Das Gesetz zur nationalen Sicherheit, das Festlandchina 2020 in Hongkong einführte, wirkt sich auch auf die Auswahl auf der Kunstmesse aus.
An der Queen’s Road in Hongkongs hektischem Geschäftsviertel Central ballen sich die Menschentrauben vor einer Glasfront. Hinter den grossen Scheiben im Innern der Galerie Hauser & Wirth tritt man sich gegenseitig auf die Füsse. Es ist Vernissage wie überall in der Stadt kurz vor Eröffnung der Art Basel Hong Kong.
Gezeigt werden neue Bilder des afroamerikanischen Künstlers Glenn Ligon – grosse weisse und schwarze Leinwände. Erst auf den zweiten Blick kann man darauf Schriftzeichen erkennen. Buchstaben tauchen auf aus dem Monochrom, die sich vor dem Auge zu Sätzen zusammenfügen. Es geht um Rassismus. Es sind Statements zu schwarzer Identität, zur «Black Lives Matter»-Bewegung. Das ist politische Kunst. Und das ist kein Problem in Hongkong. Es betrifft ja nicht China.
Der Motor des Kunstmarkts brummt wieder auf Hochtouren. Die Kunstmesse Art Basel findet zum ersten Mal seit Covid wieder in alter Grösse statt. Die internationalen Galerien in der Stadt haben wieder potente Ausstellungsprogramme aufgefahren. Dies trotz dem Gesetz zur nationalen Sicherheit, das Festlandchina 2020 in Hongkong einführte. Soeben wurde es nochmals verschärft. Und ermöglicht den Führern in Peking, beliebig gegen all diejenigen vorzugehen, deren freie Meinungsäusserung ihnen nicht passt.
Seitdem haben zahlreiche Kunstschaffende die Stadt verlassen. In Hongkong galt das Prinzip «Ein Land, zwei Systeme». Im Gegensatz zum autoritär-sozialistischen Regime in Festlandchina wurde in der chinesischen Sonderverwaltungszone ein demokratisch-marktwirtschaftliches System gepflegt. Dazu gehörte auch ein Grundrecht auf künstlerische Ausdrucksfreiheit. Das alles ist nicht mehr selbstverständlich.
Dass die Kunstfreiheit eingeschränkt sei, davon will man aber bei der Art Basel nichts wissen. «Ich kenne keinen Fall von Zensur durch die Behörden auf der Messe, der Markt entfaltet sich ungehindert auf internationalem Niveau», sagt Art-Basel-CEO Noah Horowitz. Die Galerien würden sich nach wie vor zum Standort Hongkong als wichtigstem Kunst-Hub Asiens bekennen. Die Bedeutung der Stadt als einer der führenden Marktplätze Asiens sei ungebrochen.
Respekt gegenüber Peking
Seit der Gründung des Art-Basel-Ablegers 2013 gilt Hongkong als das asiatische Dorado für den Markt mit Gegenwartskunst. Dem Renommee der internationalen Kunstmesse folgten grosse Galerien wie Zwirner, Gagosian, Pace oder Hauser & Wirth nach Hongkong. Damals fasste auch der Schweizer Geschäftsmann und ehemalige China-Diplomat Uli Sigg den Beschluss, einen Grossteil seiner Sammlung chinesischer Gegenwartskunst Hongkong zu übergeben – als eine Art Restitution.
Siggs Entscheid für Hongkong war nicht zuletzt mit seinen Bedenken bezüglich Festlandchinas restriktiver Kulturpolitik begründet. Seine über Jahrzehnte in Chinas Untergrundszene gesammelten Werke bilden heute den Kernbestand des von den Schweizer Architekten Herzog & de Meuron erbauten Museums für chinesische und internationale Gegenwartskunst M+. Die Bedeutung dieses Museums für Hongkong ist kaum zu überschätzen. Das M+ gilt als Leuchtturm in der Kulturlandschaft Asiens.
Ob Hongkongs kulturelle Signalwirkung in Peking noch etwas zählt? Bisher sah die chinesische Führung im Norden für die südliche Stadt am Perlflussdelta stets die Rolle einer florierenden Metropole vor, zu der auch ein kulturell attraktives Angebot beitragen soll. Hongkong ist zentral gelegen im asiatisch-pazifischen Raum, eine Steueroase und ein international bestens vernetzter Finanzplatz.
Diese Bedeutung als Tor zur Welt und insbesondere auch zum freien Westen ist gefährdet. Denn wo die rote Linie verläuft bezüglich Meinungsfreiheit – und für den Kunstmarkt insbesondere bezüglich Kunstfreiheit –, das müssen jetzt die internationalen Galeristen, die westlichen Messebetreiber und lokalen Kuratoren der Kunstinstitutionen in der Stadt selber herausfinden.
«Wir sind einfach gehalten, die Regierung in China zu respektieren», bringt die Galeristin Henrietta Tsu-Leung das Problem auf den Punkt. Mit ihrer Galerie Ora-Ora ist sie seit Beginn an der Art Basel vertreten. Als Mitbegründerin des Hongkonger Galerienverbands kennt sie das Ökosystem der lokalen Galerienszene.
Mit der Zensurbehörde habe man es bisher nicht zu tun bekommen, beteuert sie. Man sei aber vorsichtig. Und bringt den Vergleich mit dem Westen, wo heute ein hohes Mass an Sensibilität gefordert sei, was die LGBTQ-Szene oder Themen bezüglich Rassismus betreffe. «Hier ist es nun eben die Führung in China.»
Risiken will niemand eingehen. Die Auslegeordnung auf der diesjährigen Art Basel nahm sich im Vergleich zu früheren Jahren ausgesprochen zahm aus. Es dominierte dekorative Wohnzimmer-Kunst. Aufgewertet wurde das Bild mit grossen Künstlernamen aus dem Westen: Picasso, Morandi, Schiele – unverfängliche Kunst zu exorbitanten Preisen.
Selbstzensur im M+
Wie viel Vorsicht lässt man neuerdings bei der nichtkommerziellen Kunstinstitution Tai Kwun Contemporary walten? Die 2019 eröffnete Kunsthalle bildet zusammen mit dem M+ einen wichtigen Gegenpol zum Kunsthandel in der Stadt. Auch jetzt kann man eine starke Ausstellung sehen. Die Gruppenschau «Green Snake» wird ausschliesslich von Künstlerinnen bespielt. Sie nimmt sich solcher Themen wie Imperialismus und Kolonialismus an, auch mancher Aspekte wirtschaftlicher und ökologischer Krisen sowie des Klimawandels. Das hat einiges politisches Sprengpotenzial.
Die Kuratorin Xue Tan, die demnächst die Leitung als Hauptkuratorin im Haus der Kunst in München antreten wird, hofft, dass solche Ausstellungen weiterhin möglich seien. «Allerdings müssen wir in heutigen Zeiten wie viele Kunstinstitutionen auf der Welt über Selbstzensur nachdenken», relativiert sie. In Hongkong sei dies besonders schwierig, weil das Gesetz zur nationalen Sicherheit sehr abstrakt gehalten sei.
Der internationale Erfolg von Tai Kwun verdankte sich bisher dem Mut ihrer Kuratoren, Kunstfreiheit hochzuhalten. Das zeigte sich in der vor wenigen Jahren präsentierten Schau «Violence of Gender», in der es um Sexualität und Gewalt ging – beides Tabuthemen in Festlandchina, wo eine Kunstauffassung vorherrscht, die traditionell auf Harmonie setzt.
Zu einer solchen Vorstellung von Kunst in krassem Gegensatz steht die Sammlung Sigg. Sie umfasst viele Werke politischer und gesellschaftskritischer Kunst. Für die Eröffnungsausstellung im M+ Ende 2021 gab es kaum Restriktionen. Selbst Arbeiten von Ai Weiwei waren vorgesehen. Die Sigg Collection hat nun allerdings bereits die zweite Hängung. Und Selbstzensur wird nun sichtbar. Peking-kritische Werke sind weitgehend verschwunden. So sucht man Ai Weiweis erhobenen Mittelfinger vor dem Tiananmen-Platz vergebens.
1989 wurden auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking Studentenproteste gewaltsam niedergeschlagen. Das Tiananmen-Massaker war Gegenstand eines Kunstwerks auf dem Universitäts-Campus von Hongkong – das einzige Mahnmal in ganz China für die Menschen, die damals in Peking ums Leben gekommen waren. Die acht Meter hohe Skulptur mit dem Titel «Säule der Schande» stammte vom dänischen Künstler Jens Galschiøt. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion wurde das Denkmal entfernt. Das war Selbstzensur der Hongkonger Regierung.
Davon verschont blieb bisher die Kunstplattform Para Site. Gegründet 1996 von einer Gruppe junger Kunstschaffender, gehört der dynamische Kunstort mit seinen wechselnden Schauplätzen in der Stadt zu den ältesten Einrichtungen für junge Kunst in Hongkong. Para Site wird finanziell unterstützt von der Stadtregierung. Für den Inhalt der Ausstellungen sei aber allein das Kuratorium zuständig, versichern die Behörden.
Das ist Voraussetzung für diese experimentierfreudige und innovative Plattform. Billy Tang, der die Leitung 2022 übernommen hat, vergleicht das gegenwärtige Klima in der Stadt mit der Zeit der Gründung von Para Site. Das war kurz vor der Rückgabe Hongkongs an die Volksrepublik China nach über 150 Jahren britischer Kolonialherrschaft.
Damals herrschte eine Stimmung der Unsicherheit und des Umbruchs. Das sei heute nicht viel anders. Alles in Hongkong sei eben dauernd im Fluss, meint er. Und Para Site habe solche Veränderungen immer auf irgendeine Art mitreflektiert. «Wir sind, wie der Name sagt, Parasiten dieser Dynamik Hongkongs.»
Ob Para Site heute Selbstzensur übe? Tang meint dazu ausweichend, wer mit progressiver Kunst arbeite, sei dauernd mit der Frage konfrontiert, wie Normen gebrochen, Konventionen verletzt und Grenzen überschritten würden. Seiner Ansicht nach ist das die grosse Herausforderung von Gegenwartskunst. «Den kreativen Möglichkeiten sollten keine Grenzen auferlegt werden», sagt er. Und fügt an, wenn Para Site international eine Stimme haben wolle, sei künstlerische Freiheit wichtig.
Kunstfreiheit, so scheint es, ist in Hongkong ein besonders wertvolles Gut geworden. Noch ist Yue Min Juns Meisterwerk «Die Freiheit führt das Volk» im M+ ausgestellt. Die freiheitsliebenden Männer auf dem Bild, das 1995 in Anlehnung an Delacroix’ berühmte Vorlage entstanden ist, preschen lachend voran, auch wenn sie dabei über am Boden liegende Leichen im Vordergrund steigen müssen. Auch der Kunstmarkt floriert zurzeit frei und ohne namhafte Hürden. In den ersten Messetagen konnte die Galerie Hauser & Wirth ein Werk von Willem de Kooning für 9 Millionen US-Dollar verkaufen.