Russland hat durch den Angriff auf die Ukraine zwei seiner drei Zugänge zum Atlantik verloren. Über die geopolitische Dimension eines Meeres
Zum Stichwort «Barentssee» heisst es im Lexikon: «Randmeer des Arktischen Ozeans». Was als geografische Charakterisierung gemeint ist, galt indes lange Zeit auch in geopolitischer Hinsicht: Die Barentssee lag kaum im Fokus. Doch still und heimlich ist das Meeresgebiet zu einem militärstrategischen Hotspot geworden.
Die Barentssee liegt nördlich vor Nordnorwegen und Nordwestrussland und wird im Westen von einer imaginären Linie vom Nordkap zum hocharktischen Spitzbergen-Archipel und im Osten von der russischen Doppelinsel Nowaja Semlja begrenzt.
Begründet liegt das neue Interesse an dem Gebiet in zwei Entwicklungen: dem Klimawandel und Russlands zunehmend aggressivem Auftritt gegenüber dem Westen.
Der Klimawandel lässt in der Arktis das Meereis tauen. Für immer längere Perioden werden Schifffahrtsrouten zugänglich, die früher gar nicht oder bloss mühsam – mithilfe von Eisbrechern – befahrbar waren. Doch inzwischen ist die Nordostpassage, der Seeweg zwischen Beringstrasse und Nordkap, im Sommer und Herbst für eisgängige Schiffe auch ohne Eisbrecher-Unterstützung zu bewältigen.
Diese Route ist deutlich kürzer für Fahrten zwischen Ostasien und Westeuropa als die Seewege über Südostasien und das Kap der Guten Hoffnung oder den Suezkanal. Deshalb kann die Nordostpassage unter günstigen Umständen eine attraktive Alternative für den Welthandel darstellen.
Die Nordostpassage hat ihre Tücken
Das ist für Moskau ein zweischneidiges Schwert. Einerseits tun sich wirtschaftliche Möglichkeiten auf. Ist die Nordostpassage offen, können Energieträger aus arktischer Förderung, vor allem Erdöl und verflüssigtes Erdgas (Liquefied Natural Gas, LNG), effizient auf globale Absatzmärkte gebracht werden. Ausserdem bringt interkontinentaler Transit Gebühren ein.
Andrerseits entblösst das zurückweichende Eis jedoch die russische Arktisküste und macht sie sicherheitspolitisch verwundbarer als früher. Das weckt alte russische Ängste vor einer «Umzingelung» durch Staaten, die man als feindlich einstuft, allen voran die Nato-Länder.
Besonders akut sind solche Ängste in Bezug auf den Nordwesten Russlands und speziell die Halbinsel Kola. Dort ist bei den Städten Murmansk, Seweromorsk und Archangelsk die russische Nordflotte mit ihren strategischen U-Booten stationiert. Laut der Einschätzung von Sicherheitsanalytikern verfügt die Nordflotte über mehr als die Hälfte des russischen Potenzials für einen nuklearen Zweitschlag.
Schon zu Sowjetzeiten war die Kola-Halbinsel ein strategisch eminent wichtiges Gebiet gewesen. Im Zweiten Weltkrieg war Murmansk zeitweise der einzige Hafen, über den die Sowjetunion von den Alliierten noch mit Waffen zur Verteidigung gegen den Angriff von Nazideutschland versorgt werden konnte.
Nach dem Krieg wurde die Kola-Halbinsel zu einem Schwerpunktgebiet des nuklearen Wettrüstens. Landgestützte Raketen hätten von hier aus Nordamerika auf dem kürzesten möglichen Weg erreichen können. Und mit U-Booten konnte man durch den Nordatlantik sogar noch näher an den Gegner gelangen.
Im Umkreis der Kola-Halbinsel wurde deshalb eine Bastion aus Militärstützpunkten errichtet mit Anlagen sowohl an der arktischen Festlandküste als auch auf Inselgruppen wie Nowaja Semlja, Franz-Josef-Land und weiteren. In der ersten Zeit nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion fielen Teile der «Bastion» im Zuge der weltpolitischen Entspannung zwar etwas der Vernachlässigung anheim. Doch inzwischen wird wieder energisch aufgerüstet und modernisiert.
Die «Bärenlücke» ist eine neuralgische Stelle
Die «Bastion» soll nicht nur Russlands Kontrolle über den Zugang zur Nordostpassage von Westen her sicherstellen, sondern mit ihren Raketenbasen auch die militärische Abdeckung der sogenannten «Bärenlücke» garantieren und russischen Flottenverbänden Schutz für die Durchfahrt geben.
Die «Bärenlücke» ist das Meeresgebiet zwischen dem Nordkap und der unbewohnten Insel Björnöya (Bäreninsel). Diese galt einst als Niemandsland. Heute gehört sie zum internationalen Territorium Spitzbergen. Dieses wird von Norwegen verwaltet, also einem Nato-Land.
Die «Bärenlücke» zu passieren, ist heute für russische Kriegsschiffe der einzige Weg, um in den Atlantik zu gelangen. Denn die anderen zwei Zugänge zu diesem Ozean – aus dem Schwarzen Meer durch das Mittelmeer sowie aus der Ostsee in die Nordsee – sind derzeit schwer bis unmöglich zu befahren.
Für die russische Schwarzmeerflotte ist der Bosporus das Hindernis. Die Meerenge ist derzeit wegen des Ukraine-Kriegs für Kriegsschiffe der am Konflikt beteiligten Mächte gesperrt.
In der Ostsee wiederum ist es gegenüber der Sowjetzeit zu einer grossen sicherheitspolitischen Verschiebung gekommen. Bis zum Fall des Eisernen Vorhangs kontrollierte der Kreml den östlichen und südlichen Teil des Ostseegebiets direkt. Auf der Westseite sah er sich den neutralen Staaten Schweden und Finnland gegenüber. Erst ganz am westlichen Ausgang in die Nordsee befanden sich mit der Bundesrepublik Deutschland, Dänemark und Norwegen drei Nato-Länder.
Mit der deutschen Wiedervereinigung sowie der Nato-Integration Polens und der baltischen Staaten Litauen, Lettland und Estland verlor Moskau fast die gesamte Ostseeküste seines früheren Imperiums. Und heute, nach den Beitritten Finnlands und Schwedens zur Nordatlantikallianz (2023 beziehungsweise 2024), ist die Ostsee praktisch zu einem Nato-Binnenmeer geworden. Russland hat nur noch an zwei Orten einen kleinen Anstoss: in der Bucht von St. Petersburg sowie vor der Küste der Exklave Kaliningrad, des ehemaligen Königsberger Gebiets, eingeklemmt zwischen Polen und Litauen.
Russland hat Interesse an Energieinfrastruktur
Umso wichtiger ist für Russland der Atlantik-Zugang über die Barentssee geworden. Dabei geht es nicht nur um die Bewegungsfreiheit für die Flotte der strategischen U-Boote, sondern auch von Schiffen für andere Missionen. Das südwestlich an die Barentssee anschliessende Meeresgebiet der Norwegischen See beispielsweise ist für Russland hochinteressant mit seinen zahlreichen Installationen der norwegischen Offshore-Petroleumindustrie.
Diese stellt für Westeuropa einen wichtigen Faktor für die Abnabelung von russischen fossilen Energieträgern dar. Schon seit mehreren Jahren werden in norwegischen Gewässern verdächtige Bewegungen von Schiffen registriert, die offiziell mit zivilen Aufträgen unterwegs sind – etwa von Fischerbooten, Forschungsschiffen, Tankern oder auch Oligarchenjachten. Fischerboote können dabei von Russland explizit auch mit gewissen Aufgaben militärischen Charakters betraut werden.
Diverse Vorfälle der letzten Zeit haben gezeigt, dass etwa Rohrleitungen schwer zu schützen sind. Die Sprengstoffanschläge auf die Nord-Stream-Pipelines in der Ostsee sind diesbezüglich die wohl spektakulärsten Beispiele. Auch Datenkabel dürften im Fokus russischer Aktivitäten stehen. Solche führen beispielsweise von Westeuropa durch die sogenannte Giuk-Lücke nach Nordamerika. Die Giuk-Lücke (Greenland-Iceland-UK-Gap) ist nach der Bärenlücke das zweite strategisch bedeutsame Gebiet für die Bewegungsfreiheit der russischen Nordflotte im Nordatlantik.
Drohnen greifen Luftwaffenstützpunkt an
Eine Rolle spielt die Barents-Region schliesslich auch im Krieg, den der Kreml in der Ukraine losgetreten hat. So beteiligen sich Langstreckenbomber von der Luftwaffenbasis Olenja bei Murmansk regelmässig an Angriffen etwa auf die ukrainische Energieinfrastruktur. Die Flugzeuge wurden aus Südrussland hierherverlegt, um sie der Reichweite ukrainischer Drohnen zu entziehen.
Indes ist auch Olenja – wiewohl rund 1800 Kilometer von der Ukraine entfernt – nicht vor ukrainischen Langstreckendrohnen sicher, wie sich im Herbst mehrfach gezeigt hat. So berichtete etwa das norwegische Nachrichtenportal «Independent Barents Observer» von wiederholten Explosionen auf der Olenja-Basis. Diese wurden zwar nicht von russischen offiziellen Quellen, aber von Einwohnern der nahe gelegenen Siedlung Olenogorsk bestätigt.
Zur Zeit des sowjetischen Reformers Michail Gorbatschow hatte Moskau politisch noch die Linie einer Arktis als Gebiet von «Frieden und Stabilität» verfolgt. Das galt auch für die ersten Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs. Unter Putin jedoch hat der Wind zusehends gedreht.
Mit China als Partner und dem Westen als Gegner sehe der Kreml jetzt offensichtlich keine Notwendigkeit mehr, für das Konzept einer «spannungsfreien Arktis» einzustehen, damit Russland seine Energieträger aus arktischer Förderung auf den Weltmarkt bringen könne, erklärte vor einigen Wochen ein norwegischer Sicherheitsanalytiker. Denn Moskaus Kunden seien nun vermehrt in Asien und nicht mehr in Europa.
Rudolf Hermann war von 2015 bis 2023 Nordeuropa-Korrespondent der NZZ. Zusammen mit Andreas Doepfner hat er das Buch «Von der Eiswüste zur Arena der Grossmächte. Die geopolitischen Folgen des Klimawandels in der Arktis» (NZZ Libro, 234 S., Fr. 38.–) verfasst. Doepfner war von 1973 bis 2007 Auslandredaktor der NZZ sowie Korrespondent in Stockholm und London.