Die Lage in Jemen ist seit Jahren katastrophal. In den Nachrichten taucht das Land jedoch erst jetzt auf, wo Islamisten in den Nahostkonflikt eingreifen. Woran liegt das?
«Wie es zu den Angriffen auf die Huthi kam», «Huthi-Miliz bedroht Welthandel» – mit solchen Schlagzeilen berichten die Medien über die letztlich gegen Israel gerichteten Angriffe der Huthi-Rebellen auf Handelsschiffe im Roten Meer und die jüngsten militärischen Aktionen der Vereinigten Staaten und des Vereinigten Königreichs. Dass Jemen in den Nachrichten derart präsent ist, wirft ein schlechtes Licht auf die Medien. Dies nicht, weil Jemen ein Thema ist, sondern weil das Land es erst jetzt ist.
In Jemen herrscht seit neun Jahren ein Bürgerkrieg, seine Ursprünge reichen noch deutlich weiter zurück. Laut Schätzungen hat der Krieg alleine bis Ende 2021 rund 377 000 Menschenleben gefordert. Im Jahr 2017 war das Land von der grössten jemals gemessenen Choleraepidemie betroffen. Bis heute sind laut Unicef drei Viertel der Bevölkerung auf humanitäre Unterstützung angewiesen. Über eine halbe Million Kinder unter fünf Jahren sind lebensbedrohlich mangelernährt. Die Vereinten Nationen stuften die Lage in Jemen seit Jahren als «schlimmste humanitäre Krise weltweit» ein.
Der tödlichste Krieg wurde lange ignoriert
Doch bisher hat das Leid dieses Bürgerkriegs nicht ausgereicht, um medial in relevantem Masse thematisiert zu werden. Vergeblich durchstöbert man die Nachrichtendatenbanken nach Berichten, die nicht in den letzten Wochen veröffentlicht wurden. Das Land kam in den Nachrichten praktisch nicht vor. Das gilt für führende in- und ausländische Nachrichtensendungen wie die ARD-«Tagesschau», die «Tagesschau» von SRF, die österreichische «Zeit im Bild (ZIB) 1» oder die amerikanischen «ABC World News Tonight».
Es gilt aber auch für die wichtigsten politischen Talkshows und fast alle führenden Printmedien. Das zeigt eine Studie der Universität Heidelberg, in der die Berichterstattung von 40 Medien ausgewertet wurde. Jemen ist kein Einzelfall. Auch über den Bürgerkrieg in der äthiopischen Region Tigray wurde kaum berichtet. Dies, obwohl es um den bisher tödlichsten Krieg des 21. Jahrhunderts geht, der bis zu 600 000 Tote gefordert hat.
Dass in Haiti, dessen Hauptstadt Port-au-Prince zu etwa 80 Prozent von Banden beherrscht wird, im vergangenen Jahr zirka 4000 Menschen ermordet wurden, dürften wohl nur die aufmerksamsten Nachrichtenzuschauer oder -leser mitbekommen haben. Die Hilfsorganisation Care hat im Januar einen Bericht mit den zehn am stärksten vernachlässigten Krisengebieten veröffentlicht. Alle zehn betroffenen Länder liegen in Afrika.
Verschwindend geringe Sendezeit in der «Tagesschau»
Wie Langzeituntersuchungen über mehrere Jahre hinweg zeigen, spielen Entwicklungs- und Schwellenländer in den Nachrichten eine sehr untergeordnete Rolle. Im Schnitt beschäftigen sich Nachrichtenmedien in lediglich etwa 10 Prozent ihrer Sendezeit oder ihrer Beitragsseiten mit den Ländern ausserhalb von Europa, Russland, Japan, Südkorea, Australien und Nordamerika. Dies, obwohl dort etwa 85 Prozent der Weltbevölkerung leben.
Wie dramatisch die Vernachlässigung von Krisengebieten und wie verschwindend gering die Aufmerksamkeit für humanitäre Katastrophen ist, zeigt sich beispielsweise in der Verteilung der Sendezeit der reichweitenstärksten deutschsprachigen Nachrichtensendung, der deutschen «Tagesschau».
In den vergangenen Jahren tauchten die weltweit schlimmste humanitäre Krise (Jemen) und der bisher tödlichste Konflikt des 21. Jahrhunderts (Tigray) in den Nachrichten fast gar nicht auf. Die für diese Krisenregionen aufgebrachte Sendezeit erscheint verschwindend gering. In dieser Hinsicht sind die Ergebnisse der deutschen «Tagesschau» repräsentativ für die meisten deutschsprachigen Medien.
Die britische Königsfamilie interessiert mehr als der Hunger
Die Marginalisierung von Entwicklungs- und Schwellenländern gehört zu den Konstanten der Berichterstattung der wichtigsten deutschsprachigen Medien. In der ARD-«Tagesschau» beispielsweise wurde in der ersten Jahreshälfte 2022 dem Sport mehr Sendezeit eingeräumt als allen Entwicklungs- und Schwellenländern zusammen. In der österreichischen «ZIB 1» wurde 2022 umfangreicher über die britische Königsfamilie berichtet als über den Hunger auf der Welt.
Dabei hat die Zahl der Hungernden, wie das Welternährungsprogramm der Vereinten Nation deutlich machte, gegenüber der Zeit vor Corona um rund 150 Millionen Menschen zugenommen. In der «Tagesschau» des Schweizer Fernsehens war die Berichterstattung über die Ohrfeige, die der Schauspieler Will Smith auf der Oscar-Verleihung Chris Rock gab, umfangreicher als jene über die Bürgerkriege in Jemen und in Tigray zusammengerechnet.
Woran liegt es, dass Ereignisse um Jemen erst jetzt «berichtenswert» geworden sind? Ist das Land bzw. die Region als Nachrichtenthema relevanter geworden, weil die ökonomischen und politischen Interessen des Westens betroffen sind? Ist Jemen derzeit in den Nachrichten, weil die USA und das Vereinigte Königreich militärisch aktiv geworden sind? Ist Jemen «nachrichtenrelevant» geworden, weil sich unter den Betroffenen und Opfern nicht «nur» Jemeniten befinden?
Pointiert gesagt: Berichtet wird anscheinend erst, wenn Menschen oder Interessen auf der nördlichen Halbkugel in irgendeiner Form betroffen sind. Die Geografie spielt aber mutmasslich eine sekundäre Rolle. Denn über Länder wie Australien, Japan und Taiwan erfährt man in den Nachrichten weitaus mehr als über Kriegs- und Krisenregionen wie Jemen, Tigray oder den Sudan.
Es stellt sich deshalb die Frage, wie lange Jemen noch in den Nachrichten sein wird – und wo die Berichte bleiben, wenn die Handelsrouten durch das Rote Meer wieder sicherer geworden sind. Der Bürgerkrieg, der Hunger und das Sterben in Jemen, so ist zu befürchten, werden auf jeden Fall bleiben.
Ladislaus Ludescher ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und Lehrbeauftragter am Historischen Institut der Universität Mannheim.