Montag, Oktober 7

Die Schweiz und ihre Grenzen: Die Hälfte der Einwohner von Annemasse pendelt nach Genf. Was bleibt von Annemasse übrig? Eine Reportage.

Christian Dupessey steht an diesem Mittwochmorgen auf einem kleinen Marktplatz in Annemasse. Annemasse liegt an der Grenze zu Genf, ist mit Genf verwachsen. Und Dupessey ist seit 2008 der Bürgermeister, ein Sozialist, 78 Jahre alt. Am Markt verteilt er Flyer für den lokalen linken Kandidaten bei den nationalen Parlamentswahlen.

Dupessey winkt den Leuten zu, lächelt und rollt die Hemdsärmel hoch. Es bleiben wenige Tage bis zur Wahl. Dupessey wird von den Passanten mit «Bonjour, Monsieur le Maire» begrüsst – Guten Morgen, Herr Bürgermeister.

Annemasse hat 40 000 Einwohner, und die Hälfte der berufstätigen Bevölkerung arbeitet in der Schweiz. Bis ins Zentrum von Genf sind es acht Kilometer. Die Städte sind in den vergangenen Jahren zu einer urbanen Region zusammengewachsen, zu einer grenzüberschreitenden Metropole. Geografisch, wirtschaftlich, kulturell fliesst alles ineinander. Genf ist das Zentrum, Annemasse die Banlieue.

Die Schweiz und ihre Grenzen: Geschichten von den Rändern des Landes

Die Schweiz sitzt mitten in Europa. Ihre fünf Nachbarn wirken bis tief ins Innere des Landes: sprachlich, politisch, kulturell. Wie grenzt man sich ab? Wie nähert man sich an? In unserer Sommerserie reisen wir an besondere Orte entlang der Grenze.

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In Genf gibt es mehr Arbeitsplätze, die besseren Löhne, das grössere Kulturangebot. In Annemasse ist das Leben günstiger, es gibt freie Wohnungen. Der Bürgermeister Christian Dupessey sagt, seine Stadt drohe zum «Schlafsaal» Genfs zu werden. «Wenn wir uns nicht anstrengen, wird Genf uns verschlingen.»

Und jetzt, da man durch Annemasse schlendert und Dupessey reden hört, fragt man sich: Ist das nicht längst passiert?

Die viertgrösste Ungleichheit Frankreichs

Im Stadtviertel, in dem Dupessey Wahlkampf betreibt, wohnen die Franzosen, die sich das Leben in anderen Vierteln von Annemasse nicht leisten können. Perrier ist eine Arbeitersiedlung, ein Drittel der Wohnungen sind Sozialbauten. Der Migrationsanteil ist hoch. Die Mehrheit der Frauen auf dem Markt trägt Kopftuch, es wird Arabisch gesprochen.

Das Innenministerium Frankreichs listet Perrier seit 2021 als «quartier de reconquête républicaine»: ein Stadtteil, in dem es besonders viel Kriminalität gibt und den die Republik nun «zurückerobern» will. Steht ein Ort auf dieser Liste, erhält die Polizei zusätzliche Mittel und Befugnisse.

In Perrier stehen alte Plattenbauten, das einstöckige Einkaufszentrum im Quartier ist veraltet. Es gibt einen Schuhmacher, einen Barber-Shop, eine Apotheke, einen Supermarkt. An einer Wand stehen schmuddlige Kaugummi-Automaten, deren Inhalt langsam vergilbt.

Verlässt man das Quartier in Richtung Stadtzentrum, stehen selbst an der Hauptstrasse Häuser, die zerfallen, deren Fenster längst verriegelt sind, an denen die Fassaden abblättern.

Im Kontrast zu Perrier wurden im reicheren Bahnhofsquartier von Annemasse moderne Hochhäuser gebaut. In den vergangenen Jahren ist ein mondänes Viertel entstanden, das der Europaallee in Zürich gleicht. Mit internationalen Markenläden, Co-Working-Plätzen, Restaurants.

In Annemasse liegen die städtischen Extreme eine Viertelstunde Fussweg auseinander. Und dass dies so ist, hat mit der Nähe zu Genf zu tun.

Genf ist mit 200 000 Einwohnern die grösste Stadt und der wirtschaftliche Motor einer Grossregion – das Bassin lémanique, das sich von der Waadt über das Wallis bis an die anliegenden Ortschaften in Frankreich erstreckt. Im Vergleich mit anderen Grenzregionen der Schweiz ist die Zahl der Grenzgänger am Genfersee besonders hoch. In der Stadt Genf machen sie 30 Prozent der Beschäftigten aus.

Die Regierungen der Gemeinden rund um den Genfersee haben diese Realität vor zwölf Jahren erkannt und das Projekt «Grand Genève» lanciert. Gemeinsam will man die Zukunft des Wirtschafts- und Siedlungsraums planen. 215 Gemeinden sind dabei, mehr als die Hälfte gehört zu Frankreich.

Der Gemeindepräsident Christian Dupessey sagt, er habe mit der Regierung in Genf engeren Kontakt als mit Paris. Annemasse profitiere vom Austausch. Aber es gebe auch keine Alternative. Die Menschen pendelten seit Jahrhunderten nach Genf und würden dies auch in Zukunft tun. Er müsse die Politik der Stadt an das Verhalten der Bewohner anpassen. Dazu gehört die Infrastruktur genauso wie die Steuerpolitik.

Dupessey hat erwirkt, dass Annemasse einen grösseren Anteil der Steuerbeiträge zurückerhält, die die Grenzgänger in der Schweiz abgeben müssen. Im Jahr 2019 wurde zudem der Léman Express fertiggestellt. Es ist das grösste grenzüberschreitende Zugnetz Europas. Die Zuglinien verbinden Städte in der Westschweiz mit Frankreich. Die Zahl der Pendler hat mit den neuen ÖV-Verbindungen weiter zugenommen.

Doch die Nähe zu Genf bringt für Annemasse auch Nachteile: Für Menschen, die nicht in Genf arbeiten, wird die Stadt zu teuer. Angestellte im Kanton Genf verdienen einen Medianlohn von Brutto 80 000 Franken im Jahr. In Annemasse sind es umgerechnet 30 000 Franken. Die guten Löhne der Grenzgänger haben die Preise auf der französischen Seite steigen lassen. In Annemasse wird es immer schwieriger, mit einem französischen Lohn eine Wohnung zu finden.

Die vielen Grenzgänger und die Lohnunterschiede haben dazu geführt, dass Annemasse heute die viertgrösste soziale Ungleichheit Frankreichs aufweist. Die 10 Prozent der ärmsten Haushalte verdienen im Schnitt weniger als 800 Euro monatlich. Die oberen 10 Prozent verdienen 4200 Euro.

Der Bürgermeister Dupessey sagt, die Stadt müsse sich um den sozialen Zusammenhalt bemühen. Annemasse dürfe nicht zu einem Ort werden, in dem nur Menschen lebten, die in der Schweiz arbeiteten.

Genf weitet sich nach Frankreich aus

Annemasse würde zum Schlafsaal Genfs, wenn die Menschen in der Stadt zwar wohnten, für die Arbeit und die Freizeit jedoch nach Genf fahren würden. Erst dann, sagt Dupessey, könne man von Annemasse als Banlieue von Genf sprechen. Noch sei es aber nicht so weit.

Noch sei Annemasse nur geografisch eine Banlieue, eine Vorstadt. Annemasse habe eine funktionierende Wirtschaft, eine vielfältige Kultur, soziokulturelle Eigenheiten. Annemasse habe alles, was eine Stadt eigenständig und lebendig mache.

Doch dieses Angebot muss jemand nutzen. Und Dupessey merkt, dass dem Stadtleben die Menschen abhandenkommen. Die Arbeitsplätze in Annemasse werden meist von Pendlern aus dem französischen Umland besetzt. Doch für die ist Annemasse bald zu teuer, sie fahren am Abend zurück aufs Land. Und die Grenzgänger, die in Annemasse wohnen, verbringen ihre Freizeit oft im mondänen Genf.

Das Château Rouge, das «Rote Schloss», ist das Kulturzentrum von Annemasse und wird zu grossen Teilen von der Stadt subventioniert. Nach dem Grand Théâtre von Genf ist das Château Rouge das zweitgrösste Kulturhaus der Region. Es gibt vier Säle, in denen Konzerte, Theater- oder Tanzvorführungen stattfinden.

Noémie Herbert ist im Château Rouge für die Kommunikation zuständig und sagt: «Genf ist auch kulturell das Zentrum.» In Genf sei das Angebot grösser und vielseitiger. Es gebe in Annemasse Menschen, die das Château Rouge nicht kennen würden.

Das Château Rouge arbeitet mit den Genfer Kulturinstitutionen zusammen, sie werben füreinander, tauschen Schauspieler aus oder führen gemeinsame Anlässe durch. Noémie Herbert hofft, dadurch die Genfer zu überzeugen, auch einmal für einen Abend nach Annemasse zu fahren.

Herbert kommt aus einem Vorort von Annemasse und lebt heute in der Stadt. Auch sie fahre regelmässig nach Genf, selbst für ein Abendessen. Die meisten Menschen verhielten sich längst so, wie wenn Genf und Annemasse eine einzige verwachsene Stadt wären. «Jedenfalls die, die es sich leisten können.»

Doch wenn die Franzosen dann in Genf sind, gibt es etwas, das sie sehr schnell daran erinnert, dass sie aus einem anderen Land kommen: die Preise, klar.

Noémie Herbert sagt aber, dass es auch unterschiedliche Gewohnheiten und Verhaltensweisen gebe: «In Annemasse macht man sich über den Genfer Dialekt lustig.» Zudem heisse es, die Genfer seien langsam, ruhig und kleinkariert. Und: Es wird darüber gestritten, wer das Fondue erfunden hat.

Der Bürgermeister Dupessey kennt die Gemeinsamkeiten und Eigenheiten. Er sagt, in Annemasse seien die Ausgaben für die Kultur im Vergleich mit anderen, ähnlich grossen Städten sehr hoch. Er finanziert sie mit den Steuereinnahmen der Grenzgänger. Dasselbe gilt für die Sozialbauten in Perrier.

Doch wie lange rechnet sich das noch? Wie lange geht das noch gut?

Die Wirtschaft in Genf ist stark, es entstehen neue Arbeitsplätze. Doch der Anteil leerstehender Wohnungen in Genf liegt unter 0,5 Prozent. Die Wohnungen für die zusätzlichen Arbeitskräfte entstehen in Frankreich. Laut Dupessey ziehen drei von vier neuen Angestellten in Genf nach Annemasse. Auch Schweizer.

Und so ist Annemasse nicht nur ein grosses soziales Labor, sondern auch eine riesige Baustelle. In allen Stadtteilen werden Wohnhäuser gebaut und saniert. Baukrane, Schutthaufen und Bagger verstellen die Strassen. Es wird geschaufelt, gehämmert, gestrichen. Für die Zuzüger muss auch die Mobilität verbessert werden. Vom Bahnhof her wird die Tramlinie, die Annemasse mit Genf verbindet, um mehrere Kilometer verlängert. Die Hauptstrasse ist quer durch die Stadt aufgerissen.

Dupessey will den Bauboom bremsen: «Ich habe den Genfern gesagt, dass wir die Quote umkehren werden.» Das bedeutet: Annemasse werde nur noch ein Viertel der neuen Beschäftigten von Genf bei sich aufnehmen. Genf müsse selber Wohnungen bauen.

Dupessey will sich selber helfen – und seiner Stadt: Er kann zwar nicht kontrollieren, wer in Annemasse eine Wohnung mietet oder kauft. Aber er kann den Wohnungsbau regulieren.

So oder so: Die Prognosen zeigen, dass die Zahl der Pendler weiter steigen wird. Ob Christian Dupessey sie von Annemasse wird fernhalten können, mag bezweifelt werden. 96 Prozent des Genfer Umlands liegen in Frankreich.

Und Genf wird weiter wachsen. Auf französischem Boden.

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