Sonntag, Oktober 6

Dreissig Jahre sind seit dem Massensuizid der Sonnentempler vergangen. Die Sekten-Expertin Susanne Schaaf sagt, der Schock habe in der Gesellschaft zu einer Sensibilisierung geführt – doch es gebe weiterhin gefährliche Gemeinschaften.

Frau Schaaf, die Massensuizide und Morde der Sonnentempler erschütterten vor dreissig Jahren die Schweiz, Frankreich und Kanada. Was waren aus Ihrer Sicht die Gründe, die zu diesen Massakern geführt haben?

Bei solchen Dramen wie den Massentötungen bei den Sonnentemplern kommen stets verschiedene Faktoren zusammen, die eine unheilvolle Dynamik bewirken. Zum einen handelt es sich um Führungspersonen mit Macht- und Geltungsansprüchen. Joseph Di Mambro kontrollierte, zusammen mit Luc Jouret, das System. Sie verstanden sich als Inkarnationen sogenannter aufgestiegener Meister. Dazu kam eine Ideologie, geprägt von der Überzeugung einer bevorstehenden Apokalypse und dem angeblich rettenden Weg zum Stern Sirius. Das Hier und Jetzt wurde polemisch abgewertet. Und den Tod, der in das neue Leben als christusähnliche Sonnenwesen führen sollte, präsentierten die Führer als Lösung.

Welche Rolle spielte es, dass sich die Sonnentempler komplett von der Gesellschaft zurückgezogen hatten?

Abschottung und Beeinflussung führten zu Abhängigkeit und Verblendung, so dass es den Mitgliedern kaum mehr möglich war, die Situation mit sachlicher Distanz zu beurteilen.

Welche Folgen hatte das Sonnentempler-Drama bezüglich der öffentlichen Beurteilung von problematischen religiösen Gemeinschaften?

Der Schock hat sicherlich zu einer Sensibilisierung und zu einer gewissen politischen Bereitschaft geführt, sektenhafte Milieus unter die Lupe zu nehmen, die Bevölkerung aufzuklären und Unterstützungsangebote aufzubauen.

Waren die Ereignisse von 1994 einzigartig?

Nein. Nicht nur das Drama der Sonnentempler, sondern auch der Massensuizid in der Ufo-gläubigen Gruppe Heaven’s Gate, der Giftgasanschlag der Aum-Sekte in der U-Bahn von Tokio und das Blutbad der Davidianer in Waco in den neunziger Jahren führten der Welt vor Augen, dass sich religiös motivierte Gemeinschaften radikalisieren und bis zum Äussersten gehen können. Auch heute gibt es noch Gruppen und Netzwerke, die sich radikalisieren und eine Gewaltbereitschaft aufweisen, wobei sich die Gewalt vor allem gegen vermeintliche «Feinde» des eigenen Weltbildes richtet.

An was für Gemeinschaften denken Sie da?

Zum Beispiel an die islamistische Boko Haram. Man darf jedoch nicht vergessen, dass es im Zusammenhang mit sektenhaften Milieus grosses Leiden gibt, von dem die Öffentlichkeit kaum etwas erfährt, «stille Dramen» sozusagen. Es geht um Menschen, die aufgrund des Drucks in der Gemeinschaft und erlebter grosser Angst psychisch krank werden. Um Menschen, die sich aus Verzweiflung und Aussichtslosigkeit das Leben nehmen. Um Menschen, die in ideologischer Verblendung sich und anderen schaden.

Für wie gross halten Sie das Risiko, dass es auch wieder zu «grossen» Dramen wie jenem der Sonnentempler kommt?

Ich persönlich glaube zwar nicht, dass sich ein solches Massaker in der Schweiz in diesem Ausmass wiederholt. Aber es gibt nichts, was es nicht gibt. Die Corona-Pandemie hat ja auch unzählige Probleme mit Verschwörungsmythen hervorgebracht, die nach dem Ende der Pandemie nicht unbedingt wieder verschwunden sind. Die Verschwörungsgläubigen haben sich anschlussfähige Themenfelder gesucht, das Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen ist geblieben.

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