Gerade der Andrang von Flüchtlingen beweist den Erfolg liberaler Marktwirtschaften. Doch der Erfolg hat auch seine Tücken. Er mache die Menschen träge, schreibt der ehemalige Bundesrat Kaspar Villiger in seiner Analyse.
«Eine liberale Demokratie ist schneller und leichter zu zerstören als wiederherzustellen.» (Herfried Münkler in «Macht im Umbruch»)
Wenn ich mich frage, welche Ereignisse meine politischen Überzeugungen geprägt haben könnten, werde ich durchaus fündig. Die Erzählungen meines Vaters am Familientisch über seine Erfahrungen mit Nazideutschland nährten meine Abscheu vor Diktaturen. Das Scheitern des Prager Frühlings 1968, was mich erstmals zu einer Teilnahme an einer Demonstration veranlasste, bestärkte mich in dieser Haltung.
Als in den 1950er Jahren innovationsmüde Zigarrenfabrikanten zusammen mit den Gewerkschaften in Bern «zum Schutz der Arbeitsplätze» eine Tabakkontingentierung erwirkten, führte mein Vater einen einsamen Kampf dagegen. Fast wäre er daran zerbrochen, was ich wiederum am Familientisch mitbekam. Die Kontingentierung verfehlte natürlich ihr Ziel. Von den schutzsuchenden Firmen gibt es keine mehr, nur die zwei, die sich wehrten, existieren noch. Das prägte meine Einstellung zu protektionistischen Eingriffen in die Marktwirtschaft.
Der feierliche Gang mit Vater und Onkel nach Erreichen der Volljährigkeit an die Urne – anständig angezogen, versteht sich! – liess Stolz auf die direkte Demokratie aufkeimen. Als blutjunger Unternehmer und Präsident des Aargauischen Arbeitgeberverbandes wurde ich in der Überzeugung bestärkt, dass gute marktwirtschaftliche Rahmenbedingungen für die Schaffung von Wohlstand entscheidend sind.
Und als Politiker erkannte ich, dass es ohne einen zwar gebändigten, aber leistungsfähigen und respektierten Staat weder individuelle Freiheit noch funktionierende Marktwirtschaft gibt. Ich lernte früh das erkennen, was die Nobelpreisträger Daron Acemoglu und James Robinson später in einem grundlegenden Werk den «narrow corridor» nannten, nämlich den schmalen Pfad erfolgreicher Staaten zwischen einem gescheiterten und einem despotischen Staat.
Fortschritt findet statt, aber er ist nie gesichert
So festigte sich im Laufe der Jahre meine Überzeugung, dass die Menschheit im Prinzip über das Instrumentarium verfügt, um eine bessere, wohlhabendere und friedlichere Welt zu schaffen: Demokratie und Rechtsstaat ermöglichen den Menschen die individuelle Entfaltung und schützen die Gesellschaft vor dem Missbrauch individueller Macht; Marktwirtschaft und internationale Arbeitsteilung schaffen Wohlstand für alle und reduzieren damit die Neigung, Kriege zu führen; Fortschritte in Bereichen wie Technologie, Medizin, Ökonomie, Ökologie und Politologie vermehren explosiv das Wissen, das zum Wohle der Menschen eingesetzt werden kann.
Der Kollaps der Sowjetunion schien das Bewusstsein für diese Zusammenhänge weltweit durchzusetzen. Und tatsächlich: Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion setzte eine lange Phase des Aufschwungs ein. Der Welthandel blühte, der globale Wohlstand wuchs, extreme Armut und Hunger nahmen ab, die Lebenserwartung stieg, die Anzahl Toter durch Gewalt und Kriege reduzierte sich, neue Demokratien entstanden. Die Amerikaner übernahmen es – trotz allen Fehlern, die ihnen dabei unterliefen –, die Regeln und Werte zu verteidigen und durchzusetzen, die jede erfolgreiche Ordnung braucht.
Das ist die gute Nachricht: Das Zusammenwirken von liberaler Demokratie, Rechtsstaat und Marktwirtschaft erlaubt Millionen Menschen ein Leben in Freiheit und Würde. Das ist nicht Theorie, sondern globale Erfahrung während einiger Jahrzehnte. Aber es gibt auch eine schlechte Nachricht: Diese Kombination ist verletzlich, störanfällig und von innen und aussen stets bedroht. Zurzeit scheint sie weltweit zu kollabieren.
Die Bedingungen, unter denen sie gedeihen kann, erodieren. Obwohl aufmerksame Beobachter schon seit längerem Signale einer solchen Erosion diagnostiziert hatten, drang sie erst seit einem veritablen historischen Knall ins öffentliche Bewusstsein: dem Überfall Russlands auf die Ukraine. Kriege finden wieder statt, und Grenzen werden wieder gewaltsam verschoben.
Eine selbstbewusste autokratische Achse unter Führung Chinas und Russlands tut alles, um die Ausbreitung von Demokratie zu verhindern. In den USA, einst Garantiemacht für Demokratie und Marktwirtschaft, herrscht ein machttrunkener Präsident, der an den berühmten Checks and Balances sägt, auf ökonomische Erkenntnisse pfeift, mit Autokraten sympathisiert und die Willkür zum Führungsprinzip erhebt.
Auch in bewährten Demokratien werden Symptome des Zerfalls sichtbar. Die explosiv zunehmenden Fortschritte auf praktisch allen Wissensgebieten scheinen sich nicht mehr zu einem Fortschritt für das Ganze verknüpfen zu lassen. Alles existiert gleichzeitig: Menschenrechte und Barbarei, Demokratie und Diktatur, Aufbau und systematische Zerstörung, Spitzenintelligenz und allgemeine Verdummung, historisch einzigartige Informationsmöglichkeiten und von Bots und Algorithmen getriebene systematische Irreführung. Eine Weltordnung ist von Schnellfäule befallen, und eine neue Ordnung zeichnet sich noch nicht ab.
Die Attacken auf die demokratische Welt
Die freiheitliche Demokratie ist also von aussen und innen bedroht, obwohl sie ihren Funktionsbeweis längst erbracht hat. Zu den äusseren Anfechtungen, die zurzeit das Weltgeschehen dominieren, will ich nur einige Stichworte geben: Die autokratische Achse versucht mit allen Mitteln der modernen elektronischen Kommunikation, die Demokratien durch Fakes, Verschwörungstheorien und Irreführungen zu destabilisieren.
In der Ukraine wird versucht, eine zart aufkeimende Demokratie mit brutaler Gewalt zu vernichten, und der Angriff auf den demokratischen Westen durch sogenannte hybride Kriegsführung hat längst begonnen.
Die Wohlstand generierende Kraft des regelbasierten Welthandels wird durch aufbrandenden Protektionismus und die irrlichternde amerikanische Handelspolitik entscheidend geschwächt, was zusammen mit der verheerenden internationalen Verschuldung ein gefährliches Krisenpotenzial aufbaut.
Dazu kommen die politische und militärische Schwäche Europas sowie die Abwendung der USA von demokratischen und rechtsstaatlichen Werten, gepaart mit Sympathie für eine hegemonial strukturierte Weltordnung.
Niemand weiss, wie sich dieses komplexe und explosive Gemisch entwickeln wird. Erstmals seit Jahrzehnten ist nicht mehr auszuschliessen, dass die Demokratie als global ordnende Idee zur historischen Episode schrumpft.
Allerdings sind die inneren Anfechtungen der Demokratie mindestens so besorgniserregend wie die äusseren, weil sie nicht nur die Demokratie als solche gefährden, sondern auch die Widerstandsfähigkeit überlebender Demokratien gegen aussen schwächen. Der deutsche Staatsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde hat das in seinem berühmten Diktum festgehalten: «Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selber nicht garantieren kann.»
Es sind zwei im weiten Sinne kulturelle Voraussetzungen, die den Menschen erlauben, ein erfolgreiches demokratisches Sozialmodell zu leben: erstens eine hinreichende Schnittmenge von ungeschriebenen, aber breit akzeptierten demokratischen und ethischen Überzeugungen, Werten, Normen und Verhaltensstandards und zweitens politische Urteilskraft. Herfried Münkler schreibt, politische Urteilskraft und Gemeinsinn bildeten die wichtigste Verteidigungslinie der Demokratie. Alles das ist nichts Angeborenes, sondern Menschenwerk, geronnene Erfahrung – und damit verletzlich und nie auf Dauer gesichert.
Die inneren Bedrohungen der freiheitlichen Demokratie
Wie ein gesunder menschlicher Körper von unendlich vielen Viren, Bakterien und physischen Risikofaktoren permanent bedroht ist, steht auch die Demokratie zahlreichen Risikofaktoren gegenüber. Ich nenne fünf Phänomene, die selbst funktionierende Demokratien bedrohen.
Ein erstes Problem ist die Überforderung der Menschen durch die Komplexität. Ich erlebe das an mir selber. Ich arbeite mich durch Bücher, studiere wissenschaftliche Arbeiten, lese seriöse Zeitungen und verfolge aktuelle Ereignisse im Internet. Aber ich bin nie ganz sicher, ob ich den Kern der Sache immer zutreffend erfasst habe. Wie also soll jemand, der nie etwas liest und bestenfalls ziellos im Netz herumirrt, politische Urteilskraft erarbeiten? Die einen schalten einfach ab, befassen sich nur mit den eigenen Problemen des täglichen Lebens und mögen von den Trumps und Putins dieser Welt nichts mehr hören. Andere verfallen simplen Hilfstheorien, die von Populisten wohlfeil angeboten werden, welche die an allem Ungemach Schuldigen identifizieren, diese beschimpfen und deren Bestrafung fordern. Wieder andere suchen Halt und Sicherheit bei starken Leadern, denen sie blindlings folgen.
Diese Strategien sind Gift für das demokratische System. Obwohl Informiertheit die Grundlage der Urteilsfähigkeit ist, hilft gerade die präzedenzlose permanente Verfügbarkeit von Informationen über alles und jedes in den sozialen Netzwerken nicht weiter. Umso mehr sind wir auf Einordnung durch vertrauenswürdige Instanzen angewiesen. Gleichzeitig wird es immer schwieriger, solche Instanzen überhaupt aufzuspüren und dann zu erkennen.
Dass bei dieser Sachlage die direkte Demokratie bei uns noch immer im Vergleich recht ordentlich funktioniert, hat möglicherweise damit zu tun, dass sie – ist sie einmal eingeübt – die politische Urteilskraft fördert und sogar eine Art Intuition für politische Zusammenhänge zu erzeugen vermag. So kann sich sogar eine Art Weisheit der vielen herausbilden. Es ist doch irgendwie tröstlich, dass die konkreten Ergebnisse der direkten Demokratie den Vergleich mit parlamentarischen Demokratien überhaupt nicht zu scheuen brauchen.
Interessant ist ein zweites Phänomen: die ausgeprägte diffuse Zukunftsangst vieler Menschen vor allem in westlichen Demokratien. Offenbar ist diese Zukunftsangst in asiatischen oder afrikanischen Ländern, in denen Menschen ein viel härteres Leben haben, viel weniger dominierend. Wahrscheinlich ist zuversichtlicher, wer noch für Verbesserungen kämpfen muss, als wer sich nur noch um Besitzstände Sorgen macht. Wir wissen, dass Menschen entwicklungsbiologisch bedingt negative Meldungen intensiver und aufmerksamer zur Kenntnis nehmen als positive. Die permanente und in Echtzeit erfolgende Berieselung mit Horrormeldungen und Skandalgeschichten lässt uns die Welt als noch viel trostloser erscheinen, als sie tatsächlich ist. Es verstärkt den Eindruck, die Demokratien stünden den Übeln dieser Welt hilflos gegenüber.
Freiheit kann auch eine Bürde sein
Ein drittes Phänomen hat mit dem Wohlstand zu tun. Wir haben häufig die idealistische Vorstellung, unbändiger Freiheitsdrang und ebenso unbändiger Wille zur Mitbestimmung in unserem Staat seien jene Triebkräfte, welche die Bewahrung der Demokratie sicherten. Aber für viele Menschen ist beides offensichtlich zweitrangig, denn Freiheit kann auch Bürde sein, und Mitbestimmung ist, wie die häufig tiefen Stimmbeteiligungen zeigen, vielen Menschen herzlich egal, solange alles einigermassen funktioniert. Sie stehen zur Demokratie nur so lange, als sie den Eindruck haben, es gehe ihnen in diesem System besser als in anderen Systemen.
So hat denn schon Friedrich August von Hayek vor vielen Jahren vermutet, das Einzige, was die Demokratie gefährden könne, sei eine lange Periode mit wirtschaftlicher Stagnation oder gar Rezession. Die Zweifel, ob in der Demokratie ein hinreichender Wohlstand garantiert sei, vermögen den Glauben an sie zu gefährden. Dass die Aussicht auf ein besseres Leben eine enorme Triebkraft für die Menschen ist und dass man dies der Demokratie zutraut, wird durch die wachsenden Warteschlangen von Flüchtlingen vor den Toren der Demokratien belegt. Wenn Zweifel an dieser Aussicht entstehen – und das ist in vielen bewährten Demokratien der Fall –, bilden sich auch Zweifel an der Demokratie.
Ein viertes Phänomen ist das, was der Politologe Manfred Schmidt als die strukturelle Überforderung der Demokratie bezeichnet. Sie besteht darin, dass der demokratische Staat die überzogenen Erwartungen vieler Bürger objektiv gar nicht mehr erfüllen kann. Die deutlich feststellbare Erwartungshypertrophie hat eine ganze Reihe von Gründen. Zunächst versprechen viele Parteien das Blaue vom Himmel, vermögen dann aber, wenn sie Regierungsverantwortung übernehmen, die Versprechen nicht zu erfüllen. Gleichzeitig scheint die Verheissung von Rundumbetreuung durch den auswuchernden Sozialstaat bei vielen Menschen den Willen erlahmen zu lassen, Selbstverantwortung zu übernehmen.
Der Nobelpreisträger James Buchanan nennt dieses Verlangen nach staatlicher Betreuung Parentalismus, im Gegensatz zum auch wachsenden staatlichen Paternalismus, dem Bestreben des Staates, die Bürger zu betreuen und damit eigentlich zu entmündigen. Der deutlich spürbare Wandel von einer Leistungsgesellschaft zur Anspruchsgesellschaft führt zu Ansprüchen, die der Staat längst nicht mehr erfüllen kann.
Das bringt mich zu einem fünften Phänomen, der Demokratiemüdigkeit. Hier werden wir bei Goethe fündig, der einmal schrieb, alles in der Welt lasse sich ertragen, nur nicht eine Reihe von schönen Tagen. Offensichtlich empfindet man positive Errungenschaften mit der Zeit durch Gewöhnung als so selbstverständlich, dass man sie immer weniger schätzt.
So scheint es auch mit Freiheit und Demokratie zu sein. Wenn alles bestens funktioniert, kann auch daraus Überdruss entstehen; und irgendwie suchen viele Menschen dann nach neuen Herausforderungen. Das ist eine der Fallen, in die auch erfolgreiche Demokratien zu geraten drohen. Umgekehrt ist die Sehnsucht nach Freiheit umso drängender, je weniger man davon hat. Das zeigt der heroische Kampf der Ukrainer, und das belegen Migranten, welche unter bewusst in Kauf genommener Lebensgefahr das Mittelmeer überqueren wollen.
Kein Grund zu Pessimismus
Auch wenn wir den Zustand der Welt als schlimmer wahrnehmen, als er ist, so ist er doch objektiv schlimm genug. Die anerkannten Experten des «Bulletin of the Atomic Scientists» berechnen seit Jahrzehnten die sogenannte Weltuntergangsuhr («Doomsday Clock»), indem sie alle Risikofaktoren vom Atomkrieg über Pandemien und Klimawandel bis zur künstlichen Intelligenz zu einem Zeitraum bis zum Weltuntergang kondensieren. Sie konstatieren, dass die Uhr zurzeit mit 89 Sekunden vor Mitternacht den gefährlichsten Zustand der Welt seit Beginn der Analysen signalisiert.
Die Geschichte zeigt, dass Zeiten zerfallender Weltordnungen besonders gefährlich sind. Obwohl zahllose hochqualifizierte Zukunftsexperten gegen beachtliches Entgelt den Politikern und Unternehmen wohlformulierte Zukunftsperspektiven offerieren, kann niemand voraussagen, wie sich die Dinge entwickeln werden. Was soll ich dann als alternder Beobachter – zwar beladen mit jahrelangen Erfahrungen, aber ohne sicher zu wissen, welche davon in diesen Zeiten noch taugen – meinen Grosskindern sagen, wenn sie mich fragen, was von der Weltuntergangsuhr zu halten ist?
Es sind zwei Überlegungen, die mich selber trotz den düsteren globalen Perspektiven davor bewahren, abgrundtiefem Alterspessimismus zu verfallen. Beide sind geprägt von der Überzeugung, dass Menschen, so fehlbar sie auch sein mögen, auch immer wieder eine erstaunliche Fähigkeit besitzen, nach vielen Irrungen und Wirrungen mit Widrigkeiten fertigzuwerden. Die erste Überlegung geht davon aus, dass keine bis anhin bekannte Regierungsform bessere Bedingungen als der liberale demokratische Rechtsstaat für ein Leben der Menschen in Würde und Freiheit schafft – und dass das ein starker Anreiz zu seiner Verteidigung bleibt. Und die zweite Überlegung bezieht sich auf die historische Erfahrung, dass nicht immer nur das unerwartet Katastrophale geschieht, sondern bisweilen auch das unerwartet Positive.
Was haben die Menschen nicht alles versucht, um wohlhabend und glücklich miteinander leben zu können! Und wie häufig hat sich das versprochene Paradies als Hölle entpuppt! Beide grossen Ideologien des 20. Jahrhunderts, der Kommunismus und der Nationalsozialismus, haben mit Millionen von Toten und zerrütteten Volkswirtschaften geendet. Die grossrussischen Heilsversprechen Putins oder die islamistischen Paradiese haben bisher auch nur Blut und Tränen verursacht.
Populisten wie die Berlusconis, Erdogans, Maduros oder Bolsonaros dieser Welt, die vorgeben, als Einzige das wahre Volk zu vertreten, die von Polarisierung leben und die «gegen die Versager da oben» poltern, wittern in der Unbill der Zeit ihre Chance und finden Gefolgschaft. Aber die Ökonomen Manuel Funke, Christoph Trebesch und Moritz Schularick haben mit der Analyse von sechzig Ländern im Zeitraum von 120 Jahren zeigen können, dass solche Populisten zwar länger an der Macht bleiben als nichtpopulistische Regierungschefs und häufiger wiedergewählt werden, aber erheblichen wirtschaftlichen Schaden anrichten, der meist ihre Wähler besonders hart trifft.
Die lange Erfolgsgeschichte des Rechtsstaates
Tim Besley von der London School of Economics hat gezeigt, dass die Wahrscheinlichkeit eines dramatischen wirtschaftlichen oder sicherheitspolitischen Absturzes umso grösser ist, je weniger die Exekutive kontrolliert werden kann. Erschreckend ist, dass das Projekt 2025 der Heritage Foundation, an dem Präsident Trump seine Politik orientiert, wie das Drehbuch für einen solchen Populismus wirkt.
Ganz anders verhält es sich mit dem marktwirtschaftlich flankierten, liberalen demokratischen Rechtsstaat. Er hat den Funktionsbeweis in vielen Staaten erbracht; und die Erfolgsgeschichte der unipolaren Weltordnung nach dem Zerfall der Sowjetunion zeigt, dass er auch global funktionieren kann. Seine hohe Verletzlichkeit kann kein Grund sein, ihn als gescheitert zu diffamieren. Die Flüchtlingsströme und die fanatische Ablehnung durch die Autokraten symbolisieren zwei entgegengesetzte Aspekte seiner Attraktivität.
Dass in der Geschichte in fast ausweglos erscheinenden Situationen unerwartet auch das Positive geschehen kann, lässt sich an vielen Beispielen zeigen. Ich denke etwa an die Gründung des erfolgreichen Schweizer Bundesstaates nach Phasen heilloser Zerstrittenheit und einem Bürgerkrieg; den raschen wirtschaftlichen Wiederaufstieg Europas aus den Trümmern des Zweiten Weltkriegs, begünstigt durch den Marshall-Plan; den unerwarteten Fall der Berliner Mauer und den ebenso unerwarteten Zusammenbruch der Sowjetunion.
Solches ist auch künftig nicht auszuschliessen. Vielleicht kollabiert unerwartet Russlands machtpolitisches Kartenhaus durch Überforderung. Vielleicht überdehnt sich auch China mit seinen gewaltigen internen Strukturproblemen. Vielleicht können sich die grossen europäischen Staaten doch dazu durchringen, gemeinsam und glaubwürdig Russland die Stirne zu bieten. Vielleicht bekommt Trumps Machtrausch bei den Midterms nächstes Jahr einen Dämpfer, und die Checks and Balances in den USA greifen wieder. Immer sind es freiheitliche Impulse, die zu positiven Entwicklungen führen, und ebenso auffällig ist, dass oft freiheitlich denkende Persönlichkeiten als Treiber wirken.
Das Bohren dicker Bretter
Wem es also um Freiheit, Menschenwürde und Wohlstand geht, stellt sich nicht die Frage, ob angesichts der globalen Probleme Alternativen zur freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie gesucht werden müssten, sondern die Frage, wie den inneren und äusseren Bedrohungen der Demokratie begegnet werden kann. Patentrezepte dafür gibt es nicht.
Der grosse Soziologe Max Weber hat die Politik mit dem Bohren dicker Bretter verglichen. Politischer Fortschritt kann in unserer Durcheinanderwelt nicht von einer einzigen Kraft mit einer genialen Strategie erzwungen werden. An Millionen Brettern müssen Millionen Handwerker am Bohren bleiben. Es gibt auch keine Macht, die durchsetzen kann, dass sich diese Bohrarbeiten zu einem kohärenten Ganzen zum Wohle der Menschheit zusammenfügen.
Es sind letztlich nur Ideen, die Menschen veranlassen können, ihr Handeln auf ein bestimmtes Ziel auszurichten. Das Fazit ist einfach: Das Bohren der Bretter muss sich an der Idee der freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie orientieren; und es muss beständig darum gehen, deren Verletzlichkeit zu analysieren und ihr zu begegnen. Darüber muss gestritten werden in der Demokratie, nicht um paradiesversprechende Utopien.
Kaspar Villiger ist Altbundesrat. Er gehörte von 1989 bis 2003 der Schweizer Regierung an.