Sonntag, Oktober 6

Mit dem Erstflug der neuen Trägerrakete hat Europa bald wieder einen eigenen Zugang zum Weltraum. Aber zu welchem Preis?

«Zwei neue Satelliten ergänzen die Galileo-Konstellation» – mit dieser Überschrift feierte die Europäische Weltraumorganisation ESA kürzlich die Erweiterung des europäischen Satelliten-Navigationssystems Galileo. Der Pferdefuss folgte im ersten Absatz der Pressemitteilung. Dort erfuhr man, dass die beiden Satelliten mit einer Falcon-9-Rakete von SpaceX in den Weltraum befördert worden waren. Für die auf Autonomie pochende ESA war das ein peinlicher Moment.

Solche Verlegenheitslösungen dürften bald der Vergangenheit angehören. Am 9. Juli soll die europäische Ariane-6-Rakete mit vierjähriger Verspätung zu ihrem Erstflug aufbrechen. Die Erwartungen an die Nachfolgerin der Ariane 5 sind gross. Sie soll endlich die Raketenkrise beenden, in der sich die ESA seit der Ausmusterung der Ariane 5 im vergangenen Jahr befindet.

In Zukunft sollen europäische Satelliten mit strategischer Bedeutung wieder mit europäischen Trägerraketen in den Weltraum gebracht werden. Zudem möchte die Vermarkterin der europäischen Rakete, das Unternehmen Arianespace, Marktanteile zurückgewinnen, die es in den vergangenen Jahren an SpaceX und andere kommerzielle Anbieter von Raketenstarts verloren hatte.

Ob das gelingt, ist ungewiss. Für die ersten 30 Flüge der Ariane 6 liegen zwar bereits Buchungen vor. Trotzdem ist die Ausgangslage für die Ariane 6 schwierig. Und das liegt nicht nur daran, dass die Entwicklung der vier Milliarden Euro teuren Rakete länger gedauert hat, als es ursprünglich vorgesehen war. Die ESA muss sich zudem die Frage gefallen lassen, warum sie sich für eine Rakete entschieden hat, die nicht wiederverwendet werden kann und deshalb teurer ist als die Raketen der Konkurrenz.

Europa muss etwas tun, um wettbewerbsfähig zu bleiben

Der Entscheid zum Bau der Ariane 6 fiel im Jahr 2014. «Die Ariane 5 hatte damals eine sehr gute Stellung im Markt, war aber teuer», sagt Daniel Neuenschwander, der bei der ESA die Abteilung für menschliche und robotische Exploration leitet. Es sei klar gewesen, dass Europa etwas tun müsse, um wettbewerbsfähig zu bleiben.

Neuenschwander war damals Delegationsleiter der Schweiz, die sich zusammen mit Luxemburg die Präsidentschaft im ESA-Ministerrat teilte. Die ESA habe damals zwei Vorgaben für die neue Rakete gemacht. Zum einen sollte sie nur halb so teuer sein wie die Ariane 5, zum anderen sei es darum gegangen, mit europäischer Technologie einen unabhängigen Zugang zum Weltraum sicherzustellen. Europa wollte nicht länger von russischen Sojus-Raketen abhängig sein, die damals im Auftrag der EU die Galileo-Satelliten ins Weltall beförderten.

Dem Entscheid für die Ariane 6 seien Auseinandersetzungen zwischen Deutschland und Frankreich vorausgegangen, erinnert sich Neuenschwander. Während Deutschland die Ariane 5 weiterentwickeln wollte, habe Frankreich auf den Bau einer komplett neuen Rakete gedrängt. Beide Länder hätten damals versucht, der heimischen Industrie Vorteile zu verschaffen.

Nach schwierigen Verhandlungen einigte man sich auf einen Kompromiss. Die Ariane 6 besteht aus drei Raketenstufen. Die Hauptstufe besitzt ein Triebwerk, das in ähnlicher Form bereits für die Ariane 5 verwendet wurde. Für die Oberstufe wurde ein neues Triebwerk entwickelt, das sich mehrmals zünden lässt. Das erlaubt es, mehrere Satelliten in verschiedenen Orbits auszusetzen. Zudem kann die Oberstufe nach Beendigung ihrer Mission in die Erdatmosphäre gelenkt werden, wo sie verglüht. Die ESA macht damit vor, wie sich Weltraumschrott vermeiden lässt.

Die Hauptstufe wird je nach Bedarf durch zwei oder vier Feststoffraketentriebwerke ergänzt, die beim Start zusätzlichen Schub erzeugen. Während die Ariane 62 vor allem mittelschwere Nutzlasten wie die Galileo-Satelliten in den Weltraum bringen soll, ist die Ariane 64 für schwerere Satelliten und spätere Frachtflüge zum Mond ausgelegt. Damit deckt die Ariane 6 ein ähnlich breites Segment von Nutzlasten ab wie die Sojus und die Ariane 5 zusammen.

SpaceX macht vor, wie man Raketen wiederverwendet

Das grösste Manko der Ariane 6 ist, dass sie nicht wiederverwendbar ist. Dabei zeichnete sich im Jahr 2014 bereits ab, wohin die Entwicklung geht. Im Juni 2010 hatte die Falcon 9 von SpaceX ihr Debüt gefeiert. Fünf Jahre später gelang es nach mehreren Fehlschlägen zum ersten Mal, die erste Stufe dieser Rakete heil zur Erde zurückzubringen. Seither hat SpaceX die vertikale Landung perfektioniert. Manche Erststufen der Falcon 9 sind inzwischen zwanzig Mal geflogen. Und die Zeitabstände zwischen zwei Flügen werden immer kürzer.

Das hat SpaceX zur unbestrittenen Nummer 1 im Raketenbusiness gemacht. Im vergangenen Jahr absolvierte die Firma fast hundert Flüge – und das zu Preisen von 67 Millionen Dollar pro Flug, das entspricht 62 Millionen Euro. Damit kann die Konkurrenz nicht mithalten. Ein Flug der Ariane 62 wird voraussichtlich um die 90 Millionen Euro kosten. Die Ariane 64, die ähnlich grosse Nutzlasten transportieren kann wie die Falcon 9, ist sogar noch teurer. Damit wurde das ursprüngliche Ziel verfehlt, die Kosten zu halbieren. Mittlerweile ist man froh, wenn die Kosten um 40 Prozent gegenüber der Ariane 5 gesenkt werden können.

Die Wiederverwendbarkeit sei 2014 an der Ministerratstagung der ESA in Luxemburg durchaus ein Thema gewesen, sagt Neuenschwander. Die ESA habe sich aber dagegen entschieden. Einer der Gründe dafür sei gewesen, dass man die Industriefähigkeit Europas erhalten wollte. Die Nachfrage nach Raketen sei in Europa kleiner als in den USA. «Am Bau der Ariane 6 sind heute rund 600 Firmen quer durch Europa beteiligt. Die hätte man nicht gebraucht, wenn man sich für eine wiederverwendbare Rakete entschieden hätte, die vielleicht zehnmal pro Jahr fliegt», so Neuenschwander. «Insofern ist die Ariane 6 auch ein Förderprogramm für die europäische Industrie.»

Ob die ESA heute noch einmal so entscheiden würde, ist fraglich. Im Jahr 2020 sagte der französische Wirtschaftsminister Bruno Le Maire am Rande einer Tagung: «Im Jahr 2014 gab es eine Weggabelung, und wir haben nicht den richtigen Weg gewählt. [. . .] Wir hätten uns für die wiederverwendbare Trägerrakete entscheiden sollen. Wir hätten diese Kühnheit haben sollen.»

Ein unabhängiger Zugang zum Weltraum hat seinen Preis

Bei der Beurteilung der Ariane 6 gilt es zu bedenken, dass diese Rakete nicht nur aus ökonomischen Gründen gebaut wurde. Die vier Milliarden Euro, die man in die Entwicklung gesteckt hat, sind auch politisch motiviert. In der Raumfahrt sei ein Trend zur Nationalisierung zu beobachten, sagt Neuenschwander. Deshalb sei es für Europa so wichtig, einen unabhängigen Zugang zum Weltraum zu haben.

Diese Botschaft scheint allerdings noch nicht bei allen europäischen Satellitenbetreibern angekommen zu sein. So hat die Europäische Organisation für die Nutzung meteorologischer Satelliten (Eumetsat) vor wenigen Tagen bekanntgegeben, ihr neuster Wettersatellit werde Anfang 2025 nicht mit einer Ariane 6, sondern mit einer Rakete von SpaceX in den Weltraum gebracht. Gründe dafür gab Eumetsat nicht bekannt.

Einen ungünstigeren Zeitpunkt hätte Eumetsat für diese Ankündigung kaum wählen können. Entsprechend erbost sind die Reaktionen. So fordert Arianespace von der EU gesetzliche Regelungen, die sicherstellen sollen, dass europäische Missionen in Zukunft mit europäischen Trägerraketen und Technologien von europäischen Anbietern gestartet werden.

Umgekehrt empfängt Arianespace ausländische Kunden mit offenen Armen. Zum Beispiel die amerikanische Firma Amazon, die in den nächsten Jahren ein Satelliten-basiertes Kommunikationssystem namens Kuiper im Weltraum errichten will. Von den rund 80 Flügen, die dafür nötig sind, hat Amazon 18 bei Arianespace gebucht. Dass Amazon bereit ist, einen höheren Preis zu zahlen als bei SpaceX, hat damit zu tun, dass Kuiper in direkter Konkurrenz zum Starlink-Satellitensystem von SpaceX steht.

Wirtschaftlich ist die Ariane 6 kaum konkurrenzfähig

In einigen Jahren könnte die Situation allerdings anders aussehen. Denn mit Sicherheit wird der Markt für Raketenstarts noch kompetitiver. Neue Privatfirmen drängen auf den Markt. Und SpaceX entwickelt mit dem Starship eine Rakete, die noch viel leistungsfähiger sein wird als die Falcon 9 oder die Ariane 6. Glaubt man Analysten, dürften die Transportkosten bald unter tausend Dollar pro Kilogramm Fracht fallen. Da kann die Ariane 6 nicht mithalten.

An ihrer Ministerratstagung in Sevilla hat die ESA im November vergangenen Jahres auf diese Entwicklung reagiert. Sie kündigte einen Wettbewerb für europäische Raketenhersteller an. Bis zur nächsten Ministerratskonferenz im Jahr 2025 sollen bis zu drei Projekte ausgewählt werden, die dann aus dem Etat der ESA gefördert werden.

Mit dem Wettbewerb vollzieht die ESA eine Kehrtwende, die die Nasa bereits vor langer Zeit gemacht hat. Die europäische Weltraumorganisation will in Zukunft nicht mehr selber Raketen entwickeln, sondern als Kunde Dienstleistungen beziehen. «Die Ariane 6 ist mit Sicherheit die letzte europäische Rakete, die nach dem alten Modell gebaut wird», sagt Neuenschwander.

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