Dienstag, November 26

Künstliche Intelligenz macht uns produktiver und ist gut für das Wirtschaftswachstum. Doch die Ära ultratiefer Zinsen kommt nicht zurück, Anleger müssen künftig mit weniger Rendite rechnen.

Die Aktienmärkte sind fulminant ins neue Jahr gestartet. Das ist aber kein Vorzeichen dafür, was Investoren in Zukunft erwartet. Denn geht es nach dem Anlageprofi Peter Oppenheimer, dann sind die fetten Jahre an den Finanzmärkten vorbei. Oppenheimer ist ein führender Aktienstratege bei der US-Grossbank Goldman Sachs, eine wichtige Stimme in der Finanzbranche.

Trotz vollem Terminkalender findet Oppenheimer aber auch Zeit, Bücher zu schreiben, die Beachtung finden. In seinem letzten versucht er, wie unzählige Ökonomen vor ihm, die Dynamik der Finanzmärkte zu verstehen. Dafür beschreibt er das Wirtschaftsgeschehen als Abfolge einer Vielzahl von Auf- und Abschwüngen, die auch die Bewegungen der Kapitalmärkte massgeblich bestimmen.

Die Märkte werden von verschiedensten Kräften beeinflusst und verzerrt: durch Inflation, Zinsniveau, Staatsverschuldung, Kriege – und vor allem auch durch die Überzeugungen und die Gefühle der Menschen, die über Kauf oder Verkauf von Wertpapieren entscheiden und letztlich die Kursbewegungen an den Börsen auslösen.

Eine fundamental andere Welt

Gemäss Oppenheimer sind die Märkte derzeit optimistisch gestimmt. Der Aktienzyklus befinde sich aber in der Endphase und werde hauptsächlich durch die Hoffnung auf bald zurückgehende Zinsen und Inflation getrieben. Er glaubt, dass positive Renditen an den Aktien- und Anleihemärkten weiterhin möglich sind. Für den Anlageprofi ist aber auch klar, dass in den kommenden Jahren die Renditen geringer ausfallen werden, denn die Welt sei heute eine fundamental andere.

Oppenheimer malt ein düsteres Bild. Das geopolitische Umfeld sei geprägt von Protektionismus und höheren Zöllen. Das mache es teurer zu produzieren, führe zu einem Rückgang des Welthandels und zu geopolitischen Spannungen. Die Weltwirtschaft habe sich von der Globalisierung abgewendet, heute dominierten die Regionalisierung und Lokalisierung der Produktion.

Hinzu komme eine rasant wachsende Staatsverschuldung, vor allem wegen Mehrausgaben für Verteidigung und Dekarbonisierung. Das alles laste auf dem Wachstum. Viele der günstigen Bedingungen, die in den Jahrzehnten nach den 1980er Jahren geherrscht hätten, hätten sich umgekehrt: Tiefe Zinsen, Deregulierung, Ausbau des Handels und globale Integration sind passé.

Kurzfristig sieht Oppenheimer zwar wieder sinkende Zinsen, aber die Ära von Nullzinsen und lockerer Geldpolitik der Zentralbanken sei endgültig vorbei. Und diese war für die satten Renditen der vergangenen Jahre verantwortlich.

Geschichten bewegen die Märkte

Oppenheimer glaubt deshalb, dass an den Finanzmärkten eine Zeitenwende bevorstehe. Er teilt aber den Optimismus vieler, dass kurzfristig eine Rezession abgewendet und die Wirtschaft «sanft landen» werde. Dank einem robusten Arbeitsmarkt und wieder mehr verfügbaren Einkommen – wenn die Inflation zurückgehe – werde das Wachstum unterstützt. So könne eine Rezession vermieden werden.

Obwohl die Zinsen in den vergangenen zwei Jahren in beispiellosem Tempo gestiegen sind, könnte der aktuelle Zyklus also ohne grösseren wirtschaftlichen Abschwung zu Ende gehen. Die Geschichte wird sich aber nicht wiederholen: «Die Ära extrem niedriger Zinsen wie nach der Finanzkrise kommt nicht zurück», sagt Oppenheimer. Und höhere Zinsen bedeuten, dass Kapital teurer wird, was die Renditen schmälert.

Märkte werden aber nicht durch ökonomische Daten bewegt, sondern durch Narrative und die Stimmung der Menschen, was sich in ihrer Bereitschaft ausdrückt, Risiken einzugehen. Derzeit befänden sich die Anleger in Wartestellung, stellt Oppenheimer fest. Sie halten viel Bargeld oder sind in sichere Geldmarktfonds investiert.

Doch gleichzeitig werden Investoren magisch von spannenden Geschichten angezogen, die hohe Renditen versprechen. So verwundert es wenig, dass neue Erzählungen wie die künstliche Intelligenz (KI) oder grüne Technologien auf viel Anklang stossen.

KI macht uns um 0,5 Prozent pro Jahr produktiver

Auch in einer immer unsichereren Welt halten die Menschen nach Wachstumschancen Ausschau. So erwartet der Geograf Oppenheimer, dass wir vor einem neuen, postmodernen «Superzyklus» stehen. In diesem werden die künstliche Intelligenz und neue, umweltfreundliche Energietechniken wichtige Rollen spielen.

Das sind zwar unterschiedliche, aber dramatische Schocks für die Weltwirtschaft, die gleichzeitig wirken. Der Anlageexperte geht davon aus, dass vor allem die Auswirkungen von KI rasch spürbar würden, denn die Technik baue auf bestehenden Technologien auf. So könne sie schnell in die Unternehmensabläufe integriert werden.

Das unterscheidet KI von früheren transformativen Technologien wie der Dampfmaschine oder der Elektrifizierung, für die zuerst eine eigene, teure Infrastruktur aufgebaut werden musste. Im Gegensatz zu früheren Technologien, die körperliche Arbeit ersetzt haben, ersetze KI geistige Leistungen, was direkt zu höherer Produktivität in vielen Branchen führe.

Für Oppenheimer ist KI nicht bloss eine Geschichte, sondern ein neuer Produktionsfaktor. In den nächsten zehn Jahren verspreche KI eine Produktivitätsverbesserung von etwa einem halben Prozent jährlich. Der Produktivitätsschub werde auch dadurch messbar, dass bestimmte Jobs durch Computer ersetzt würden, die auch komplexe Aufgaben übernähmen.

«Weltweit könnten 300 Millionen Arbeitsplätze durch KI gefährdet sein», sagt der Stratege. Historisch betrachtet hätten aber neue Technologien, die zunächst Jobs vernichteten, langfristig Arbeitsplätze in neuen Branchen geschaffen und die Verluste ausgeglichen. «Wir stehen am Anfang eines positiven Schocks für die Wirtschaft», davon ist er überzeugt.

Wer trägt die Kosten der Dekarbonisierung?

Doch nicht nur die KI-Euphorie spielt im neuen Superzyklus eine Rolle, sondern auch Technologien, die den Ausstoss von Treibhausgasen minimieren. Die Dekarbonisierung betrifft aber die physische Welt, während sich KI auf die virtuelle konzentriert. Das erfordert den Aufbau einer neuen Infrastruktur, die sehr teuer ist.

«Das grösste Problem der Dekarbonisierung liegt in der Finanzierung und Verteilung der Kosten», sagt Oppenheimer. Es könnten die Konsumenten sein, welche die zusätzlichen Kosten direkt tragen, bis hin zu den Staaten, die für sie über Subventionen oder Steuervergünstigungen aufkommen.

Doch trotz diesen Verteilkämpfen glaubt Oppenheimer, dass auch die Dekarbonisierung transformative Kraft hat: «Gelingt der Übergang, haben wir nicht nur eine saubere Wirtschaft, sondern auch sehr niedrige Grenzkosten für Energie. Das gibt wirtschaftlichen Schub», sagt er.

Derzeit konzentrieren sich die Märkte aber auf die Probleme grüner Technologien. Aktien von Cleantech-Unternehmen durchlaufen seit zwei Jahren eine Durststrecke, während Aktien mit KI-Bezug seit der Lancierung von Chat-GPT Ende 2022 durch die Decke gehen.

Die Bewertungen von Cleantech-Firmen litten besonders stark unter den steigenden Zinsen. Ein Nachteil sei die lange Zeit bis zur Amortisation ihrer Investitionen in der Zukunft. Die grossen Tech-Unternehmen, die von der KI-Geschichte profitieren wie Microsoft oder Meta, schneiden besser ab: Sie sind schon profitabel und haben starke Bilanzen. «Es gibt keine Spekulationsblase wegen KI im Tech-Sektor», sagt er.

Stabile Cashflows und Dividenden sind attraktiv

Doch was bedeutet der neue «Superzyklus» für Anleger, wenn man sich nicht mehr darauf verlassen kann, dass die tiefen Zinsen die Aktienmärkte in ihrer ganzen Breite nach oben schwemmen?

Gemäss Oppenheimer eignen sich vor allem qualitativ hochwertige Unternehmen in aufstrebenden Branchen, die das verdiente Geld wieder investieren, um Gewinne und Renditen zu verbessern. Solche Unternehmen finden sich vor allem im Technologiesektor, aber auch im Gesundheitsbereich.

Im neuen Zyklus können aber auch Unternehmen attraktiv sein, die nicht unbedingt schnell wachsen, aber stabile Cashflows erzielen und diese in Form von Dividenden oder Aktienrückkäufen den Aktionären zurückführen. Aktien, die diesen Kriterien entsprechen, finden sich typischerweise in der Energiewirtschaft oder im Finanzbereich, wobei die Banken weiterhin vom Umfeld mit erhöhten Zinsen profitieren werden.

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