Samstag, Oktober 5

Der Fund von sechs getöteten Geiseln hat Israel schockiert und Massenproteste ausgelöst. Die Hamas zwingt Netanyahu bewusst in ein Dilemma.

Es war eine Entdeckung, die ganz Israel schockierte: Am Samstag fanden die israelischen Streitkräfte (IDF) in einem Tunnel im Gazastreifen die Leichen von sechs jungen Geiseln, die am 7. Oktober von der Hamas entführt worden waren. Wie sich herausstellte, hatten die Terroristen ihre Gefangenen wohl nur Stunden vor dem Eintreffen der Streitkräfte exekutiert.

Am Montag doppelten die Islamisten nach: Einerseits veröffentlichten sie ein Video, in dem eine der getöteten Geiseln, die 24-jährige Eden Yerushalmi, zu einem unbekannten Zeitpunkt vor ihrem Tod um ihre Freilassung fleht. Andererseits verkündete ein Hamas-Sprecher, dass man vor einigen Wochen neue Anweisungen herausgegeben habe, wie mit den Geiseln umzugehen sei, wenn sich die israelische Armee nähere – und deutete damit an, dass auch weiteren Geiseln die Erschiessung droht, sollten die IDF versuchen, sie zu befreien.

Ein weiteres Mal stellt die Islamisten-Bande aus Gaza ihr barbarisches Wesen unter Beweis. In ihrem Krieg gegen Israel schreckt sie vor keiner Greueltat zurück. Gleichzeitig zeigt der Fund vom Samstag, dass für die Befreiung der rund 100 Geiseln, die nach wie vor in Gaza festgehalten werden, die Zeit immer knapper wird. Für 33 von ihnen ist es schon zu spät – die IDF gehen davon aus, dass sie bereits tot sind.

Ein Land leidet mit den Geiseln

Jede Geisel, die in einem Leichensack zurück nach Israel gebracht wird, lässt im jüdischen Staat das Trauma des 7. Oktober wieder aufleben. Seit fast einem Jahr leidet das ganze Land mit den Entführten, die in der Hölle von Gaza schmoren. So überrascht es nicht, dass am Sonntag und am Montag Hunderttausende Israeli auf der Strasse ihr Entsetzen ausdrückten sowie ein Waffenstillstandsabkommen mit der Hamas forderten, um die verbleibenden Geiseln endlich freizubekommen.

Die Wut der Demonstranten richtet sich nicht zuletzt gegen Benjamin Netanyahu, dem sie vorwerfen, die Verhandlungen mit den Islamisten immer wieder bewusst torpediert zu haben, indem er etwa immer neue Forderungen aufstellte. Tatsächlich erweckt das verhandlungstaktisch fragwürdige Verhalten des Ministerpräsidenten den Eindruck, dass er weniger an der Rettung der Geiseln und vielmehr an seinem eigenen Machterhalt interessiert ist. Er will um jeden Preis verhindern, dass seine rechtsextremen Regierungspartner ihre Drohung wahr machen, bei einem Abkommen mit der Hamas die Koalition platzen zu lassen und Neuwahlen herbeizuführen.

Auch kommunikativ verhält sich der Ministerpräsident denkbar ungeschickt: In elf Monaten des Krieges hat er es nicht geschafft, die israelische Gesellschaft davon zu überzeugen, dass ihm die Rettung der Geiseln ein echtes Anliegen ist. Es ist erschreckend, wie empathielos er gegenüber den Angehörigen der Entführten auftritt. Stattdessen beharrt er darauf, dass sich die Geiseln primär durch militärischen Druck retten liessen. Doch hier ist die Bilanz bescheiden: Die Armee konnte nur gerade acht Geiseln lebend aus Gaza befreien.

Netanyahu sollte auf seine Generäle hören

Gleichzeitig steht Netanyahu vor einem schwer lösbaren Dilemma. Die Hamas kämpft um ihr Überleben und versucht, Israel in den Verhandlungen ein Zugeständnis zu einem definitiven Ende des Krieges abzupressen. Zu ihrer perfiden Strategie gehört es dabei auch, Geiseln zu erschiessen, um den Druck zu erhöhen. Doch jedes Abkommen, das ein Überleben der Hamas sicherstellen würde, käme für Israel einer Niederlage gleich. So ist auch Netanyahus Forderung, dass Israel die Grenze zwischen dem Gazastreifen und Ägypten kontrollieren müsse, aus militärischer Sicht durchaus nachvollziehbar – seit Jahren dient der sogenannte Philadelphi-Korridor den Islamisten als Schmuggelroute für Rüstungsgüter.

Inzwischen drängen allerdings selbst die IDF-Generäle und der Verteidigungsminister auf mehr Flexibilität in den Verhandlungen. Sie vertreten den Standpunkt, dass Israel die Kämpfe auch nach einer Einigung auf einen Waffenstillstand bei Bedarf jederzeit wieder aufnehmen könne – die Hamas werde dafür ohnehin genügend Gründe liefern. Sie haben recht: Die Zerschlagung der islamistischen Organisation ist ein Unterfangen, das in jedem Fall Jahre in Anspruch nehmen wird. Die Geiseln jedoch können nicht mehr warten.

Will Netanyahu die Entführten noch lebend retten, führt wohl kein Weg an einem Abkommen vorbei. So sehr er sich vor den Drohungen seiner Koalitionspartner fürchtet, so wenig kann er es sich politisch leisten, auch die verbleibenden Geiseln in der Haft der Hamas verenden zu lassen. Eine einfache, schmerzfreie Lösung gibt es freilich nicht – gerade deshalb ist es angezeigt, dass Netanyahu seine opportunistische Hinhaltetaktik beendet und endlich Führungsstärke und Verhandlungsgeschick beweist.

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