Montag, Oktober 7

Nur noch zehn Kilometer sind die Russen von der strategisch wichtigen Stadt entfernt, und sie rücken weiter vor. Die ukrainischen Soldaten müssen kämpfen – und die Zivilisten entscheiden, ob sie fliehen oder auf eine ungewisse Zukunft warten.

Es ist drei Uhr früh, als das Funkgerät im Bunker knackt. «Russischer Sturmangriff in zwei Stunden. Ständige Überwachung eures Abschnitts!» Sofort sind Ragnar und Chimik hellwach. Die beiden Ukrainer steuern ihre Überwachungsdrohne über die feindlichen Stellungen im besetzten Donbass, zwanzig Kilometer östlich der Stadt Pokrowsk. Aus einer Höhe von 700 Metern sieht die Nachtsichtkamera fast jede Bewegung. So wissen die Verteidiger, woher die Soldaten und Panzer der Angreifer kommen.

Ragnar und Chimik, die nur mit ihren Kampfnamen genannt werden dürfen, finden mit ihren Drohnen seit Monaten Ziele für die ukrainische Artillerie. An diesem Augustmorgen zeigen sie auf ihren Bildschirmen abgefeuerte Raketen und ein russisches Fahrzeug, das auf einer Landmine explodiert. Die Drohnenpiloten wissen, dass auch sie innert Sekunden zum Ziel werden können. Ihr Bunker bleibt die ganze Nacht dunkel. Nicht einmal eine Zigarette rauchen sie unter freiem Himmel. Die feindlichen Drohnen könnten die Glut sehen.

Tödliche Drohnenpiloten an der Front

Nach Tagesanbruch attackieren die Russen an der Front von Pokrowsk zehn Mal – mit Infanterie, Gleitbomben und Artillerie. Die kampferprobte 110. Brigade hält ihren Abschnitt. Auch Ragnar und Chimik kämpfen mit ihren Drohnen gegen die Russen: Am Tag hängen sie Granaten daran und machen damit Jagd auf den Feind. Minutenlang führt Chimik schwer erträgliche Videos seiner Einheit vor. In voyeuristischer Nahaufnahme fällt eine Bombe nach der anderen auf die Russen, manche zerfetzen Gesichter.

Die brutalen Bilder sind wie Medizin für die Soldaten gegen den Frust über die ständigen Rückschläge. Die beiden Drohnenpiloten wissen, dass die Verteidiger von Pokrowsk oft zu wenig Munition und Reichweite haben, um die russischen Stellungen hinter der Front zu treffen. Seit die Ukraine Anfang August in die russische Region Kursk einmarschiert ist, klagt die Brigade über noch knappere Vorräte. Diese gehen in den Norden statt in den Donbass.

Seit die Ukrainer im Februar die Festungsstadt Awdijiwka ganz im Osten verloren haben, rücken die Russen immer schneller vor. Nun stehen sie zehn Kilometer vor Pokrowsk, einem der letzten ukrainischen Zentren im Donbass. Es hat strategische Bedeutung als Knotenpunkt für Strasse und Eisenbahn, für das Militär und die Wirtschaft des gesamten Ostens.

Fällt Pokrowsk, könnten die Verteidigungslinien auf breiter Basis einbrechen. Die Schlacht hat noch nicht begonnen, aber die Front kommt immer näher. Soldaten und Zivilisten schalten nun in den Überlebensmodus. Sie haben drei Optionen: Die Armee muss an der Front gegen den Aggressor kämpfen, die Bevölkerung kann aus der Region flüchten – oder in der Stadt auf eine ungewisse Zukunft warten.

Ragnar und Chimik kämpfen. Sie fahren jeden Tag von Pokrowsk in ihren Bunker und wieder zurück. Das ist der gefährlichste Teil ihrer Mission: Weil die russischen Drohnen überall sind und der Feind versucht, die Verbindungsstrassen zwischen der Stadt und der Front zu kappen, bewegen sich die Ukrainer nur in der Dämmerung. Dann blendet die Sonne über dem Horizont die Kameras am Himmel.

Nun ist der heikle Moment gekommen: Chimik läuft rasch durch das Wäldchen zum parkierten Pick-up und rast los. Dann schaltet er den Störsender ein, der die Drohnen von ihrem Kurs abbringen soll. Er folgt den Baumreihen am Wegrand, die etwas Deckung geben. Auf der exponierten Hauptstrasse beschleunigt der 27-Jährige auf 200 Kilometer pro Stunde.

Die Verteidigungslinien am Stadtrand

Am Strassenrand ziehen die Verteidigungsstellungen vorbei. Neben manchen liegen rohe Baumstämme, die erst verarbeitet werden müssen – zu Stützen an den Aussenwänden der Schützengräben und für Bunker. In Awdijiwka hatten die Ukrainer ein Jahrzehnt Zeit, die Verteidigung aufzubauen. Die hastig errichteten Anlagen westlich davon genügten als Barrieren nicht.

Doch je näher Pokrowsk rückt, desto ausgeklügelter wirken die Stellungen. Die Ukrainer haben sie in den letzten neun Monaten stark ausgebaut: Drei Linien umgeben die Stadt. Es ist ein Labyrinth aus breiten Gräben, Schutzwällen gegen Panzer und pyramidenförmigen Betonsperren.

Ein Offizier mit dem Kampfnamen Morpech (Marineinfanterist) koordiniert den Bau. Den Donbass verteidigt er seit 2014. Nun schaut der 39-Jährige, dass die Pläne aus Kiew in die Landschaft passen und so umgesetzt werden, dass die Linien halten. Er entscheidet, ob es am Hügel einen zusätzlichen Bunker braucht, damit die Schützen bessere Sicht auf die Ebene haben. Morpech weiss auch, dass Seen und Wälder als Hindernisse fast so wichtig sind wie Stacheldraht und Schützengräben.

«Verteidigungsstellungen sind wie ein Schachbrett», sagt der Offizier. «Man muss sie versetzt anordnen, die hinteren Felder decken das vordere.» So verliere man bei einem Rückzug nur ein kleines Gebiet. Wie im Schach gehe es auch im Krieg darum, wer mehr Figuren habe, habe mehr Ressourcen. «Leider die Russen», sagt Morpech. Zwischen Awdijiwka und Pokrowsk konnte die Ukraine den Feind deshalb nicht aufhalten: zu viele leere Felder, zu wenige Truppen.

In Pokrowsk hat die Armee einen potenten Partner, das Rohstoffunternehmen Metinvest des Oligarchen Rinat Achmetow. Es finanziert und baut die Verteidigungslinien. Fünfzig Kumpel aus der Koks-Kohlemine in der Stadt pflügen nun die Landschaft um, unterstützt von Baggern und Lastwagen. Die Schützengräben sind mit Stahlgittern verstärkt, die Bunker an strategischen Stellen aus Metall statt nur aus Holz. Damit, sagt Morpech, könnten sie selbst den grössten Artilleriegranaten mit einem Kaliber von 200 Millimetern standhalten.

Noch sind die neuen Verteidigungsstellungen leer, die Russen stehen einige Kilometer entfernt. Doch der Rauch der Kämpfe ist gut zu sehen. Obwohl Morpech die kühle Logik des Schachspiels liebt, weiss er, dass eine erfolgreiche Verteidigung von den Menschen abhängt. Er ärgert sich, wenn alle nur davon reden, dass die Ukrainer zu wenig Soldaten im Donbass haben. «Gebt uns lieber Qualität», fordert er. «Mit hundert motivierten und gut ausgebildeten Männern kann ich mehr machen als mit tausend, die Angst haben.» Er hat gesehen, wie unerfahrene Einheiten zwischen Awdijiwka und Pokrowsk vor Russlands Panzern wegrannten und dem Feind so Durchbrüche ermöglichten.

Julias Flucht nach Pokrowsk

Zum Faktor Mensch gehören auch die Zivilisten. Um sie muss sich die Armee ebenfalls kümmern. Morpech wäre es am liebsten, wenn die Bevölkerung frühzeitig aus dem Kampfgebiet evakuiert würde. «Dann können sich die Soldaten auf den Feind konzentrieren.» Aber viele bleiben bis im letzten Moment – weil sie ihr Zuhause nicht verlassen wollen oder können, manche auch, weil sie auf die Russen warten.

Wenn es fast schon zu spät ist, kommen die «weissen Engel». Diese Polizeieinheit holt die Menschen unter schwerstem Beschuss aus den Dörfern an der Front und bringt sie in das Aufnahmezentrum von Pokrowsk. Der weisse Ford Transit, der gerade in den Hof einbiegt, hat Granatsplitter in Kühlerhaube und Türen. Eine Zwanzig-Kilo-Bombe riss den linken Teil des Dachs weg. Die Passagiere im Fond blieben unverletzt. Sie schützt ein massiver Eisenkäfig, den die Helfer geschmiedet haben.

Zwei Polizisten in Schutzweste und mit Helm helfen einer Frau und ihren beiden Söhnen aus dem Auto. Ihre Habseligkeiten hat die 31-jährige Julia hastig in einige Plastiksäcke gepackt. Eine Betreuerin führt die drei in die grosse Empfangshalle, dann in ein Zimmer mit einem Dutzend Betten. Alles ist sauber und geordnet. Als der fünfjährige Ruslan mit seinem Scooter durch die Gänge zischen will, stoppt ihn eine gestrenge Dame sofort.

Julia redet hastig und bewegt sich leicht schwankend. Am Knie trägt sie einen Verband. «Ich brauchte einen Schluck Schnaps, für den Mut», entschuldigt sie sich für ihren Zustand. «Sonst hätte ich es nicht geschafft. Aber ich musste gehen. Wegen der Kinder.» Ihr Dorf Nowoekonomitschnoje liegt sechs Kilometer von der Front entfernt. Es steht unter ständigem Beschuss.

Erst als sie draussen an einer Zigarette zieht, beruhigt sie sich ein bisschen. Sie zeigt Fotos aus ihrem Quartier: «Hier die Kirche, da haben sie ein Loch reingebombt, dass ein Lastwagen durchfahren könnte. Hier der zerstörte Friedhof. Hier die Wohnung, der Plasmafernseher, mein altes Telefon, die Fenster, alles kaputt.» Am Vorabend ihrer Abreise wollte sie all ihre Sachen zusammenpacken und mit Freunden den Abschied feiern. Am Ende hatte sie auch noch einen Streit mit ihrem Ex-Mann, den die Polizei schlichten musste.

Leicht war Julias Leben wohl schon vor dem Krieg nicht. Doch die Kämpfe haben es vollends durcheinandergewirbelt. Nun weiss sie nicht, wohin. «Niemand wartet auf mich», sagt sie. Im Zentrum für die Evakuierten soll sie ein paar Tage zur Ruhe kommen. Doch der Krieg treibt sie rasch weiter: Kurz nach ihrer Flucht zerstört eine russische Rakete Teile des Gebäudes. Die Front ist Pokrowsk inzwischen so nahe gekommen, dass die Stadt den Geflüchteten kaum mehr Sicherheit bietet.

Der Exodus aus der Stadt

In den fünf Tagen, die wir vor Ort verbringen, steigt die Nervosität spürbar an. Seither ist teilweise sogar Panik ausgebrochen. Seit dem Fall von Awdijiwka verloren die Menschen nach und nach den Glauben an eine Zukunft in Pokrowsk. Die Zahl der Fliehenden stieg ständig an. Im August wurde daraus eine Welle: Inzwischen fahren täglich 600 bis 700 Leute weg.

Kleinunternehmer verlangen für den Transport des Hausrats aus Pokrowsk umgerechnet 500 Franken – hierzulande eine grosse Summe. Dennoch sind sie bis mindestens Ende September ausgebucht. Andere Bewohner packen ihre eigenen Autos und Anhänger. Ein wütender, wohl prorussisch eingestellter Mann beschimpft uns, als wir ihn befragen wollen: «Verpisst euch, und hört auf, Selenski zu unterstützen! Ohne euch hätten wir diese ganze Scheisse nicht!»

Kriegsmüde sind auch die Menschen am Bahnhof, vor allem aber sind sie traurig und erschöpft. Jeden Tag warten mehr Flüchtlinge auf den Zug nach Westen. Er fährt um 14 Uhr von Gleis 1. Auf Fragen antworten sie einsilbig. Viele von ihnen verlassen ihre Heimat nach 2022 bereits zum zweiten Mal: Sie glauben nicht mehr, dass die Armee die Russen aufhält. Viel Platz für Gepäck gibt es in den vollen Zügen nicht, wenigstens dürfen die Katzen mit. Sicherheitsleute und Familienmitglieder stützen die Alten und Kranken, die nicht selbst einsteigen können.

Als sich der Zug in Bewegung setzt, nach Pawlohrad, Dnipro und weiter, winken ihm ein paar Leute nach. «Ich fühle mich wie auf der Titanic», sagt eine Frau, während sie ihrem Sohn und ihrer Mutter durch das Fenster nachschaut. Als ihr die Tränen über die Wangen zu rollen beginnen, hält sie ihre Begleiterin fest. «Nicht weinen», sagt sie streng. «Wir müssen unsere Tränen zurückhalten.»

Neues Leben unter Bomben

Sie bleiben zurück in einer Stadt, die täglich schrumpft. Dennoch harren weiterhin 53 000 von 85 000 Einwohnern der Agglomeration Pokrowsk aus. Einige Aussenquartiere sind bereits in Reichweite der russischen Artillerie. Doch die öffentlichen Verkehrsmittel fahren weiter, Cafés sind offen, die Koks-Mine produziert weiter Kohle. Und in der städtischen Geburtsklinik kommen noch immer Babys auf die Welt.

Leonid wurde am 12. August geboren, «unter Bomben», wie seine Mutter Waleria Skalosub erzählt. In jener Nacht erlebte Pokrowsk einen der bisher heftigsten russischen Angriffe, einen Vorgeschmack auf die Belagerung. Die Geburt dauerte zweieinhalb Stunden. Nun liegt Skalosub in ihrem Wochenbett. Sie sieht blass aus, sagt aber, sie fühle sich schon viel besser. Was mit ihr wird, wenn sie wieder nach Hause geht, weiss sie nicht. «Leider ist Pokrowsk kein Ort mehr für Babys.»

Der Rest der modernen Geburtsklinik ist fast menschenleer. «Vor dem Krieg wussten wir kaum, wo wir all die Mütter unterbringen sollen. Nun ist Leonid das einzige Neugeborene in einer ganzen Woche», sagt Olena Fedorowskaja. Die Sekretärin des Oberarztes führt uns durch die Gänge. Das Spital blieb bisher unversehrt. In einer Ecke stapeln sich Hilfsgüter, und an einer Wand zeigt sie Fotos von Ärzten und glücklichen Familien. Fast alle von ihnen sind weggegangen.

Der Krieg hat die Geburten im ganzen Land einbrechen lassen. In Pokrowsk kamen 2021 noch 1200 Kinder auf die Welt. Dieses Jahr waren es bisher 342. Die Leute wüssten nicht, was die Zukunft bringe, sagt Fedorowskaja. «Da überlegst du dir zweimal, ob du ein Kind willst.» Die Anspannung und der zusätzliche Alkoholkonsum wegen des Krieges führten auch zu mehr Konflikten in der Familie. «Die Schwangerschaft sollte doch eine glückliche Zeit sein. In einer bombardierten Stadt ist sie vor allem ein Stress.»

Es kann gut sein, dass Leonid eines der letzten Kinder ist, die in der Geburtsklinik zur Welt kommen. Die Stadtverwaltung hat einen obligatorischen Evakuierungsbefehl für die Familien der geschätzt 3500 verbliebenen Kinder ausgegeben. Auch Waleria Skalosub wird Pokrowsk bald verlassen müssen.

Die Stadt verändert sich nun rasch. Die Spielplätze sind leer. Selbst in den Pärken bleiben die Spaziergänger aus. Die Restaurants, die bei unserem letzten Besuch vor einem Jahr noch voller Familien waren, sind halbleer. Das moderne Kultur- und Shopping-Zentrum Bulwar, einst der Dreh- und Angelpunkt der Innenstadt, ist seit Anfang August geschlossen.

Die Stadt der Soldaten

Jene Geschäfte, die geöffnet sind, warten noch ab. Der Kleiderladen Tango hat alle Waren um 20 Prozent heruntergesetzt. Aber die entlang der Wände aufgehängten Lederjacken, Pelzmäntel und Frauenkleider finden keine Kunden. Das letzte Kleidungsstück verkaufte das Besitzerpaar Ruslan und Olena Osmanow vor einem Monat. Sie hätten an den Sieg geglaubt, sagt Ruslan. Vor zwei Jahren blieb er in der Stadt, als viele weggingen. Er baute seine Läden in Pokrowsk aus und entwickelt eine eigene Kleidermarke. Als Pokrowsk zur Frontstadt wurde, brachte er an den Ärmeln der Lederjacken Klettverschlüsse an, auf denen die Soldaten die Abzeichen ihrer Brigaden befestigen konnten.

Es half nichts. Nun ärgert sich der 43-Jährige über seine Naivität. «Wäre ich ein richtiger Geschäftsmann, wären wir schon gestern gegangen.» Das Ehepaar will den Laden so schnell wie möglich schliessen und verkaufen. Sie schauen sich weiter westlich um nach einem Ersatzlokal, in Pawlohrad. «Das heisst aber auch, dass wir den Donbass verlassen, falls wir lebend rauskommen», sagt Olena Osmanow.

Während die Zivilisten gehen, nehmen die Angehörigen der Armee mehr Raum ein. Sie mieten die leeren Wohnungen, essen und trinken in den verbliebenen Lokalen. Mit einem monatlichen Einkommen von umgerechnet 2500 Franken verdienen sie gut. «Es gibt viele Soldaten, und sie wollen möglichst schnell essen», bringt es die Betreiberin eines neuen Döner-Stands auf den Punkt. Vor der Bude mit dem Take-away-Café herrscht Hochbetrieb. Kämpfer brauchen viel Kalorien und Koffein, und sie haben wenig Zeit.

Für die Läden heisst das, dass jene überleben, die sich auf die Bedürfnisse der Frontsoldaten einrichten. Überall öffnen deshalb neue Geschäfte für militärisches Zubehör. Jene der Donbass-Kette Uarm sehen aus wie stilvolle Outdoor-Läden in der Schweiz. Aber sie verkaufen Stahlhelme, Schutzwesten und Kampfstiefel, da der ukrainische Staat diese oft nur in schlechter Qualität zur Verfügung stellt. Anderen ist anzusehen, dass sie früher mit Lebensmitteln oder Schuhen handelten und ihr Sortiment erweiterten, sobald die Front an Pokrowsk heranrückte.

Die Bewohner beobachten diese Veränderungen. Aber sie scheinen unschlüssig, was sie davon halten sollen. Grosse Einflussmöglichkeiten haben sie ohnehin nicht. Jene, die bleiben, können profitieren, etwa als Vermieter. Gleichzeitig haben Nachbarn Angst vor russischen Raketenangriffen, wenn im Hof plötzlich ein Dutzend Armeefahrzeuge steht. Das Misstrauen ist gewachsen. Ein Mann verdächtigt uns, Spione zu sein, weil wir am Abend mit einer Kamera unterwegs sind. «Journalisten sollt ihr sein? Was machen denn Journalisten um diese Zeit hier?» Erst das Vorzeigen der Militärakkreditierungen beruhigt ihn.

Der letzte Tanz

Am Vorabend der Schlacht ist die Zukunft von Pokrowsk völlig ungewiss. Die Soldaten fragen sich, ob sie die Russen aufhalten können. Manche der verbliebenen Zivilisten wünschen sich wohl, die ukrainische Armee würde die noch weitgehend intakte Kleinstadt kampflos aufgeben. So würde sie nicht unter Moskaus Bombenhagel zerstört, wie Bachmut und Awdijiwka. Jene, die bereits geflohen sind, würden dann ihre Heimat für immer verlieren.

Noch halten sich die Bewohner am letzten Stück Normalität fest. Eine unserer Gesprächspartnerinnen nimmt uns mit in ein verstecktes Restaurant mit Garten. Die Gäste sitzen in kleinen abgetrennten Kabinen. Andri, der Besitzer, bringt Borschtsch, gebackene Auberginen, Grillfleisch und Salate. In einem Bottich schwimmt sogar ein Karpfen, der bald als Fischfilet auf dem Teller landet.

Am Nebentisch feiert eine Runde von Kämpfern und Bewohnerinnen ein improvisiertes Festchen. Trotz Alkoholverbot trinken sie Whiskey und Artjomowsker Champagner, den die Ukrainer vor der Besetzung in der Stadt Bachmut produzierten. Als es dunkel wird, bringt Andri einen grossen Lautsprecher mit blauem Stroboskop-Licht. Zur Ballade «All By Myself» tanzt ein Paar eng umschlungen. Es fühlt sich an wie der letzte Tanz.

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