Mittwoch, Dezember 4

Nach siebzig Jahren endlich auf Deutsch erhältlich: «Kaltes Krematorium» von József Debreczeni.

Eines Tages wird József Debreczeni Zeuge einer Szene von beispielloser Perversion: Ein SS-Hauptsturmführer, Oberaufseher des Lagerkomplexes Gross-Rosen bei Breslau, besucht das Arbeitslager, in dem Debreczeni inhaftiert ist. Der einarmige Nazi mit Hochschuldiplom fragt einen Bewacher, auch er ein Häftling: «Wer ist dein bester Mann?» – «46514!», antwortet dieser. Der Mann mit der Nummer 46514 steigt aus dem Graben, in dem er geschuftet hat, zieht die Mütze vom Kopf und meldet sich untertänigst.

Der SS-Scherge tritt wortlos neben den jungen Mann, hält ihm den Revolver an die Schläfe und drückt ab. Der Häftling fällt in die Grube zurück, in der sein lebloser Körper dumpf aufschlägt. «Das war eine kleine Demonstration», sagt der SS-Hauptsturmführer lächelnd, «um zu veranschaulichen, dass selbst der beste Jude krepieren muss.» Das geschah am 6. Juni 1944, an dem Tag, als die Alliierten in der Normandie landeten.

Ein Buch zur richtigen Zeit

Wer den «Bericht aus dem Land namens Auschwitz», so der Untertitel von «Kaltes Krematorium», lesen will, sollte sich Zeit nehmen. Viele Passagen sind so erschütternd, dass man regelmässig Pausen einlegen muss – nicht nur Stunden, sondern Tage. Es fällt schwer, das, was geschildert wird, zu begreifen und zu verarbeiten. Wenngleich über siebzig Jahre zu spät, erscheinen die Erinnerungen über die «braunen Teufel» auch zur richtigen Zeit: Während in Amsterdam israelische Fussballfans durch die Strassen gejagt werden, rät die Berliner Polizeipräsidentin Juden zur Vorsicht in bestimmten Gebieten.

József Debreczeni, 1905 als József Bruner in Budapest geboren, arbeitet bis zum Erlass der antijüdischen Gesetze im Jahre 1938 bei zwei grossen ungarischen Zeitungen. Dann emigriert der Redaktor, der unter seinem Pseudonym auch Romane und Gedichte verfasst, nach Jugoslawien. Ende April 1944 wird er zuerst nach Auschwitz, danach nach Gross-Rosen deportiert. Dort muss er in verschiedenen Aussenlagern Zwangsarbeit verrichten.

Am 14. November 1944 wird Debreczeni wegen Fleckfieber ins Lager Dörnhau verlegt, wo er im Mai 1945 von den Russen befreit wird. Er überlebt die nationalsozialistischen Lager, seine Eltern und seine Ehefrau nicht. Nach dem Krieg zieht er nach Jugoslawien zurück, wo er seine Memoiren schreibt, die 1950 erstmals erscheinen. József Debreczeni stirbt 1978 in Belgrad.

Wer nicht schlägt, wird geschlagen

Das Hauptaugenmerk von Debreczenis Bericht liegt in der minuziösen Beschreibung der Lagerhierarchie: Die strenge Ordnung garantiert einen effizienten Ablauf der Zwangsarbeiten, und sie ermöglicht Gewaltexzesse unvorstellbaren Ausmasses. Nicht nur Nazis, auch viele Häftlinge, die bevorzugt werden, kommen der Ausübung ihrer Pflichten gehorsam nach. «Nicht nur vor den deutschen, sondern auch vor den jüdischen Sklaventreibern wird stillgestanden.» Wer als Schläger versagt, wird selbst geschlagen. Dieses System, das alle in der «Lageraristokratie» erfasst, beschreibt Debreczeni folgendermassen:

«Die Nazis erschufen in ihren Todeslagern mit methodischem Erfindungsreichtum eine komplizierte Hierarchie der Parias. Die Deutschen selbst blieben innerhalb des Stacheldrahts meist unsichtbar. Aufgaben wie die Verteilung der Nahrung, das Aufrechterhalten der Disziplin, das unmittelbare Beaufsichtigen der Arbeiten, das Ausüben des direkten Terrors, kurz, die Exekutivmacht übertrugen sie einigen Treibern, die sie unter den Deportierten beliebig ernannten.»

Die Qual wird so gross und die Hoffnung so klein, dass József Debreczeni, der die Nummer 33031 trägt, in totale Gleichgültigkeit verfällt. «Ich sehne mich nicht nach dem Leben, auch nicht nach dem Tod. Von keinem der beiden verspreche ich mir etwas.» Irgendwann denke man an den Tod nur noch wie an ein angenehmes, erfrischendes Dampfbad. Schlimmer als in den Arbeits- und Konzentrationslagern, wo das Leid allgegenwärtig sei, könne es nirgendwo sein. Als Debreczeni auch noch das Fleckfieber befällt, sieht er sein Ende nahe. Der ohnehin geschwächte Körper muss nun gegen eisige Kälte und hohes Fieber zugleich ankämpfen.

Gewimmel der Läuse

In der Lagerhierarchie nimmt das aus Häftlingen rekrutierte Küchenpersonal neben den Blockältesten, Lagerältesten und Lagerschreibern eine privilegierte Stellung ein. Es zweigt von den spärlichen Essensrationen, die angeliefert werden, einen grossen Teil für sich ab. Debreczeni, der die Verrohung und Verwilderung unter den Gefangenen in nüchternem Ton beschreibt, kennt nur noch drei Wünsche: «Weniger Läuse, weniger Prügel und mehr Frass.» Während er auf der Pritsche kauert, beobachtet er das Gewimmel der Läuse, die seine Hose und seine Jacke in Bewegung versetzen, in ihrer «lebhaften, schmerzvollen Geschäftigkeit».

Die Nazis wussten, dass mit Privilegien ausgestattete Sklaven die besten Schergen sind. In den Lagern, in denen Debreczeni über ein Jahr vegetierte, konnte er diesen gnadenlosen Mechanismus studieren. «Die Deutschen sind das Volk der Musiker, der Denker – und der Sadisten. Einem russischen, französischen, englischen, serbischen oder irgendeinem anderen Kopf hätte die Idee des Gaswagens oder der technisierten Menschenschlachthöfe von Birkenau nicht entspringen können. Dazu brauchte es den deutschen.»

Dass auch die russischen Befreier sich darauf verstanden, Menschen in Arbeitslagern zu brechen und zu vernichten, steht in anderen Büchern: Warlam Schalamow, fast gleichaltrig, beschreibt die sibirische Hölle ähnlich illusionslos wie Debreczeni das kalte Krematorium. Es sind literarische Dokumente von unschätzbarem Wert: Sie halten die Erinnerung daran wach, wozu der Mensch unter bestimmten Umständen fähig ist.

József Debreczeni: Kaltes Krematorium. Bericht aus dem Land namens Auschwitz. Aus dem Ungarischen von Timea Tankó. Mit einem Nachwort von Carolin Emcke. S.-Fischer-Verlag, Frankfurt am Main 2024. 272 S., Fr. 38.90.

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