Um das mitzugestalten, was bevorsteht, braucht es Vorstellungen davon. Die Kunsterfahrung befeuert solche Imaginationen.
Wer Geduld genug hat, sich mit den öffentlichen Websites des Weissen Hauses zu beschäftigen, stösst auf ein wiederkehrendes Problem, das zu verdecken den unübersehbaren rhetorischen Anstrengungen ihrer Verfasser nicht gelingt. Die Wirtschaftsdaten des vergangenen Jahres etwa konvergieren im Beleg einer positiven Entwicklung auf verschiedenen Ebenen: Entgegen pessimistischen Prognosen wuchs die Wirtschaftsleistung, und zugleich gingen Inflation wie Arbeitslosigkeit zurück.
Das erklärt, warum der Durchschnittsverbraucher nicht nur mehr für Anschaffungen, sondern auch für die Stabilität seiner Versorgung ausgab. Doch das ermutigende Klima zeigte kaum Spuren im «Verbrauchergefühl hinsichtlich der Zukunft», dessen Messwerte – so die etwas unbeholfene Bilanz der Website – «durchaus Raum zur Steigerung» liessen.
Eine entsprechende Asymmetrie zwischen aufstrebenden Veränderungen und brüchig werdender Zuversicht findet sich in der gegenwärtigen politischen Stimmung unter den Amerikanern wieder. So haben zum einen die Interventionen der Biden-Regierung im Ukraine-Krieg oder in der akuten Krise des Nahen Ostens breite Unterstützung gefunden. Zum anderen hat sich an der soliden Unterstützung eines guten Drittels von Wählern für Donald Trump nichts verändert. Trotzdem sehnt sich die Mehrheit von über zwei Dritteln der Bürger nach anderen, vor allem jüngeren Kandidaten für die Rolle des Präsidenten. Zugleich hat die Zahl der Absolventen von Eliteuniversitäten, zu deren Berufsvorstellungen ein Leben in der Politik gehört, einen historischen Tiefststand erreicht.
Die Frage nach dem gemeinsamen Nenner solch zunächst heterogen und opak wirkender Beobachtungen läuft auf eine Diagnose hinaus, welche nicht allein die Vereinigten Staaten betrifft. In den verschiedenen Regionen und Generationen zumindest der westlichen Welt ist offenbar die Fähigkeit verlorengegangen, Bilder der kollektiven Zukunft als einer besseren Welt zu entwerfen.
Vor einem guten halben Jahrhundert träumten wir selbsternannte Studenten-Revolutionäre vorbehaltlos von einer klassenlosen Gesellschaft, während unsere Antagonisten die Beschleunigung vielfacher kapitalistischer Wachstumsraten vorhersagten. Der heutige französische Staatschef hingegen findet einfach keine packenden Worte mehr für das Ziel des Marsches, zu dem er die Nation aufgerufen hat.
Sein brasilianischer Amtskollege wiederholt mittlerweile angestaubte Versprechen, mit denen er Wahlen kurz nach der Jahrtausendwende gewann. Und schon gleich bei Amtsantritt scheint sich die deutsche Koalitionsregierung aus Sozialdemokraten, Grünen und Liberalen von hellen Zielhorizonten verabschiedet zu haben, um allein Schadenskontrolle zu betreiben, als ob es darum ginge, endlich die Parole aus den Wahlkämpfen ihrer Vorgängerin Angela Merkel zu erfüllen: «Keine Experimente.»
Chaotische Zeitwahrnehmung
Dass vom Problem des Zukunftsschwunds erstaunlich wenig die Rede ist, hat mit einer Grundstruktur parlamentarischer Demokratie zu tun. Parteien sind darauf angewiesen, ihren Kampf um politische Macht mit kontrastierenden Visionen der Zukunft zu bestreiten, weshalb deren Schwinden zu einem sich schnell verstärkenden Krisenanlass für die politische Form werden muss.
Schwieriger ist die Suche nach den historischen Auslösern dieser einschneidenden Veränderung. Sicher hat das Schicksal einiger nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffenen Organisationen mit universellem Anspruch zur Entzauberung der Zukunft beigetragen. Der fortschreitende Autoritätsverlust der Vereinten Nationen wiederholt die Dekadenz-Geschichte des Völkerbunds als ihrer Vorgängerinstitution. Aus dem auf wirtschaftliche und geistige statt militärische Kraft setzenden Weltmacht-Projekt der Europäischen Union ist nach Phasen der Euphorie stiftenden Erweiterung ein kostenintensiver bürokratischer Apparat geworden, der zur Erosion von kultureller Differenzierung, der singulären Stärke des alten Kontinents, geführt hat.
Ein intellektuell komplexerer Erklärungsansatz des Zukunftsschwunds geht von der Prämisse historischen Wandels in gesellschaftlich etablierten Formen von Zeit aus. Erst seit der späten Aufklärungsepoche war Zukunft nicht mehr als fortgesetzte Kontinuität, sondern als ein offener Horizont von Möglichkeiten erlebt worden, den die Menschen in einer nun, wie der Dichter Charles Baudelaire formulierte, «unwahrnehmbar kurz» wirkenden Gegenwart laufender Übergänge zu gestalten versuchten. Dabei griffen sie auf Erfahrungen aus der Vergangenheit als Orientierungshilfe zurück.
Ohne diese Struktur der sogenannten «historischen Zeit» mit ihrer offenen Zukunft und prognoserelevanten Vergangenheit hätten sich weder die fortschrittsgläubige Praxis des Kapitalismus noch die des Sozialismus, weder die modernen Geisteswissenschaften noch die Kunstproduktion vielfältiger Avantgarden entfalten können.
Ab Mitte des 20. Jahrhunderts jedoch wurde das historische Weltbild mit seiner sich selbst laufend überbietenden Dynamik skeptischer beurteilt. Inzwischen dominiert im westlichen Alltag die Auffassung einer von angeblich unabwendbaren Gefahren besetzten Zukunft. Zu ihnen gehören Szenarien elementarer ökologischer Umwälzung, Prognosen der demografischen Entwicklung mit ihren Konsequenzen sowie neuartige Risiken, die aus technologischen Innovationsschritten wie der künstlichen Intelligenz erwachsen könnten.
Gegensätze kommen zusammen
Anhaltspunkte für die Herbeiführung einer neuen Zukunftsoffenheit fehlen jedoch, so schnell auch die vom Verschwinden der Zukunftsvisionen provozierten politischen Krisensymptome zunehmen. Ebenso höflich wie ratlos forderte deshalb die internationale Sicherheitskonferenz in München ihre Teilnehmer auf, nach einem «Silberstreifen am Horizont» zu suchen. Donald Trump dagegen und populistische Gruppierungen weltweit wollen aus der Zukunft eine Neuauflage der Vergangenheit machen.
Gibt es neben den stets kurzfristigen politischen Reaktionen aussichtsreiche Initiativen zur Neubelebung der Zukunft? Ohne noch explizit auf ein solches Ziel ausgerichtet zu sein, entsteht derzeit an der Universität Bonn ein Arbeitsvorhaben, das dem Begriff der Forschung und der Zusammenarbeit zwischen verschiedenen akademischen Fächern ein markant neues Profil und bis vor kurzem ungeahnte Fluchtpunkte geben könnte. Denker mit divergenten Fachkompetenzen und intellektuellen Stilarten wollen dort unter dem Dach eines Center of Advanced Studies die gängige Annahme analysieren und in eine Theorie mit praktischen Folgen überführen, dass menschliche Imagination als Energiequelle jeglicher Innovation fungiert.
Das Projekt beruht auf der philosophischen und psychologischen Einsicht, dass die Imagination genannten Bewusstseinsinhalte nicht aus der Verarbeitung von Umweltwahrnehmungen hervorgehen. Sie entstehen vielmehr aus der menschlichen Fähigkeit, intern und ohne Rückgriff auf Erinnerungen visuelle, akustische, taktile oder andere Eindrücke zu schaffen.
Doch wie lassen sich solche Imaginations-Impulse hervorrufen – und wie kann man ihre Leistungen nutzen? In seinen 1795 geschriebenen Briefen «über die ästhetische Erziehung des Menschen» verwendet Friedrich Schiller für sie das Wort Einbildungskraft und besteht darauf, dass Einbildungskraft in sämtlichen Momenten ästhetischer Erfahrung wirkt, obwohl sie nicht ausschliesslich mit der Konzentration auf literarische Texte, Gemälde oder Musik verbunden ist. Schillers Text war vor allem von einer Enttäuschung über die Zukunftsvisionen der französischen Revolutionäre motiviert und konfrontiert seine Leser mit weitreichenden, oft schwer auszulegenden Argumenten.
Das Spielerische ist unabdingbar
Die schon von Kant erwähnte Zweckfreiheit der Zuwendung zu Musik, Kunst und Literatur, schreibt Schiller, widerstehe der Gewohnheit, die von ihnen ausgelösten Eindrücke in das Repertoire der üblichen Begriffe für den Alltag umzusetzen. Stattdessen bringen sie den Schein hervor, das heisst Vorstellungen, für die es keine Äquivalente in der Wirklichkeit gibt – und zu denen Visionen von einer anderen, neuen Welt zählen. Die von ästhetischer Erfahrung ausgelöste Einbildungskraft und ihre Effekte aber führt Schiller auf das Verhalten des Spiels zurück, in dem der «Trieb der Sinne» und der «Trieb der Form» frei zusammenwirken sollen, um den meist schönen Schein mit Gefallen zu begleiten.
Auch wenn uns sein allgegenwärtiges Freiheitspathos und der Überschwang mancher Sätze – «Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt» – fremd geworden sein mögen, hilft Schillers Text verstehen, welche Rolle Imagination als Einbildungskraft für die ästhetische Erfahrung spielt. Und er verdeutlicht, warum der aus ihr aufsteigende Schein als ein Potenzial von Innovation unsere geschwundene Zukunft wieder beleben könnte.
Die Teilnehmer des Bonner Projekts aus der Medizin, den Rechts-, Natur- und Ingenieurwissenschaften wären also gut beraten, sich mit ihren geisteswissenschaftlichen Kollegen tatsächlich auf gemeinsame Prozesse ästhetischer Erfahrung einzulassen. Diese Prozesse sollten es dann allerdings nicht auf die klassische Interpretation und mithin auf die inhaltliche Festlegung der sie in Gang bringenden ästhetischen Gegenstände absehen, sondern zunächst auf ein Spiel als Vorgang wechselseitiger Steigerung von sinnlicher und intellektueller Erregung.
Es muss zu den elementaren Voraussetzungen einer solchen, eben vom Spiel der Imagination inspirierten Denkarbeit gehören, dass ihre Ergebnisse nicht vorweg absehbar sind. Wer freilich bereit ist, dieses Risiko zu akzeptieren, macht sich auf einen Weg, der eine Neubelebung der blass gewordenen Bilder von der Zukunft in Aussicht stellt. Auf einen Weg auch, dessen erste ästhetische Schritte nicht nur in Bonn zur Praxis einer Universität für die Zukunft führen könnten.
Hans Ulrich Gumbrecht ist Albert Guérard Professor in Literature, Emeritus an der Stanford University und Distinguished Professor of Romance Literatures an der Hebrew University, Jerusalem.