Die Tories liegen in den Umfragen weit zurück. Doch auch der Labour-Chef Keir Starmer spürt die Last der Geschichte auf seinen Schultern.

Der britische Politbetrieb ist fixiert auf Meinungsumfragen. Eine ganze Armee von Demoskopen erforscht die Neigungen der Wählerinnen und Wähler, die Beliebtheit der Parteien sowie die Themen, die der Bevölkerung unter den Nägeln brennen. Gleichzeitig lieben die geschichtsbewussten Briten historische Präzedenzfälle. Nur wenn sich ein Szenario bereits einmal realisiert hat, wirkt es plausibel.

Sowohl die Umfragen wie auch die Geschichte zeigen, welch schwierige Aufgabe der britische Premierminister Rishi Sunak nach der Ankündigung der um einige Monate vorgezogenen Parlamentswahl am 4. Juli vor sich hat. Die Konservative Partei liegt in den Umfragen rund 20 Prozentpunkte hinter der Labour-Opposition zurück. Sunak bleiben bis zum Wahltag bloss sechs Wochen, um diesen riesigen Rückstand wettzumachen.

Konservative im Umfragetief

Bei der Unterhauswahl 2019 hatte die Konservative Partei unter Boris Johnson noch einen Erdrutschsieg errungen. Zwei Ereignisse haben seither zum Popularitätseinbruch geführt: Der Unmut über Johnsons ungestümen Regierungsstil gipfelte in der Affäre um die Partys, die Johnsons Mitarbeiter an seinem Amtssitz an der Downing Street im Widerspruch zu den strengen Corona-Restriktionen feierten. Dann provozierte Johnsons Nachfolgerin Liz Truss mit ihren Plänen für ungedeckte Steuersenkungen eine Krise an den Finanzmärkten – worauf das Vertrauen in die Konservativen endgültig in den Keller fiel.

Labour hat die Tories in den Umfragen distanziert

Wahlabsicht bei der Unterhauswahl, in Prozent der Befragten

Sunak ist es seit seinem Amtsantritt im Herbst 2022 nicht gelungen, diesen Rückstand in den Umfragen aufzuholen. Das hat mit der Hypothek seiner Vorgänger zu tun. Es ist kein Zufall, dass Labour den Losung «Stop the Tory Chaos» zum Wahlkampfslogan erkoren hat. Zudem kann der technokratische Sunak abgesehen von der Stabilisierung der Wirtschaft und der Reduktion der Inflation auch wenig substanzielle Erfolge vorweisen.

Dass die Labour-Partei als Favoritin in den Wahlkampf steigt, ist daher keine Folge der eigenen Stärke, sondern eine Folge der Schwäche der Konservativen. Eine Hypothek für Labour ist auch das mangelnde Charisma des Oppositionschefs Keir Starmer. Während in Umfragen 33 Prozent der Bevölkerung eine positive Meinung zu Starmer äussern, beurteilen ihn 53 Prozent negativ. Damit ist der Labour-Chef zwar weniger unpopulär als Sunak. Doch verfügt der ergraute Starmer im Volk über deutlich tiefere Sympathiewerte, als sie die dynamisch wirkenden Tony Blair und David Cameron zum Zeitpunkt ihrer ersten Wahlsiege 1997 und 2010 genossen.

Unpopuläre Kandidaten und Parteien

Antworten auf die Frage «Haben Sie eine vorteilhafte oder eine unvorteilhafte Meinung zu dieser Person oder Partei?», in Prozent

Die konservativen Strategen hoffen, dass die Skepsis gegenüber Starmer zunimmt, wenn sich die Bevölkerung bis zum Wahltag genauer mit Labour befasst. Bis jetzt hat Starmer kaum detaillierte Pläne präsentiert und sich darauf beschränkt, möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten. Labour wird die Bevölkerung mit dem wirkungsvollen Schlachtruf ködern, es sei nach vierzehn Jahren konservativer Herrschaft Zeit für einen Wechsel. Die Tories werden versuchen, eine Stimme für Labour als Risiko darzustellen, dass das Land vom Pfad der sich in letzter Zeit unter Sunak andeutenden Erholung abkommen könnte.

Die wichtigsten Probleme sind für die Bevölkerung die Wirtschaftslage und die hohen Lebenskosten. Danach folgen das Gesundheitswesen, die Migrationspolitik und der Wohnungsmangel. Themen wie die Sicherheitspolitik, der Kulturkampf um Klima- oder Gender-Fragen und der Krieg in Gaza könnten die Labour-Wähler spalten, doch beschäftigen sie das Gros der Bevölkerung bis anhin weit weniger stark.

Ist eine Aufholjagd möglich?

Isaac Levido, Sunaks Kampagnendirektor, argumentiert, dass sich jeder Umfragevorsprung in Luft auflösen könne. 2017 rief Premierministerin Theresa May mit einem Polster von 17 Prozentpunkten Neuwahlen aus. Bis zum Wahltag war der Vorsprung auf den Wähleranteil von Labour auf 2,4 Prozentpunkte geschmolzen – worauf die Tories ihre absolute Mehrheit im Unterhaus verloren.

Auch 1992 verwandelte John Major einen Labour-Umfragevorsprung in einen konservativen Überraschungssieg. Denkbar ist aber auch, dass sich das Szenario von 1997 wiederholt. Damals münzte Tony Blair einen grossen Umfragevorsprung der Labour-Partei in einen Erdrutschsieg um. Majors Regierung hatte sich nie von dem Fiasko rund um die Pfund-Abwertung im Herbst 1992 erholt.

Doch auch Starmer spürt die Last der Geschichte auf seinen Schultern. Politologen haben errechnet, dass die Labour-Partei im Vergleich zur Wahl von 2019 ihren Wähleranteil um fast 13 Prozentpunkte zulasten der Konservativen erhöhen müsste, um zu gewinnen. Ein solches Kunststück ist seit dem Zweiten Weltkrieg noch keiner Partei gelungen. Seit dem Wahlsieg von Clement Attlee von 1945 ist es Labour zudem erst dreimal geglückt, die Konservativen von der Macht zu verdrängen – unter Harold Wilson 1964 und 1974 und Tony Blair 1997.

Sitzverteilung im Unterhaus

Stand nach der Neuwahl im Dezember 2019

650 Sitze

Konservative

365

Sitze

+47

Liberaldemokraten

11

Sitze

–1

Schottische Nationalpartei

48

Sitze

+13

Nordirische Unionisten

8

Sitze

–2

Selbst wenn der enorme Vorsprung Labours in den nächsten sechs Wochen in sich zusammenfallen sollte, ist derzeit kaum vorstellbar, dass die Konservativen aus eigener Kraft im Unterhaus auf eine Mehrheit kämen. In einem «hung parliament» ohne klaren Wahlsieger hätte Labour politisch mehr Optionen, um mit Blick auf die Regierungsbildung mit den Liberaldemokraten oder der Scottish National Party (SNP) Allianzen einzugehen.

Andere Ausgangslage als 2019

Die Wahl von 2019 hatten die Tories dank dem Charisma von Boris Johnson und der Mobilisierungskraft des Brexits gewonnen. Zugleich löste der damalige altlinke Labour-Chef Jeremy Corbyn bei moderaten Wählern grosse Abwehrreflexe aus. Und auch die Brexit Party von Nigel Farage leistete Wahlunterstützung für die Tories, indem sie in konservativen Wahlkreisen keine eigenen Kandidaten aufstellte – aus Angst, Labour zum Sieg zu verhelfen und so die Umsetzung des Brexits zu gefährden.

Fünf Jahre später ist die Ausgangslage für Rishi Sunak ungleich schwieriger: Keir Starmer hat Labour zurück ins politische Zentrum geführt und Corbyn aus der Partei geworfen. Gleichzeitig will Reform UK, die Nachfolgeorganisation der Brexit Party, den Tories ganz gezielt von rechts das Wasser abgraben – auch wenn Farage zur grossen Erleichterung der Konservativen auf eine persönliche Kandidatur verzichtet. Hinzu kommt, dass Labour am 4. Juli im Vergleich zu 2019 von der akuten Formschwäche der SNP in Schottland profitieren dürfte.

Will Sunak im Amt bleiben, muss er daher in den nächsten sechs Wochen als Wahlkämpfer über sich hinauswachsen. Und er muss darauf hoffen, dass sich die dramatische Unberechenbarkeit der britischen Politik der letzten Jahre fortsetzt.

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