Yan Lianke ist von den in China verbliebenen Autoren einer der wenigen, der es noch mit dem System aufnimmt – mit der Technik eines grotesken Symbolismus.

In Lederschlappen läuft Yan Lianke durch seinen neuen Roman. Wortlos stürmt er an Niannian vorbei, der diese Geschichte erzählt, und «sein Gesicht sah aus wie ein Buch, das von falschen Schriftzeichen wimmelte und das niemand las». Onkel Yan stürmt nach Hause, denn im Dorf Gaotian ist in dieser Nacht die Welt aus den Fugen geraten. Die Menschen sind in ein kollektives Schlafwandeln verfallen. Einige arbeiten dabei mechanisch weiter, andere marodieren durchs Dorf. Sie prügeln sich, vergewaltigen die Frauen und bestehlen die Nachbarn.

Nur der 14-jährige Niannian versucht verzweifelt, das Schlimmste zu verhindern in dieser albtraumhaften Nacht, in der mit aufziehenden roten Flaggen auch die vielen Politkampagnen der jüngeren chinesischen Geschichte evoziert werden. Es ist «der Tag, an dem die Sonne starb», von dem Niannian berichtet, denn der leicht behinderte, gutherzige Knabe neigt nicht zum Schlafwandeln: «Jetzt zum Beispiel ist mein Kopf wie eine offene Dachluke. Ich sehe den Himmel. Und die Erde. Und die ganze Wahrheit jener Nacht. Alles bis in die kleinste Kleinigkeit steht mir vor Augen.» Eine tiefschwarze Geschichte – hellsichtig erzählt.

Kollektives Schlafwandeln

Eigentlich wäre es ja der Job von Onkel Yan gewesen, diese unerhörte Geschichte zu erzählen. «Aber inzwischen schreibt er nicht mehr», erklärt Niannian, «weil er jene Nacht erlebt hatte und trotzdem unfähig war, sie in Worte zu fassen, ist er als Schriftsteller wahrscheinlich schon tot.» Mit so viel bitterem Witz hat sich selten ein Autor demontiert. Am Ende war es natürlich doch der real existierende und inzwischen 65 Jahre alte Yan Lianke – vielfach preisgekrönter Autor und Literaturprofessor an renommierten Universitäten in Peking und Hongkong –, der dieses Buch geschrieben und Niannian erfunden hat.

Trotzdem ist es Yan durchaus ernst damit, wenn er notiert, es sei ihm unmöglich, eine solche Nacht zu beschreiben. Denn das Schlafwandeln ist gemäss Yan zum vorherrschenden Bewusstseinszustand seiner Landsleute geworden. «Der Roman handelt von Träumen, oder eher von Albträumen», sagte er 2019 im Interview mit dem amerikanischen National Public Radio (NPR) und ergänzte: «Dies beschränkt sich nicht auf die Ära Xi Jinping. Vielmehr erlebt China seit 1949 eine Reihe von Albträumen, einen nach dem anderen, es sind hellwache Albträume.»

Man denkt dabei an anfängliche Misswirtschaft und Hungersnot, an politische Kampagnen wie die Kulturrevolution, anhaltende Verfolgung einzelner Personen oder ganzer Volksgruppen, die Niederschlagung der Demokratiebewegung 1989 und das sich zeitgleich entwickelnde chinesische Wirtschaftswunder. Hinzu kommt die staatlich verordnete Amnesie, was politische Exzesse angeht. Deshalb treibt Yan Lianke ja auch die Frage um, was Wirklichkeit eigentlich ist und mit welchen literarischen Mitteln ein Autor sie erfassen kann. «Die chinesische Realität ist so ungeheuerlich», sagte er etwa der Zeitschrift «The New Yorker» (2018), «dass man ihr nicht trauen kann. Sie setzt Realismus ausser Kraft.»

Ringen um die Wirklichkeit

Yan Lianke hat fast alle Katastrophen der Volksrepublik miterlebt. Geboren wurde er 1958 in der Nähe der berühmten Stadt Luoyang in der Provinz Henan. Schlimmer Hunger prägte seine ersten Lebensjahre. Es war die Zeit nach dem missglückten «Grossen Sprung nach vorn». Bald darauf brach die Kulturrevolution aus. Als junger Mann wollte Yan unbedingt raus aus dem Dorf und hinein in die Stadt. Das gelang ihm 1978 – zwei Jahre nach Maos Tod –, denn er konnte gut schreiben und verpflichtete sich für die Volksbefreiungsarmee. So wurde er Militärautor, schrieb Reden für seine Vorgesetzten und Geschichten, die sich ins Regelwerk des sozialistischen Realismus fügten. Wobei sicherlich kaum etwas so unrealistisch ist wie sozialistischer Realismus.

Vielleicht nahm Yan Liankes Ringen um die Wirklichkeit hier seinen Ausgang. Seine ersten Bücher waren politisch unstrittig, doch 1994 wurde erstmals ein Buch von ihm verboten. Auch «Dem Volke dienen» – diese wüste Kulturrevolutionsgeschichte, in der ein Soldat mit der Frau seines Vorgesetzten durch die Betten tobt und Mao-Devotionalien schändet – wurde schnell aus dem Verkehr gezogen. Der Roman ist in seiner Wildheit untypisch für Yan Lianke, weswegen er ihn heutzutage ein wenig belächelt.

Wichtiger ist ihm das groteske Dorfepos «Lenins Küsse», das 2004 auf Chinesisch erschien und dessentwegen er die Armee verlassen musste. Darin wollen Dörfler aus Yans Heimatprovinz Henan, wo fast alle seine Bücher spielen, Lenins Leichnam ankaufen und ausstellen. Um das nötige Geld dafür zu verdienen, gründen sie einen Zirkus, in dem nur Behinderte auftreten.

Auch wichtig: das symbolistische Meisterwerk «Die vier Bücher», das zur Zeit der Grossen Hungersnot von internierten Akademikern in einem Umerziehungslager erzählt, sowie der Roman «Der Traum meines Grossvaters» über Aids-Dörfer in China, in denen sich viele Menschen infiziert haben, weil sie ihr Blut verkaufen wollten. Die meisten seiner Bücher sind in China verboten und erscheinen in Taiwan. «Ach ja. Der Onkel Yan», kommentiert Niannian die literarische Produktion des lederschlappigen Yan Lianke in «Der Tag, an dem die Sonne starb» auf verständnislose Weise liebevoll, «ich weiss nicht, warum er jedes seiner Bücher schreibt, als wäre es ein chaotisches Gräberfeld.»

Wo anfangen?

Wahrscheinlich weil es das ist, was Yan Lianke sieht, wenn er am Lack der Realität kratzt. Vor einigen Jahren fasste Yan seine Überlegungen zum Verhältnis von Realismus und Literatur in dem hochinteressanten Buch «Discovering Fiction» zusammen. Aufgrund dieses Buches und seiner zahlreichen und überraschend offenen Interviews ist er der einzige chinesische Autor, der bei uns auch als Theoretiker wahrgenommen wird.

In seinem Buch beklagt er für seine Heimat, «dass wir keine grossen Autoren und literarischen Werke haben, die unserer heutigen Zeit gerecht werden könnten», was daran liegt, «dass unsere Literatur lange Zeit versucht hat, die Realität lediglich zu beschreiben, anstatt sie aktiv zu erkunden». Yan selbst versucht dies mit einer Technik, die er Mythorealismus nennt und die «sich auf Imaginationen, Allegorien, Mythen, Legenden, Traumlandschaften und magische Verwandlungen stützt, die dem Boden des täglichen Lebens und der sozialen Realität erwachsen». Das klingt zunächst weltfremd, löst sich aber bloss von allzu anerkannten, vordefinierten Kausalitäten und erkundet die Tiefenschichten einer opaken Wirklichkeit.

Trotz seinen überragenden Büchern ist Yan Lianke bislang nicht zufrieden mit seiner realitätsanalytischen Leistung. Daher ist sein Onkel Yan auch so überwältigt von den Ereignissen der Nacht, in der die Situation im Dorf Gaotian eskaliert, und es «stand ihm die übermächtige Wirklichkeit dieser einen Nacht vor Augen, und er wusste einfach nicht, wo er anfangen sollte. Und da verzweifelte er an seinen schriftstellerischen Fähigkeiten». Niannian aber glaubt weiterhin fest an den sich quälenden Autor, und so bleibt ihm «am Ende gar nichts anderes übrig, als Onkel Yans Bücher zu lesen, egal wie schlecht sie auch waren».

Yan Lianke: Der Tag, an dem die Sonne starb. Aus dem Chinesischen von Marc Hermann. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2024. 368 S., Fr. 37.90.

Yan Lianke stellt am Mittwoch, 15. Mai, um 19 Uhr 30, im Zürcher Literaturhaus im Gespräch mit Manfred Papst seinen Roman vor.

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