Nach Monaten des Krieges herrschen in weiten Teilen des Gazastreifens Anarchie und Chaos. Jetzt wollen die Israeli mithilfe lokaler Clans für Sicherheit sorgen. Aber wie kann das funktionieren?
In Rafah gebe es fast nichts mehr, sagt eine Palästinenserin am Telefon. «Wir essen Konserven und das bisschen, was wir noch finden.» Die Frau, die ihren Namen nicht nennen will, lebt mit ihrer Familie derzeit in einem Zelt in Rafah, der südlichsten Stadt des Gazastreifens. Der Ort an der Grenze zu Ägypten ist ein Tor zur Hölle. Oben am Himmel donnern die israelischen Kampfflugzeuge und Drohnen. Unten auf den Strassen herrscht Chaos.
«Die Lebensmittelpreise sind ins Unermessliche gestiegen», sagt die Frau. Ein Kilo Kartoffeln koste jetzt umgerechnet 5 Franken, ein Ei 2 Franken. Überhaupt: Kaufen könne man so gut wie kaum mehr etwas. «Die Lebensmittel, die geliefert werden, verschwinden. Wir wissen nicht, wohin», sagt sie.
Alles wird gestohlen, auch Hilfsgüter
Nach fast fünf Monaten Krieg ist im zerstörten Gazastreifen die öffentliche Ordnung zusammengebrochen. Die Sicherheitskräfte der Hamas, die hier zuvor mit eiserner Hand für Ordnung sorgten, sind entweder tot oder auf der Flucht. Seither herrscht in der von einer humanitären Katastrophe betroffenen Küsten-Enklave vermehrt brutale Anarchie.
Alles werde gestohlen, sagt die Frau, auch Hilfsgüter. «Vieles verschwindet, um dann zu überhöhten Preisen auf den Märkten wieder aufzutauchen.» Weil keine Polizei mehr existiere, könne niemand die Diebe aufhalten.
In letzter Zeit drangen immer wieder schreckliche Bilder aus Gaza nach draussen: von verzweifelten Zivilisten, die Hilfslieferungen zu stürmen versuchen. Videoaufnahmen zeigen Menschen, die aus der Luft abgeworfene Hilfspakete aus dem Meer fischen. Gleichzeitig tauchen bewaffnete Gruppen auf, von denen keiner weiss, ob sie dazu da sind, die Ware zu schützen oder zu entwenden.
Clans sollen in Zukunft für Sicherheit sorgen
Nun wollen die Israeli Abhilfe schaffen und zumindest indirekt für Ordnung sorgen. So erklärte Verteidigungsminister Yoav Galant kürzlich, man wolle in Zukunft in Gaza mit lokalen Clans zusammenarbeiten, um für mehr Sicherheit zu sorgen. Aber wer sind diese Clans? Und wer garantiert, dass es sich bei ihnen nicht um genau die Leute handelt, die jetzt für Chaos und Anarchie sorgen?
«Stammes- und Clanstrukturen können keine staatliche Ordnung ersetzen», sagt der Anthropologe Dag Henrik Tuastad von der Universität Oslo, der zu den Clans in Gaza forschte. Die meist durch Familienbande zusammengehaltenen Sippen könnten in Zeiten der Krise zwar ein gewisses Mass an Sicherheit bieten. «Gleichzeitig treiben sie das Chaos und die Anarchie aber auch voran.»
Zudem sind die Clans im Gazastreifen heterogen. «Gaza ist kein Stammesland wie etwa Jemen», sagt Tuastad. Im Süden der überbevölkerten Küsten-Enklave sind Beduinenstämme einflussreich, in den Städten sind es alteingesessene Familien. Dazu kommen die Flüchtlinge, die nach der Gründung Israels 1948 in den Streifen strömten und in ihren Lagern längst eigene Strukturen gebildet haben.
Weitverzweigte Vermittler
Die Israeli sind nicht die Ersten, die diese Netzwerke nutzen wollen. In den neunziger Jahren hatte bereits die Fatah des PLO-Chefs Yasir Arafat lokale Gruppen wie etwa den Hilles-Clan in die Sicherheitsdienste eingebunden. Als dann 2007 die Hamas die Macht übernahm, versuchte sie erst, die Grossfamilien mit Gewalt zu entwaffnen. Später sahen die Islamisten ein, dass es vernünftiger war, mit ihnen zu leben – und schufen entsprechende Strukturen.
«Die Clans übernahmen eine Vermittlerrolle», sagt Tuastad. «Sie stellten den Mukhtar, den lokalen Bürgermeister, und bildeten Räte, die mit der Hamas zusammenarbeiteten.» Regierungsgewalt ausüben können sie deshalb aber noch lange nicht. «Viele Clans sind weitverzweigt und haben Mitglieder in allen möglichen Fraktionen – auch bei der Hamas.» Die Vorstellung, dass die beiden Welten strikt getrennt seien, sei illusorisch.
Zudem erinnern sich viele Leute in Gaza mit Schaudern an jene Zeit, als die Clans hier zum letzten Mal das Sagen hatten. Nachdem die Israeli 2005 aus dem Küstenstreifen abgezogen waren, hinterliessen sie ein Vakuum, in das alle möglichen Gruppen eindrangen. Neben der Hamas und der Fatah, welche sich damals bekämpften, teilten auch Clans und bewaffnete Gangs den Gazastreifen unter sich auf. Es kam zu einem blutigen Chaos.
Die Hamas will gegen Kollaborateure vorgehen
Ganze Gruppen glitten in die Kriminalität ab – wie Teile des mächtigen Dogmush-Clans, der auch die «Sopranos von Gaza» genannt wird. Einige dieser Clan-Angehörigen schlossen sich salafistischen Splittergruppen an, machten mit Entführungen und Morden von sich reden und wurden von Hamas-Sicherheitskräften gejagt. Andere Gruppen kümmerten sich um den lukrativen Schmuggel an der Grenze zu Ägypten, von dem auch die sonst so auf Moral erpichten Islamisten profitierten.
Nun droht ein ähnliches Szenario. Allerdings seien viele Familienstrukturen durch die schweren Bombardierungen und die Flucht strapaziert worden, sagt Tuastad. «Früher hatten die Clans eigene Territorien. Jetzt sind ihre Mitglieder überall verteilt.» Auch deshalb bezweifelt der Anthropologe, dass traditionelle Clans für den Diebstahl von Hilfslieferungen verantwortlich sind. «Vermutlich handelt es sich eher um spontan entstandene Gangs, die die Gelegenheit nutzen.»
Schliesslich ist auch fraglich, ob sich die Clans von Israel überhaupt als Ordnungsmacht einspannen lassen wollen. Vor kurzem schon hatte die Hamas mitgeteilt, hart gegen Kollaborateure vorgehen zu wollen. Kurz darauf meldeten israelische Zeitungen, die Islamisten hätten aus diesem Grund einen Führer des Dogmush-Clans exekutiert; die Hamas weist das zurück. Unabhängig überprüfen lässt sich der Vorfall nicht.
«Egal ob Clans oder Parteien – alle stehlen und rauben»
Im Gespräch mit dem amerikanischen Radiosender NPR schloss ein Vertreter des Obersten Stammeskomitees von Gaza kategorisch aus, mit dem Feind zusammenarbeiten zu wollen. Das sei eine rote Linie, sagte er. Doch wie viel die Clan-Chefs überhaupt noch zu sagen haben, ist fraglich. «Die alten Führer haben nicht mehr die gleiche Autorität wie früher», sagt Tuastad. Längst habe die Hamas grossen Einfluss auf die Clans und könne auch aus dem Versteckten auf sie einwirken.
Für die traumatisierten Bewohner des Gazastreifens macht das offenbar keinen Unterschied. «Ganz ehrlich, wir wissen nicht mehr, wer hier welche Macht innehat», sagt die Frau aus Rafah, bevor die Telefonverbindung wieder einmal abbricht. Am Ende würden sich die meisten Gruppen ziemlich ähnlich verhalten. «Egal ob Clans oder politische Parteien: Alle stehlen und rauben.»

