Freitag, Februar 28

Geschichte einer spektakulären Ausbruchsserie.

Esad Yousuf (Name geändert) versucht seine Flucht zu erklären. Neun Monate ist es her, dass er und drei Mitinsassen aus dem Massnahmenzentrum in Uitikon ausgebrochen sind. Nun erzählt der 20-jährige Syrer der Richterin am Bezirksgericht in Dietikon, weshalb er unbedingt rauswollte. Er sagt: «Ich war seit 2021 in einer Massnahme in einer geschlossenen Einrichtung. Es war für mich nicht länger auszuhalten.»

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Da sei das Eingesperrtsein gewesen, die Kontrolle durch die Betreuer und Sozialpädagogen. «Man ist die ganze Zeit unter Druck, man wird für die kleinsten Dinge bestraft.»

«Was wollten Sie auf der Flucht machen?», fragt die Richterin. «Wir hatten keinen wirklichen Plan», antwortet Yousuf. «Einfach irgendwohin, wo ich mich auskenne.»

Der Ausbruch der vier jungen Männer ist der Höhepunkt einer spektakulären Serie von Entweichungen aus dem Massnahmenzentrum, in dem straffällige männliche Jugendliche und junge Erwachsene einsitzen. Innerhalb eines Jahres gelingt es Insassen drei Mal, aus der etwas ausserhalb der Gemeinde Uitikon gelegenen Anstalt auszubrechen und zu flüchten.

Der Ausbruch mit dem Tischbein

Die Serie beginnt am 2. Juli 2023. Zwei Jugendliche werfen Gegenstände durch einen Raum des Massnahmenzentrums. Die Aufseher fühlen sich bedroht, ziehen sich in ein Büro zurück, wie es später in einem Bericht heissen wird. Als sie allein sind, schlagen die Teenager ein Fenster auf dem Dach des Gebäudes ein – mit Billardkugeln. Dann springen sie hinunter und klettern über den Zaun, der um das Gebäude gelegt ist.

Drei Wochen später kommt es zu einem weiteren Vorfall. In der Nacht vom 23. Juli 2023 entweichen zwei weitere junge Männer. Auch sie werden wieder gefasst.

Und schliesslich kommt der Abend des 8. Mai 2024,als Esad Yousuf entweicht. Seine Flucht beginnt in der Küche. Es ist 19 Uhr, und die Insassen des Massnahmenzentrums Uitikon sollen sich an diesem Abend bereitmachen für den Einschluss in ihrer Zelle. Yousuf, drei Jugendliche und drei Aufseher befinden sich im Raum.

Ein Blick ist das Signal zum Loslegen. Einer von Yousufs Mitinsassen stösst einen vor ihm stehenden Tisch mit beiden Händen um und wirft einen Stuhl in Richtung der drei Aufseher. Diese flüchten aus dem Raum, einer der Häftlinge wirft den Betreuern noch ein Tischset und eine Gabel hinterher.

Daraufhin verbarrikadieren sie die Türe zum Zimmer, in dem sich die Aufseher verschanzen. Yousuf schiebt einen grossen Tisch sowie einen metallenen Wagen vor die Türe. Dann wirft er noch drei Stühle hinterher. Zudem beschädigen seine Kompagnons in der Küche Tische, Stühle, Wände, den Kühlschrank und weitere Gegenstände. Den Schaden beziffern die Verantwortlichen des Massnahmenzentrums später auf 37 000 Franken.

Das Ziel der vier jungen Insassen: sich Zeit für die Flucht verschaffen.

Die Lukarne der Anstalt dient ihnen als Ausstieg. Das Dachfenster befindet sich direkt neben jenem, welches die Häftlinge 2023 für ihre Flucht nutzten. Dahinter ist der Aufenthaltsraum für eine der drei Wohngruppen im Massnahmenzentrum.

Die flüchtenden Jugendlichen benutzen ein abgerissenes Tischbein, um das Fenster einzuschlagen. Zudem zerstören sie die darüber angebrachte Überwachungskamera. Die alte Fluchtroute ist allerdings verstellt. Sie wählen deshalb einen neuen Weg: Entlang eines Schneefängers hangeln sich die vier seitwärts über das Dach und überwinden so den Zaun, der nach wenigen Metern unterhalb der Dachkante an der Gebäudewand endet.

Eine Stunde nach ihrer Flucht brechen drei der jungen Männer in ein Gartenhaus ein. Sie schlagen eine Fensterscheibe ein und treten die Türe zu einem Geräteschuppen ein. Dort suchen sie nach Verbandsmaterial, um die beim Ausbruch erlittenen Verletzungen zu verarzten. Ganz ohne Probleme kommen sie also nicht raus.

Drei Ausbrüche in einem Jahr: Das sorgt für Schlagzeilen. Und für eine politische Debatte. Bürgerliche Politiker fordern im kantonalen Parlament von der Zürcher Justizdirektorin Jacqueline Fehr, die Sicherheit in der Anstalt zu verbessern. «Solche Vorfälle dürften nicht einfach hingenommen werden, weil man jugendliche Straftäter nur mit Samthandschuhen anfassen will», halten sie in einer Erklärung fest. Die Zürcher Bevölkerung habe schliesslich ein Recht, vor jugendlichen Kriminellen geschützt zu werden.

Die Behörden kündigen an, die Vorfälle abzuklären und die Institution auf Schwachstellen zu untersuchen. Und sie ergreifen bauliche Massnahmen. Der Weg über das Dach ist seither mit einer Rolle Nato-Draht versperrt. Zudem wurden auch die Fenster der geschlossenen Abteilung, die aus Sicherheitsglas bestehen, mit einem Gitter zusätzlich verstärkt.

Gefängnis und ein Landesverweis

Weit kommen die vier Ausbrecher nicht. Bei Esad Yousuf endet die Flucht nach wenigen Stunden in Schlieren. Zusammen mit einem Mithäftling betritt er eine Garage, die nicht verschlossen ist. Sie setzen sich in das dort abgestellte Auto und fahren los. Doch dann werden sie gestoppt. Der letzte Ausbrecher wird knapp zwei Wochen nach der Flucht erwischt.

Esad Yousuf kommt in ein Gefängnis, seit Anfang November 2024 sitzt er im vorzeitigen Strafvollzug. Seine Rolle beim Ausbruch hat er eingestanden. Mit der Staatsanwaltschaft hat er einen Deal geschlossen, diese erhob Anklage im abgekürzten Verfahren gegen ihn – wegen Meuterei, Sachbeschädigung, Hausfriedensbruch sowie der Entwendung eines Motorfahrzeugs und Diebstahls.

Zur Richterin sagt Yousuf, er könne sein Verhalten nicht rechtfertigen. Er bereue, was er getan habe. «Aber ändern kann ich es nicht mehr.»

Das Bezirksgericht in Dietikon hat dem Urteilsvorschlag am Donnerstag zugestimmt. Der 20-jährige Syrer wird mit einer Freiheitsstrafe von 14 Monaten sowie einer Busse von 300 Franken bestraft. Zudem wird er für fünf Jahre des Landes verwiesen und im Schengener Informationssystem ausgeschrieben.

Für das Gericht ist die vorgeschlagene Strafe angemessen. Die Richterin sagt zu Yousuf: «Es war eine spontane Flucht ohne lange Vorbereitungszeit. Es war ein chaotisches Vorgehen, aber auf den Aufnahmen sieht man ein eindrückliches physisches Vorgehen.» Esad Yousufs Rolle bezeichnet die Richterin als eher untergeordnet. Er sei aber trotzdem aktiv gewesen. Der Landesverweis sei zwar nicht obligatorisch, aber verhältnismässig.

Auch gegen die anderen Ausbrecher laufen noch Verfahren. Weil die Ausbrecher noch minderjährig waren, werden die Untersuchungen von den zuständigen kantonalen Jugendanwaltschaften geführt.

Einen Plan für die Zukunft hat Esad Yousuf nicht. Zuerst brauche er einen Ort, an dem er legal leben könne. «Dann will ich irgendwann ein ganz normales Leben führen, heiraten, arbeiten und finanziell stabil sein. Ich bin flexibel.»

Urteil DH 250 003 vom 27. 2. 25.

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