Dienstag, März 18

Die Kulturszene leidet unter den erratischen Entscheidungen und drastischen Budgetkürzungen von Javier Milei. Sogar das Kulturministerium wurde aufgelöst. Die Branche wehrt sich.

Jedes Jahr besucht mehr als eine Million Menschen die Buchmesse in Buenos Aires. In den knapp drei Wochen werden jedes Jahr alle Rekorde gebrochen, die Bücherkäufe steigen, der Zulauf zu den Veranstaltungen ebenso, Autoren signieren oft stundenlang ihre Bücher, und Schulklassen drängeln sich zwischen den Ständen. An Wochenenden kommt man nur schrittweise vorwärts.

Das ist nicht mehr selbstverständlich, nachdem der selbsternannte «anarchokapitalistische» Präsident mit der Kettensäge bei seinem Amtsantritt vor vier Monaten einen wortgewaltigen Angriff gegen sämtliche Kulturinstitutionen führte. Subventionen wurden drastisch gekürzt oder gleich vollends gestrichen. Die Liste ist lang: Theater, Kino, bildende Künste, Wissenschaft und Technik, selbst die Unterstützung für Projekte der Nuklearforschung wurde reduziert.

Das Institut gegen Diskriminierung und Xenophobie: gestrichen; das Kulturministerium: aufgelöst, da es der «kommunistischen Indoktrination» gedient habe. Der Staatssekretär für Kultur blieb der Eröffnung der Buchmesse fern, und erstmals in 48 Jahren fehlten die Stände der Regierung und der Zentralbank. Das hatte nicht einmal die Militärdiktatur gewagt.

Dennoch wollte Javier Milei sein neuestes Buch, «Kapitalismus, Sozialismus und die neoklassische Falle», auf der Buchmesse präsentieren. Doch der Messedirektor Alejandro Vaccaro antwortete, indem er den Lieblingssatz des Präsidenten zitierte: «Es gibt kein Geld!» Die Aufwendungen für die Sicherheit wären zu hoch gewesen.

Nach einer tagelangen Polemik entschied Milei, seine Buchpremiere auf Ende Mai und in den Luna-Park zu verlegen. Er weiss, dass viele Intellektuelle gegen ihn sind, und wollte wohl einem Pfeifkonzert auf der Messe entgehen. Auch passt der Luna-Park besser zu ihm: Dort fanden legendäre Boxkämpfe oder Radrennen statt.

Veränderungen sind unvermeidbar

Seit Mileis Amtsantritt sind alle Preise sprunghaft gestiegen, sie wurden oft vervier- oder verfünffacht: Strom, Gas, Wasser, Benzin, Grundnahrungsmittel, das Metroticket, Medikamente. Der Fleischkonsum brach um 20 Prozent ein, aber auch der Verkauf von Milch ging drastisch zurück. Die jetzt schon erschreckend hohe Zahl unterernährter Kinder wird weiter zunehmen.

Die Gesellschaft ist gespalten: Ein Teil rebelliert und geht auf die Strasse; ein anderer gibt sich gelassen und zuversichtlich, denn Milei hat im Wahlkampf angekündigt, dass harte Einschnitte nötig würden, bevor es aufwärtsgehe. Er hat auch tatsächlich die Inflation reduziert. Sie liegt derzeit bei etwa 8 Prozent – monatlich!

Alle wissen, dass Veränderungen unvermeidbar sind. Nur: Wie sollen sie erfolgen? Als Rosskur oder in abgewogenen Schritten, da die Gehälter ja nicht im gleichen Mass steigen? Die Politik Mileis optiert für drastische Massnahmen, desgleichen will er «das Land verscherbeln» und ruiniert dabei die in Argentinien starke Mittelschicht. Abstiegsängste breiten sich aus, der Durchschnittsbürger braucht mehrere Jobs, um irgendwie über die Runden zu kommen. Er erinnert sich an den ersten Ausverkauf der Reichtümer des Landes, den die Militärs verantworteten. Die Folge war eine Inflation von 370 Prozent. Den zweiten Ausverkauf tätigte der neoliberale Präsident Carlos Menem, nach dessen Regierungszeit schlitterte Argentinien 2001 in den Staatsbankrott.

Soeben stellte Milei eine Büste von Carlos Menem im Regierungssitz auf und verkündete feierlich: «Der beste Präsident, den Argentinien je hatte, ob es sie schmerzt oder nicht.» Die Erinnerung an den damaligen Zusammenbruch nach seiner zehnjährigen Amtszeit haftet aber noch im Gedächtnis. Dennoch ist Milei davon überzeugt, dass eine weitere Schocktherapie notwendig ist, um das Land aus der Misere zu führen. «Sind wir jetzt die Versuchskaninchen seiner anarcholiberalen Entscheidungen?», fragen sich viele Bürger. Warum all diese verbalen und politischen Provokationen?

Es fehlt nicht an Deutungen, um sein erratisches Vorgehen einzuordnen: Versteht sich der geborene Katholik Milei, der zum Judentum übertreten will, als Messias? Erst auf die Kreuzigung folgt die Auferstehung, die Erlösung kommt nach dem Leid. Also muss sich das Volk gedulden.

Das Elend ist unübersehbar

Doch wie soll man einen Präsidenten ernst nehmen, der mit seinem toten Hund redet, den er gleich viermal hat klonen lassen? Die Argentinier empfehlen dringlich einen Besuch beim Psychoanalytiker. Mileis Schwester Karina, die er El Jefe, Boss, nennt, legt Tarotkarten und berät den Präsidenten. Ihr Einfluss sei enorm, heisst es.

Manche von Buenos Aires’ Einwohnern glauben bereits, in einer Stadt des Schreckens zu leben, in der die Polizei keine Verbrechen verhindert, aber den Bettlern die Matratze wegzieht und ihre wenige Habe konfisziert. Gerade findet man sie überall, das Elend ist unübersehbar. Argentinien, jahrzehntelang die «Kornkammer der Welt», kann seine Bevölkerung nicht mehr ernähren. Vor den Suppenküchen, deren Mittel ebenfalls gekürzt wurden, während die Bedürftigkeit rasant zunimmt, stehen lange Schlangen, ganze Familien bitten verzweifelt um Hilfe.

Auf der stolzen Prachtstrasse Florida werden alle fünf Meter Dollar zum Tausch angeboten, Billigläden haben die noblen Geschäfte ersetzt. Überall die Schilder: Ratenkauf möglich. In vier Monaten gab es zwei Warnstreiks. Als Milei jedoch die Mittel für die Universitäten kürzte und ihnen in der Folge das Licht buchstäblich ausging, rebellierte ganz Argentinien. Am 23. April fand der grösste Protestmarsch der jüngeren Geschichte statt, Hunderttausende zogen durch die Strassen in Buenos Aires, Mendoza, Córdoba oder Rosario.

Die Universidad de Buenos Aires, die grösste und eine der besten Lateinamerikas, ist für Milei vor allem ein Hort kommunistischer Querköpfe. Es schien, als habe er einen blinden Fleck, denn er übersah, dass die kostenlosen Universitäten von der gesamten Gesellschaft geschätzt werden und sie das nationale Selbstverständnis geprägt haben. Es gibt 2,8 Millionen Studierende, fast 200 000 Dozenten, verteilt auf etwa 2000 Universitäten und Hochschulen. Auf 10 000 Einwohner kommen 557 Studenten, mehr als in jedem anderen lateinamerikanischen Land.

Die Hochschulen haben Argentinien auch zu einem Land leidenschaftlicher Leser und begeisterter Anhänger kultureller Ereignisse gemacht. Auf der Calle Corrientes, die seit einhundert Jahren nie schläft, wie es heisst, steht ein Theater neben dem anderen. Die Veranstalter haben sich neue Formate ausgedacht: Oft werden drei kurze Stücke nacheinander gespielt, unterbrochen von Pausen.

Die älteste Buchhandlung, die seit 200 Jahren bestehende Librería del Colegio, steht im Zentrum von Buenos Aires, ein paar Häuserblocks von der Casa Rosada, dem Amtssitz des Präsidenten, entfernt. Man findet neben Novitäten wertvolle Erstdrucke etwa von Borges und auch ein modernes Antiquariat.

Es gibt Zuversicht

Die grösste Buchhandlung Lateinamerikas, El Ateneo Grand Splendid, war 1903 ein prachtvolles Theater auf dem Boulevard Santa Fe, später ein Filmpalast. In dem seit 2000 bestehenden Laden kann man noch um Mitternacht einkaufen, und in den ehemaligen Theaterlogen stehen Lesesofas. Exzellente Buchhandlungen gibt es überall in Buenos Aires. Sie zeugen von der Lesefreude seiner Bewohner.

Man kann das auch auf der Buchmesse beobachten: Gruppen von zwei oder drei jungen Menschen nehmen ein Buch in die Hand, sprechen darüber und legen es dann zur Seite. Denn für einen Kauf fehlt das Geld. Daher stehen auch hier überall die Schilder: Ratenkauf möglich, drei monatliche Zahlungen ohne Aufschlag.

Die Buchhandlungen beklagen einen Rückgang von 30 bis 40 Prozent in den letzten zwei Monaten, denn Bücher sind teuer wegen der hohen Papier- und Druckkosten, oft sogar teurer als in Spanien. Immerhin gibt die Messeleitung zuversichtlich stimmende Zahlen bekannt: Es kamen deutlich mehr als eine Million Besucher, nur knapp 10 Prozent weniger als im Vorjahr. Der Rückgang im Verkauf betrug allerdings 20 Prozent – was wiederum wie ein Wunder scheint und den Kulturschaffenden neuen Optimismus verleiht: Milei wird den Kampf gegen sie nicht gewinnen.

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