Sonntag, September 29

Der neue Premierminister offenbart im Umgang mit Affären politische Naivität. Sein Erfolg wird aber von der Fähigkeit abhängen, Reformen ohne ideologische Scheuklappen durchzusetzen.

Eigentlich hätte beim dreitägigen Kongress der Labour-Partei in Liverpool Euphorie herrschen müssen. Erstmals seit vierzehn Jahren sitzt Labour nicht mehr auf den Oppositionsbänken, sondern an den Schalthebeln der Macht. Bei der Unterhauswahl vom 4. Juli errang die Partei nach einem taktisch geschickten Wahlkampf 411 der 650 Unterhaussitze. Das ist eine der grössten Parlamentsmehrheiten der britischen Geschichte.

Selbstverschuldete Affären

Doch eine Reihe von selbstverschuldeten Affären drückte diese Woche in Liverpool auf die Stimmung. In die Schlagzeilen geraten war Labour wegen Skandälchen rund um teure Kleider, Sport- und Konzerttickets sowie andere Geschenke, die Starmer, seine Gattin Victoria und mehrere Kabinettsmitglieder angenommen hatten. Für eine Welle anonymer Kritik aus dem Regierungsapparat sorgten überdies der Führungsstil und das Salär von Starmers Stabschefin Sue Gray, die mit jährlich 170 000 Pfund mehr verdient als der Premierminister.

Vor wenigen Wochen noch hatte Starmer vor seinem Amtssitz an der Downing Street Nummer 10 erklärt, er wolle die «Fäulnis» im britischen Staat ausrotten und das Land in eine neue Ära der Integrität führen. Kaum drei Monate im Amt, weckt Starmers Regierung bereits ungute Erinnerungen an Boris Johnsons Party-Affären und die konservativen Intrigen und Machtkämpfe in den letzten Jahren.

Starmer und seine Entourage liessen die jüngsten Affären viel zu lange gedeihen, womit sie erstaunliche kommunikative Schwächen und politische Naivität offenbarten. Die Opposition lacht sich ins Fäustchen. Konservative Kommentatoren erklären Starmer bereits für moralisch bankrott und gescheitert. Politisch gefährlich ist für die Regierung vor allem der Eindruck, Starmer und sein Gefolge wollten der Bevölkerung schmerzhafte Sparmassnahmen und Steuererhöhungen aufbürden, während sie für sich selber allerhand Vergünstigungen und Vorteile einheimsten.

Dirigistische Instinkte

Dennoch sind die Schwanengesänge auf Starmer verfrüht. Sein Erfolg wird letztlich nicht vom holprigen Start seiner Amtszeit abhängen, sondern von seiner Fähigkeit, Reformen durchzusetzen, welche die Lebensrealität der Bevölkerung bis zur nächsten Unterhauswahl in fünf Jahren spürbar verbessern.

Hatte Starmer bisher vor allem den desolaten Zustand des Landes nach vierzehn Jahren konservativer Herrschaft beklagt, legte er bei seiner Rede am Parteitag den Fokus auf seine Ziele: stärkeres Wirtschaftswachstum, geringere Wartezeiten im Gesundheitswesen, intensiver Hausbau gegen die Wohnungskrise, saubere Flüsse und Seen, sichere Strassen und Grenzen, mehr einheimische und grünere Energiequellen. Dabei versprach Starmer den Briten nicht das Blaue vom Himmel. Er bat vielmehr um Geduld und Verständnis dafür, dass grundlegende Reformen Zeit brauchten und dass die Konsolidierung des maroden Staatshaushalts mit Opfern verbunden sein werde.

Der Premierminister verfügt mit seiner riesigen Parlamentsmehrheit über den nötigen Handlungsspielraum, um unbequeme Massnahmen durchzusetzen. Bereits hat er erste Abweichler aus der Fraktion geworfen, um seine Autorität und die parteiinterne Disziplin zu stärken. Gegen den Widerstand des linken Flügels setzte er mit harter Hand den Beschluss durch, staatliche Heiz-Zuschüsse künftig nicht mehr mit der Giesskanne an sämtliche Rentner auszuschütten, sondern nur noch an besonders bedürftige.

Das sind ermutigende Signale. Insgesamt bleibt aber fraglich, ob Starmer auf die richtigen Rezepte setzen wird. In Liverpool stimmte er das Land auf Steuererhöhungen ein. Um die rekordhohe Arbeitsmigration zu reduzieren, versprach er zudem neue Vorschriften für die Wirtschaft – was er als Fanal für mehr staatliche Eingriffe bezeichnete. Starmer muss aufpassen, dass er mit seinen dirigistischen Instinkten nicht jenes Wirtschaftswachstum abwürgt, das er zur Sanierung der Infrastruktur und zur Finanzierung seiner Reformen dringend braucht.

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