Sonntag, Dezember 1

Der Börsenbetreiber Deutsche Börse gehört seit langem zu den stärksten Wertsteigerern am eigenen Handelsplatz. Doch derzeit liegt die Bewertung auf einem Achtjahrestief. Dabei stimmen die Strategie des neuen Chefs Stephan Leithner und auch die Geschäftszahlen.

Die Deutsche Börse hat in der vergangenen Dekade ihren eigenen Leitindex deklassiert. Wer vor zehn Jahren die Aktie des Börsenbetreibers erwarb, hat sein Geld mehr als verdreifacht. Beim Dax dagegen hätte er nur etwas mehr als 40% verdient. Auch beim europäischen Stoxx 600, ebenfalls ein Produkt der Hessen, wären es nur etwas mehr als 50% gewesen.

Den grossen internationalen Börsenbetreibern dagegen hinkt die Deutsche Börse arg hinterher: Die Rivalen aus Chicago haben ihren Kurs annähernd vervierfacht, die London Stock Exchange hat ihre Marktkapitalisierung verfünffacht. Die Nasdaq konnte sie gar versechsfachen. Der Schweizer Börsenbetreiber SIX fehlt in dieser Aufzählung, weil seine Anteile nicht an der Börse gehandelt werden, sondern rund 120 Schweizer und internationalen Banken gehören. Ähnlich wie auch die Deutsche Börse bis zu ihrem Börsengang im Jahr 2000.

Der neue Chef Stephan Leithner hat einigen Boden gutzumachen, um zu den Wettbewerbern aufzuschliessen. Am 8. März verkündete das in Eschborn bei Frankfurt ansässige Unternehmen, dass der ehemalige Fusionsberater der Deutschen Bank zum 1. Oktober den früheren HypoVereinsbank-Chef Theodor Weimer an der Unternehmensspitze ersetzen wird.

Hartes Training im Haifischbecken

Der 57-Jährige scheint immerhin das Rüstzeug für die Aufholjagd mitzubringen. Der Spross einer Tiroler Hotelierfamilie promovierte in St. Gallen in Finanzwissenschaft und ging dann für sieben Jahre zu McKinsey, wo er Weimer kennenlernte. Bei der Deutschen Bank galt Leithner früheren Kollegen als Kandidat für den Chefposten. Seine Karriere machte er in der Investmentbank, der spätere Co-Bankchef Anshu Jain hielt grosse Stücke auf den Österreicher.

Tatsächlich holte der Inder Leithner 2012 in den Bankvorstand, für die Ressorts Personal und Recht. «Leithner war in meiner Zeit bei der Deutschen Bank eines der kompetentesten Vorstandsmitglieder», sagt ein ehemaliger Kollege, der ihn mehrfach im Exekutivkomitee erlebt hat.

2015 war der Manager über den Unmut der Finanzaufseher in Deutschland und Grossbritannien aufgrund der mühsamen Aufklärung des Libor-Manipulationsskandals gestolpert. Er musste die Bank verlassen und ging für zwei Jahre zur Beteiligungsgesellschaft EQT, bevor sein McKinsey-Alumnikollege Weimer ihn zur Börse rief.

Die Pointe: Eine Dekade nach dem Skandal wird Leithner nun Vorstandschef eines Unternehmens, dessen Börsenwert von 35 Mrd. € einige Milliarden höher ist als die Marktkapitalisierung der Deutschen Bank (knapp 30 Mrd. €).

Allwetteraktie für jede Börsenphase

Schon seit 2018 sitzt Leithner in der Geschäftsleitung der Börse. Zuständig ist er dort für das sogenannte Pre- & Post-Trading. Er ist auch verantwortlich für das Tochterunternehmen Clearstream. Der Handelsabwickler und Wertpapierverwahrer verdient eine prozentuale Gebühr auf die Anlagen, die Kunden der Börse dort hinterlegen. Dieses Geschäftsfeld, das mehr als ein Fünftel des Nettoerlöses beiträgt, profitiert von steigenden Kursen der deponierten Anleihen und Aktien.

Das Wertpapierhandelsgeschäft wiederum blüht und gedeiht, wenn die Kurse an den Finanzmärkten besonders stark schwanken und wenn die Trader besonders aktiv sind. Es steht für mehr als 40% des Nettoerlöses der Gruppe. Derivate sind hier seit langem viel bedeutender als der Aktienhandel («Cash Equities»). «Aktien braucht die Deutsche Börse nur noch als Basiswert für Derivate», spottet ein Fondsmanager. Ausserdem ist die Börse bei Anleihen, Rohstoffen und auch im Stromhandel aktiv (über die Tochter EEX in Leipzig) und seit kurzem auch beim Trading von Kryptowährungen für institutionelle Anleger.

Dank der geldpolitischen Wende nimmt die Deutsche Börse auch erhebliche Zinsen ein, auf die von Kunden bei Clearstream hinterlegten Gelder, die meist zur Absicherung für Handelsgeschäfte der Kunden dienen. Im Jahr 2023 stieg der Nettozinsertrag auf 702 Mio. €, von 260 Mio. € im Vorjahr. Das Unternehmen würde spürbar davon profitieren, falls die Zinsen länger hoch bleiben sollten, als viele Marktteilnehmer erwarten.

«Die Deutsche Börse ist eine Allwetteraktie», sagt der zuständige Analyst bei einem der zehn grössten Investoren der Börse. Wegen der unterschiedlichen Geschäftsfelder verdiene das Unternehmen sowohl in starken als auch in schwachen Marktphasen gutes Geld. Die Entwicklung von Nettoerlös und Gewinn trotzte in den vergangenen Jahren auch der Coronapandemie.

Den Grossinvestor begeistert, dass im Wertpapierhandel und auch im Verwahrgeschäft oligopolistische Strukturen herrschen. Der Wettbewerb unter Börsenbetreibern ist gering, die Gebühren sind hoch und die Margen üppig.

Der Nachteil des Stammgeschäfts sind die begrenzten Wachstumsaussichten. Mehrfach scheiterte die Deutsche Börse in den vorigen Dekaden mit Versuchen, die London Stock Exchange zu kaufen. Den letzten Versuch einer Fusion wagte 2017 Carsten Kengeter, der Vorgänger des scheidenden Theodor Weimer. Seither steht fest: Derart grosse Übernahmen sind wegen der Kartellwächter und wegen politischer Vorbehalte der nationalen Regierungen kaum möglich.

Der frühere Deutsche-Bank-Dealmaker Leithner hat seit seinem Antritt bei der Börse dennoch mehrere Unternehmen gekauft. Besonders solche, die Daten und Software für Vermögensverwalter anbieten. So will die Börse den Anteil des wiederkehrenden Erlöses steigern, der für Investoren gut berechenbar und sicher ist.

Beim Londoner Rivalen LSE hat das funktioniert: Die Investoren haben die Expansion im Finanzdatengeschäft durch den Kauf der Thomson-Reuters-Tochter Refinitiv im Jahr 2019 seitdem honoriert. Rund 75% des Erlöses waren bei den Briten 2022 wiederkehrend. Bei den Deutschen waren es 2023 erst 63%.

Schon ein Jahr nach Leithners Start erwarb die Börse 2019 den New Yorker Spezialisten für Risikomanagementsoftware Axioma. Ende 2020 folgte der Governance-Berater ISS, der Vermögensverwaltern Vorschläge liefert, wie sie bei den Hauptversammlungen ihrer oft mehreren tausend Portfoliounternehmen abstimmen sollten.

Leithners grösster und umstrittenster Deal

Im April 2023 folgte Leithners bislang grösste Akquisition: Für 3,9 Mrd. € erwarb die Börse Simcorp, den Kopenhagener Anbieter von Unternehmenssoftware für Vermögensverwalter. Der Kaufpreis bedeutete einen Aufschlag von fast 40% auf den letzten Börsenkurs der Dänen.

Von Research-Analysten wurde die Übernahme als zu teuer kritisiert. Die Börse rechtfertigte den Preis mit der Qualität des Simcorp-Geschäftsmodells. 60% des Umsatzes seien wiederkehrend, weil an Abonnements von Cloud-Software oder Lizenzen gebunden. Der Umsatz wachse jährlich um 10%.

Kritiker monierten auch die im Vergleich zum Stammgeschäft der Börse niedrige Ebitda-Marge der Dänen. Sie lag jahrelang bei 30%, die Deutsche Börse schafft fast das Doppelte. Nach anderen Kennziffern ist Simcorp jedoch eine Ertragsperle: Sie beeindruckt mit ihrer hohen Rendite auf das Eigenkapital.

Der Grund für die üppige Eigenkapitalrentabilität ist, dass der Softwareanbieter nur sehr wenig Kapital für sein Geschäft benötigt. Diesen Vorzug beansprucht auch die Deutsche Börse für sich. Doch sie muss zum Beispiel für ihr Handelsgeschäft grosse Serverkapazitäten vorhalten, die an gewöhnlichen Tagen oft nur zu einem kleinen Teil ausgelastet sind – an besonders hektischen Handelstagen aber gebraucht werden. Simcorp ist noch schlanker.

Der Analyst des Top-Ten-Investors der Börse sieht den Ausbau des Softwaregeschäfts für Fondsgesellschaften, Pensionskassen und Versicherer durchaus positiv: «Das Softwaregeschäft der Deutschen Börse hat bei weitem keine so starke Marktposition wie Microsoft, aber es handelt sich ebenfalls um erfolgskritische Unternehmenssoftware.» Die Kunden sind gezwungenermassen treu: Ein DWS-Manager erinnert sich, dass der Wechsel des weltgrössten Vermögensverwalters BlackRock von Simcorp auf das Konkurrenzsystem Aladdin einst mehr als drei Jahre dauerte.

Softwaregewinne für die Stimmungswende

«Der Simcorp-Deal wurde von vielen Investoren als teuer und arm an Synergien wahrgenommen», schreiben die Analysten Marlene Eibensteiner und Benjamin Goy von der Deutschen Bank. «Wir erwarten jedoch, dass sich die Wahrnehmung von Simcorp 2024 weiter verbessert aufgrund des um zweistellige Prozentraten wachsenden Geschäfts.» Die Dänen würden auch den Anteil wiederkehrender Einnahmen des Konzerns steigern, die typischerweise höher bewertet würden.

Die Konsequenz: «Wir sehen Raum für eine höhere Bewertung der Deutsche-Börse-Aktie auf ein Kurs-Gewinn-Verhältnis von mehr als 20.» Davon ist der Titel derzeit ein gutes Stück entfernt.

Die Aktie ist günstig sowohl gemessen an der eigenen Vergangenheit als auch im Vergleich zu anderen grossen Börsenbetreibern. Der Unternehmenswert liegt beim 12-Fachen des Ebitda (für 2024). Die Euronext kommt auf das 13-Fache, die US-Rivalen CBOE (16) und CME (20) sind deutlich höher bewertet. Das gilt auch für das Kurs-Gewinn-Verhältnis (2024): Die Deutsche Börse liegt hier bei 18, die US-Konkurrenz bei mehr als 22 und die London Stock Exchange bei 26.

Die Investoren und die Analysten glauben offenbar nicht, dass das Management seine Wachstumsziele erreichen wird. Für 2026 peilt es einen Nettoerlös von 6,4 Mrd. € und einen Ebitda von 3,8 Mrd. € an. Die Konsensschätzung der bei Bloomberg erfassten Analysten liegt merklich darunter (bei 6,1 Mrd. und 3,6 Mrd. €).

Übertriebene Skepsis

Die Skepsis der Analysten scheint überzogen. «Wir erwarten, dass der Umsatz ähnlich stark steigt wie vom Management angekündigt, die Prognose ist nicht aggressiv», sagt der Analyst des Top-Ten-Investors. 2023 hat die Börse ihre Erlös- und Gewinnziele weit übertroffen. Würden die Ziele für 2026 ebenfalls erreicht, könne die Bewertung der Aktie deutlich steigen, auf ein Niveau wie bei ähnlich stark wachsenden Unternehmen. Dabei hilft auch der beschlossene Aktienrückkauf.

Einen Kurswechsel bei der Strategie, zum Beispiel hin zu transformativen Übernahmen, erwartet der Grossanleger nicht: «Leithner steht für Kontinuität, die Börse braucht auch keinen grossen Wurf.» Für Anleger ist das eine gute Nachricht. Der künftige Börsenchef muss keine brillanten Ideen haben, um den Marktwert deutlich zu steigern. Es reicht aus, die selbst gesteckten Ziele zu erreichen.

Dank dem ausgewogenen Geschäftsmodell würde das Unternehmen sowohl mit turbulenten Aktienmärkten als auch mit längere Zeit hohen Zinsen zurechtkommen. Die günstige Bewertung, die Qualität des Geschäftsmodells mit seinen hohen Eintrittsbarrieren und das Wachstumspotenzial in neuen Betätigungsfeldern wie Software machen die Deutsche-Börse-Aktie zu einem Kaufkandidaten.

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