Freitag, Oktober 18

Warum es so viele Corona-Fälle in der Schweiz und Deutschland gab. Und was das für die Zukunft bedeutet. Eine Analyse.

Gefühlt hatte nahezu jede und jeder in den vergangenen Monaten (wieder einmal) eine Corona-Infektion. Alles nur Bauchgefühl, oder war es wirklich eine der höchsten Corona-Wellen seit Beginn der Pandemie?

«Dass es diesen Herbst eine richtig grosse Welle gab, dem stimmen alle Ärzte und andere Experten zu», sagt der Infektiologe und Virenexperte Huldrych Günthard vom Universitätsspital Zürich. «Vor Oktober hatten wir pro Tag zwischen 5 und 30 positiv Getestete im Spital. Ab Oktober waren es bis zu 65 pro Tag. Seit gut zwei Wochen nehmen die Zahlen deutlich ab.» In den meisten Spitälern werden nahezu alle Patienten mit Erkältungssymptomen auf Corona getestet.

Allerdings fehlen Daten, um die gerade zu Ende gehende Welle detailliert mit den vorherigen zu vergleichen. Bis Ende 2022 wurden sehr viele offizielle Tests durchgeführt, auf denen die Angaben zu Infizierten basieren. Diese gibt es seit 2023 so nicht mehr. Sowohl die Behörden in der Schweiz als auch jene in Deutschland wissen also gar nicht, wie viele Menschen sich in den letzten Monaten tatsächlich mit dem Coronavirus infiziert haben.

Wie gross war die Corona-Welle?

Den zuverlässigsten Hinweis auf die Grösse der Welle liefert das Abwassermonitoring. In ausgewählten Kläranlagen in der Schweiz sowie in Deutschland wird täglich erfasst, wie viele Bestandteile von Coronaviren sich im Abwasser befinden. Laut Experten spiegelt dies sehr gut die Infektionslage in der Bevölkerung wider.

Die Abwasserdaten deuten darauf hin, dass es eine der grössten oder sogar die grösste Corona-Welle gewesen sein könnte.

«Verantwortlich für die vielen Infektionen waren zwei Corona-Varianten, zuerst jene namens EG.5, auch Eris genannt, seit Ende November 2023 dann die JN.1-Variante», sagt Pauline Vetter, Virologin und Infektiologin am Universitätsspital Genf. Der «Erfolg» der Varianten beruht auf mehreren Faktoren.

So nimmt die Menge an schützenden Antikörpern gegen Sars-CoV-2, die nach einer Infektion oder einer Impfung im Körper gebildet werden, im Laufe der Monate ab. Oftmals ist nach einem Jahr die körpereigene Abwehrtruppe dann zu klein, um einen neuen Virenschwall, ausgehustet vom Sitznachbarn im Restaurant oder im Gruppenmeeting, sofort auszuschalten.

Zudem ist das Coronavirus nach wie vor so wandlungsfähig, dass immer wieder neue Varianten entstehen, die unserem Immunsystem entkommen können. So weist die zuletzt aufgetauchte Variante JN.1. mehr als 30 genetische Veränderungen im Vergleich zu den Vorläuferviren auf. Viele dieser Veränderungen betreffen das Spike-Protein, den Stachel auf der Virushülle. Gegen diesen sind viele der schützenden Antikörper gerichtet. Weist der Stachel einer neuen Virusvariante sehr viele Veränderungen auf, dann erkennen die im Körper zirkulierenden Antikörper diesen nicht mehr gut. Somit werden die eindringenden Viren nicht abgeblockt und können Zellen im Nasen-Rachen-Raum oder gar in der Lunge infizieren.

«Wir haben bei unseren Virusanalysen Hinweise darauf gefunden, dass JN.1 infektiöser ist als frühere Varianten», sagt Isabella Eckerle von der Universität Genf. Das bedeutet, dass diese Virusvariante die menschlichen Zellen besser befallen und effizienter eindringen kann. Eventuell vermehren sich die Viren dann auch schneller.

Wie belastet waren die Spitäler?

Viele Menschen infizierten sich mit Corona, aber die Spitäler waren sowohl in der Schweiz als auch in Deutschland weniger belastet als in früheren Wellen. In Deutschland wurden nur halb so viele Menschen hospitalisiert wie zum Höhepunkt der Pandemie.

Der Grund: Der Schutz vor einer schweren Erkrankung ist durch frühere Infektionen sowie Impfungen nach wie vor robust.

Allerdings müssen Vorkehrungen getroffen werden, um Infektionen im Spital zu minimieren, insbesondere müssen Infizierte isoliert werden, was aufwendig und teuer ist.

«Im Unispital Zürich kamen die allermeisten Covid-Patienten nicht wegen der Corona-Infektion ins Spital», sagt Günthard. «Vielmehr waren sie wegen anderer Erkrankungen wie eines Beinbruchs oder einer geplanten Operation bei uns, meist entwickelten sie die Covid-Symptome erst bei uns.»

Hat Corona noch eine Auswirkung auf die Sterblichkeit?

Nach wie vor sterben Menschen an Covid. Der grösste Unterschied zu den Vorjahren ist aber, dass es bei der Übersterblichkeit keine Ausschläge mehr nach oben gibt. In den Vorjahren gab es bei den Menschen über 65 Jahre in der Schweiz immer mehr Todesfälle, als zu erwarten war. Das liess sich bis auf das zweite Halbjahr 2022 zu einem grossen Teil mit Covid-Toten erklären. Der genaue Einfluss von Corona auf die Sterblichkeit ist immer schwer zu bestimmen.

🇨🇭 2023 blieb eine signifikante Übersterblichkeit bei älteren Menschen in der Schweiz aus

Statistisch erwartbare und tatsächlich eingetretene Todesfälle pro Woche bei Menschen über 65 Jahre in der Schweiz

Tatsächlich verzeichnete Todesfälle

1

Über das Jahr 2023 bewegte sich die Sterblichkeit der über 65-Jährigen die meiste Zeit im statistisch erwartbaren Bereich.

Die weiterhin gefährdeten Personen lassen sich gut identifizieren: Fast immer sind es Patienten mit Vorerkrankungen, Lungenkranke, Krebspatienten oder jene mit einem schwachen Immunsystem. «Risikopatienten, die im Spital Covid bekommen, können wir zwar mittlerweile gut helfen», sagt Günthard. «Wir haben wirksame Medikamente, die wir vulnerablen Patienten sofort nach der Diagnose geben. So verhindern wir in den allermeisten Fällen schwere Erkrankungen.» Insofern sei bei einer Corona-Infektion die Situation besser als bei Influenza, dagegen gebe es keine vergleichbaren Medikamente.

Sorgen bereiten den Ärzten aber vor allem jene Risikopatienten, die zu Hause eine Corona-Infektion bekommen, das aber nicht sofort bemerken, weshalb sich die Viren ungebremst im Körper ausbreiten können. Laut Günthard stammen die meisten Covid-Todesfälle höchstwahrscheinlich aus dieser Gruppe.

Wie zuverlässig sind Corona-Tests noch?

Gerade für Vulnerable ist ein Selbsttest bei Erkältungssymptomen empfehlenswert. Die gängigen Tests aus der Apotheke erkennen auch die neuen Corona-Varianten so zuverlässig wie frühere Coronaviren. Wenn jemand Symptome aufweist, dann ist ein negativer Corona-Test zuverlässig. Der Betroffene kann davon ausgehen, dass er keine Corona-Infektion hat. Wenn allerdings jemand schon infiziert ist, aber noch keinerlei Anzeichen dafür zeigt, dann erkennen die Tests manchmal die Infektion nicht und liefern somit fälschlicherweise ein negatives Ergebnis.

Ist das die neue Normalität?

Ja, sagen Experten. Wenn nächsten Herbst bei vielen Menschen die letzte Corona-Infektion viele Monate zurückliegt, können sich auch wieder Zehntausende oder mehr anstecken. Zudem wird sich das Coronavirus weiterhin verändern. Wenn also eine Variante grassiert, die unserem Immunsystem entkommt, kann es auch wieder eine sehr hohe Welle geben.

Doch im Gegensatz zur Pandemiephase hat nahezu die ganze Bevölkerung einen sehr guten Schutz vor schweren Covid-Erkrankungen, der gemäss heutigem Wissensstand noch lange bestehen wird.

Kritisch für die Spitäler wird es dann, wenn gleichzeitig viele Atemwegserkrankungen, ausgelöst durch diverse Viren, auftreten. Die letzte Corona- und die letzte Influenzawelle erreichten die Schweiz noch zeitversetzt. Das kann sich in Zukunft ändern.

Mitarbeit: Anja Lemcke.

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