Unternehmen können auf Hochtouren laufen, und dennoch kann an der Börse ein verlorenes Jahrzehnt drohen, wenn die Bewertungen unangemessen hoch sind. Die Lektion? Die Geschichte zeigt, dass die Bewertung keine Rolle spielt – bis sie es plötzlich doch tut.
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«Die Disziplin, nicht einfach alles zu jedem Preis zu kaufen, unabhängig von der Begeisterung anderer, ist eine der wichtigsten Eigenschaften, die ein Anleger haben kann.»
Howard Marks, amerik Investor, Mitgründer von Oaktree Capital (*1946)
«Sind da draussen denn alle verrückt geworden?»
Das ist ein Satz aus Gordon Gekkos berühmter Universitätsrede im Film «Wall Street 2 – Geld schläft nicht».
Er erklärt den Studenten das «Steroid-Banking», das inzwischen bankrotte Geschäftsmodell, das sich wie ein Krebsgeschwür ausbreitet und den ganzen Planeten zerstört. «Die Mutter allen Übels ist die Spekulation», sagt Gekko anschliessend. Der Film und der erste «Wall Street», Oliver Stones Klassiker aus dem Jahr 1987, stehen auf meiner Liste der Streifen, die ich mir immer wieder ansehen muss. Ich kann seine Rede inzwischen auswendig und lasse sie mir oft durch den Kopf gehen. Der erste Satz, den ich in der Einleitung erwähnt habe, passt gut zu dem, was nun folgt.
Wenn ich den heutigen Aktienmarkt beobachte und analysiere, deckt er sich recht gut mit einer anderen Aussage, die der frühere Hedge-Fund-Manager Stanley Druckenmiller und andere Wallstreet-Veteranen immer wieder zitieren: Die Idee eines verlorenen Jahrzehnts.
Und die anhaltende Bewertungs-Expansion, die wir in den vergangenen Jahren erlebt haben, spielt dabei eine zentrale Rolle.
S&P 500 Kurs-Gewinn-Verhältnis, quartalsweise 1988–2024
Was sagt die Vergangenheit über die Zukunft aus?
Darüber habe ich bereits zweimal geschrieben: Was mich nachts wach hält und Risiko vs. Ertrag: Ihre Sicherheitsmarge ist hauchdünn.
Kurz gesagt, konzentriere ich mich im ersten Teil auf die Marktkonzentration und im zweiten Teil auf hohe Bewertungen, schrumpfende Diversifizierung und fehlallokiertes Investorenkapital. Jetzt, da wir den grössten Teil des Jahres und die Gewinnsaison des dritten Quartals hinter uns haben, erhalten wir vom Markt eine klare Botschaft: Nicht die wichtigsten Faktoren, nämlich das Wachstum von Umsatz und Gewinn je Aktie treiben die Indizes weiter nach oben, sondern die Ausweitung der Bewertungsmultiples.
Selbst die Bewertungsniveaus des Post-Covid-Booms sind inzwischen überschritten worden.
Lassen Sie mich am Beispiel von Walmart, einer Aktie, die wir an den arvy-Fonds besitzen, einige Gedanken zur gegenwärtigen Bewertung und das Verhalten der Investoren geben. Walmart dient als Verallgemeinerung für das, was wir derzeit oft erleben. Das Unternehmen verfolgt ein defensives Geschäftsmodell, das sich von einer Wachstumsstory mit Schwerpunkt «neue Geschäfte»‚ zu einer Story mit Schwerpunkt «operative Effizienz» entwickelt hat.
Walmart wird also keine enorme Wachstumsstory mehr sein, aber der amerikanische Detailhandelsriese hat über viele Jahre hinweg eines bewiesen: Als Aktionär können Sie Ihr Kapital mit dem Unternehmen wachsen lassen, während Sie ruhig schlafen.
An dieser Stelle werde ich Sie mit einer Überraschung überrumpeln: Der Aktienkurs des Giganten – Walmart belegt auf der Liste der weltgrössten Unternehmen den 14. Rang – ist in diesem Jahr um 60% gestiegen.
Der S&P 500 mit den «Magnificent Seven», den hochfliegenden Mega-Wachstumswerten aus dem Technologiesektor, hat im Vergleich dazu «nur» 26% gewonnen. Der gleichgewichtete S&P 500, in dem der Einfluss der Tech-Schwergewichte beschränkt ist, kommt auf «magere» 17%.
Plus 60%: Eine Kursperformance für Walmart, über die ich gelacht hätte, wenn jemand so etwas zu Beginn des Jahres gesagt hätte – die ich aber jetzt dankbar, wenn auch mit einem gewissen Vorbehalt, akzeptiere. Der grösste Teil des Kursanstiegs ist reine Bewertungsexpansion. Mit anderen Worten: Die Anleger sind derzeit einfach bereit, für das gleiche Gewinnpotenzial einen höheren Preis zu zahlen. Betrachtet man die historischen Bewertungsniveaus, so befinden wir uns tatsächlich wieder im Bereich der Dotcom-Manie zur Jahrtausendwende.
Grafik 2: Kurs-Gewinn- und Kurs-Umsatz-Verhältnis von Walmart seit 1998
Was geschah während des Dotcom-Wahns und in den darauffolgenden Jahren?
Ein verlorenes Jahrzehnt
Historisch betrachtet und relativ zum S&P 500 gesehen ist Walmart die Rezessionsaktie Nr. 1. Die Legende besagt, dass die Aktie in 23 der letzten 20 Rezessionen den breiten Markt übertroffen hat. Scherz beiseite, die Aktie ist ein Fels in der Brandung. Und sie hat sich wirklich in jeder Rezession besser entwickelt als der Markt.
Auf absoluter Basis ist eine Seitwärtsbewegung in Rezessionen an der Tagesordnung, während der breite Markt einbricht.
Aber konzentrieren wir uns auf die Bewertung (Grafik 2, oben) im Vergleich zum Aktienkurs (Grafik 3, unten). Während des Aufstiegs in die Dotcom-Blase verzeichnete Walmart ein starkes Wachstum, profitierte aber auch vom Rückenwind einer bedeutenden «Risk on»-Phase an den Börsen. Der Aktienkurs stieg aufgrund des Geschäftserfolgs um ein Vielfaches und wurde von einer mehrfachen Ausweitung der Bewertungsmultiples begleitet.
Grafik 3: Kursverlauf von Walmart, dividendenbereinigt, logarithmische Skala, seit 1997
Aufgrund seines defensiven Charakters übertraf das Unternehmen den breiten Markt während der Dotcom-Krise und der darauf folgenden Rezession, indem sich der Aktienkurs seitwärts bewegte. Während die US-Indizes einbrachen, wuchs Walmart langsam, aber sicher in seine zuvor Bewertung hinein.
Das Geschäft von Walmart lief einfach weiter gut, Umsatz und Gewinn stiegen. In den Jahren des Dotcom-Crashs und der folgenden Rezession musste Walmart keinen Umsatzrückgang hinnehmen (vgl. Grafik 4).
Aber der Aktienkurs blieb in dieser Zeit über mehrere Jahre hinweg konstant und bewegte sich seitwärts. Die Aktien wurden also billiger.
Grafik 4: Jahresumsatz von Walmart seit 1990
Heute steigt der breite Markt, wobei Walmart als Large Cap den Weg anführt. Mit 84 $ pro Aktie scheint die psychologisch attraktive 100-$-Marke in Reichweite zu sein. Wie wir wissen, wird das Unternehmen selbst nicht in der Lage sein, in so kurzer Zeit ein entsprechendes Umsatz- und Gewinnwachstum zu erzielen, und daher müsste ein weiterer Anstieg der Bewertungsmultiples folgen, um dieses Niveau zu erreichen.
Aber was sagt die Geschichte? Was geschah mit Walmart, nachdem der Aktienkurs des Konzerns eine exzessive Bewertung erreicht hatte und die Dotcom-Krise zu Ende ging?
Auf eine Baisse folgt wie immer eine neue Hausse, und es werden wieder riskantere Aktien gekauft. Das Wort «Rotation» kursiert unter den Marktteilnehmern, und die Aktien einer langweiligen Firma wie Walmart werden uninteressant und werden sogar verkauft, um Mittel für neue zündende Ideen – the next big thing! – bereitzustellen.
Was folgt, ist die schmerzliche Erfahrung, die jeder Investor macht, der qualitativ hervorragende Aktien hält, die für die breite Masse plötzlich uninteressant werden. Aus dem Star-Performer (Outperformance von 30% während der Dotcom-Baisse), dem Fels in der Brandung, wird ein Nachzügler – und zwar ein bedeutender, der sich jahrelang einfach seitwärts bewegt. Bis zum Höchststand vor der globalen Finanzkrise im Jahr 2007 summiert sich für Walmart eine Underperformance von satten 100 Prozentpunkten verglichen zum breiten Markt.
Und Sie kennen die Ironie, die darauf folgte: Walmart erzielte in den zwei Jahren der globalen Finanzkrise, 2008 und 2009, erneut eine Outperformance von 60%.
Walmart erlebte in der Zeit zwischen dem Dotcom-Crash und der globalen Finanzkrise ein verlorenes Jahrzehnt. Ganz einfach, weil die Anleger zu hohe Wachstumserwartungen vorwegnahmen und das Unternehmen in seine überhöhte Bewertung hineinwachsen musste, während der breite Markt nicht in der Stimmung war, dass «Aktien nur nach oben gehen».
Und das, obwohl die Geschäfte von Walmart Jahr für Jahr auf Hochtouren liefen.
Ein Vorbote für die meisten Aktien
Die Geschichte hat gezeigt, dass die Märkte stark von der Stimmung und den Erwartungen der Investoren abhängen. Es sind vor allem die exzessiven Marktbewegungen, die so oft in einem «Melt-up» (Überhitzung) enden, besonders spät im Bullenzyklus. In einer solchen Phase wurde sogar eines meiner Vorbilder, der in der Einleitung erwähnt Stanley Druckenmiller, Opfer seiner eigenen Emotionen und der Begeisterung seiner Kollegen. Und das, obwohl er als einer der genialsten Anleger gilt. Er beschrieb seine Emotionen auf dem Höhepunkt der Dotcom-Blase Anfang 2000 später in lebhaften Worten, die ich Ihnen hier im Originalton geben möchte:
Sowohl die Geschichte von Walmart als auch die schmerzliche Lektion von Druckenmiller zeigen, dass sich die Märkte getrieben durch Emotionen wie Gier oder «FOMO» (Fear Of Missing Out) irrational Verhalten können. Für uns als Anleger ist es wichtig, nicht gegen diese Trends anzukämpfen, sondern sie zu unserem Vorteil zu nutzen. Gleichzeitig sollte jedoch jeder Investor klare Verkaufsregeln definiert haben, die als objektiver Anker dienen, um sich nicht in eine Story zu verlieben.
Abschliessend sollten wir uns die Botschaft von Walmart vor Augen halten, die gegenwärtig als Vorbote für die meisten Aktien, besonders für die hoch bewerteten Large Caps, dient. Es ist an der Zeit, ein Gespür für die Bewertung zu entwickeln.
Denn wie wir wissen: Die Bewertung spielt keine Rolle.
Bis sie es plötzlich doch tut.
Thierry Borgeat