr al-Baghdadi.

Dass Washington nicht mehr Enthusiasmus zeigte, als ihm Israel den Kopf des Erzschurken Shukr auf dem Silbertablett lieferte, verdeutlicht das Ausmass des Problems. Amerika und seine Verbündeten fürchten die Eskalation so sehr, dass ihre Verteidigungsfähigkeit darunter leidet. Besonders laut beschwört Europa die Bedrohung durch einen Flächenbrand, der sich – zusammen mit der Ukraine und Taiwan – zum Weltkrieg oder gar zum atomaren Inferno ausweitet.

Ohne die Bereitschaft zur Offensive gibt es keine Abschreckung

Dabei ist etwas anderes viel gefährlicher als die herbeigeredete Apokalypse. Iran, aber auch Russland verschieben die geopolitischen Gewichte. Sie rüsten unablässig auf und steigern auf andere Weise ihre Kampffähigkeit, etwa durch das Konzept teilautonomer Hilfstruppen. Zugleich gehen sie grössere Risiken ein als ihre Gegenspieler.

Teheran will keinen unkalkulierbaren Showdown, weshalb es sich mit seinem Gegenschlag nach der Tötung Haniyas Zeit lässt. Aber seine Satelliten üben permanent Druck auf Israel aus und nehmen Kollateralschäden wie die Tötung drusischer Kinder im Golan in Kauf. Die Strategie der Nadelstiche funktioniert, solange sich Washington nur halbherzig wehrt und zugleich Israel Fesseln anlegt.

Washington hofft, Teheran durch eine erhöhte Militärpräsenz in der Region von einem Angriff auf Israel abzuhalten. Es ist jedes Mal dasselbe: Iran agiert, Amerika reagiert. Am Ende ist der Westen so in der Defensive, dass sich das nur mit einem gewaltigen Kraftakt korrigieren lässt.

Die USA versuchen nicht, die Initiative zurückzugewinnen, indem sie den iranischen Ölexport stören. Ungehindert verlassen die Tanker den Persischen Golf, während die Raketenangriffe der Huthi den Schiffsverkehr durch den Suezkanal um 75 Prozent einbrechen liessen. Ohne die Bereitschaft zur begrenzten Offensive gibt es keine glaubwürdige Abschreckung.

Auch Moskau testet den westlichen Verteidigungswillen, etwa durch die Drohung mit Atomschlägen, und es baut seine Offensivkraft aus. Nachrichtendienste gehen davon aus, dass Russland mehr Munition produziert, als es verschiesst. Seine Militärausgaben betragen inzwischen über sieben Prozent des Bruttoinlandprodukts. Die Streitkräfte sollen von einer Million Mann Anfang 2022 auf anderthalb Millionen wachsen. Russland ist das neue Sparta.

Putin kann sich aussuchen, wo er die Nato als Nächstes herausfordert. Die Allianz muss sich dann genau überlegen, wie sie auf einen gestärkten und kampferprobten Gegner reagiert.

Auch ohne den ganz grossen Krieg ist die Welt nicht mehr dieselbe. Präsident Biden fördert die Machtverschiebung durch Zögerlichkeit. Seine aussenpolitische Bilanz fällt seit dem überstürzten Abzug aus Afghanistan negativ aus. Jetzt ist er bereit, die Hamas an der Macht zu lassen, um möglichst bald ein Ende der Kämpfe zu erreichen. Damit zerstört er jede Aussicht auf echten Frieden, denn mit den Islamisten gibt es keine Zweistaatenlösung und keinen Wiederaufbau des Gazastreifens.

Amerikaner und Europäer liefern Kiew nur das Nötigste. Für die Waffen gelten restriktive Einsatzregeln. Putin soll nicht provoziert werden, daher legt man auch der Ukraine künstliche Fesseln an. Erneut verhindert die Angst vor dem Weltkrieg eine wirksame Verteidigung. Ein Waffenstillstand rückt so in weite Ferne. Angesichts der Übervorsicht seiner Gegner in Washington oder Berlin hat Russland keinen Anreiz für Verhandlungen.

Solange der Westen das Heft des Handelns nicht zurückgewinnt, bestimmen Aggressoren wie Moskau und Teheran, was auf der Welt geschieht. Frieden und Freiheit dient das nicht.

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