Sonntag, Oktober 6

Anna Sorokin wurde durch die Serie «Inventing Anna» weltberühmt. Ihre neuste Masche: die Opferrolle.

Anna Sorokin erzählt gerne Geschichten. Die meisten davon sind erfunden: Sie ist eine Hochstaplerin, eine äusserst erfolgreiche sogar. Sorokin, 33 Jahre alt, deutsch-russische Staatsangehörige, hat sich in New York jahrelang als Millionenerbin ausgegeben. Sie schlich sich in die Elite von Manhattan ein, betrog Freunde, Banken und Investoren um Hunderttausende Dollar. 2017 wurde sie zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt.

Ein Gericht hat im August ihren Hausarrest gelockert, das Instagram-Verbot aufgehoben. Nun meldet sich Sorokin zurück. Anfang September organisiert sie eine Modeschau an der Fashion Week New York. Mit Fussfesseln gibt sie ein Comeback.

Sie wagt sich damit wieder in jene Kreise, die sie jahrelang belogen und betrogen hat. Und wird gefeiert für ihre Rückkehr. Ein Instagram-Nutzer schreibt: «Das ist wie damals, als Jesus zurückkam.» Sorokin, die Hochstaplerin, wird von Millionen verehrt. Sie ist die, die sie immer sein wollte.

Lieber Millionenerbin als Arbeiterkind

Auf Instagram hat Sorokin über eine Million Follower. Ihr Fall wurde in Dokumentationen, Büchern, Theaterstücken, Podcasts, Zeitungsartikeln thematisiert, war die Vorlage für die Netflix-Serie «Inventing Anna». Netflix zahlte Sorokin 320 000 Dollar für die Rechte an der Geschichte.

Das Rätsel um ihre Person steigert das Interesse, lässt Raum für Spekulationen. Sorokin schweigt über das Motiv, weshalb sie Hochstaplerin wurde. Sie bereue nichts, sagte sie einmal der «New York Times». Lieber inszeniert sie sich, als über ihre Geschichte zu sprechen. Den Gang zum Gerichtssaal verwandelt sie in einen Catwalk, trägt Bleistiftrock, Samtfliege, Highheels.

Die amerikanische Journalistin Jessica Pressler hat Sorokins Geschichte im «New York Magazine» rekonstruiert. Sorokin wurde in Russland geboren, die Eltern waren Arbeiter. Als sie 16 Jahre alt war, zog sie mit ihrer Familie nach Deutschland. Mit 22 wanderte sie allein nach New York aus und begann ein Praktikum beim französischen Modemagazin «Purple».

In New York änderte Sorokin ihren Namen und ihre Identität. Sie nannte sich fortan Anna Delvey, gab sich als deutsche Millionenerbin aus. Sie fälschte Finanzdokumente, laut denen sie über ein Treuhandvermögen von mehreren Millionen verfügte. Sie trickste Banken, Bekannte und Immobilienmakler aus. Sorokin brachte diese dazu, Bargeld auszuzahlen und hohe Kredite zu gewähren. Sie finanzierte sich damit einen verschwenderischen Lebensstil, verkehrte auf den besten Partys, trug Markenkleider, nächtigte in luxuriösen Hotels.

Zwischen 2013 und 2017 hat Sorokin Finanzinstitute, Banken, Hotels und Privatpersonen um 275 000 Dollar betrogen und getäuscht. Bei ihrer Verhaftung war sie erst 26 Jahre alt.

Nur der Schein zählt

Betrügerinnen wie Sorokin faszinieren, sie sind intelligent, setzen keine Gewalt ein, wirken harmlos. Im Fall von Sorokin kommt Schadenfreude dazu. Sie nutzte die Oberflächlichkeit der New Yorker High Society schamlos für sich aus. Und zeigte: Solange man die richtigen Kleider trägt und in teuren Hotels logiert, gehört man dazu. Nur der Schein zählt. Jeder kennt jeden, und doch weiss man nichts voneinander.

Einige sehen in Sorokin eine Art modernen Robin Hood. Für die Opfer ist diese Romantisierung fatal, eine traumatische Erfahrung wird ihnen abgesprochen. Rachel Williams, eine ehemalige Vanity-Fair-Mitarbeiterin, die laut eigenen Angaben um 62 000 Dollar betrogen wurde, nennt Sorokin eine Soziopathin und Narzisstin. «Ich werde nie damit klarkommen, was sie mir angetan hat.»

Sorokin plant genau, mit welchen Personen sie sich umgibt, weiss, wie sie Aufmerksamkeit erzielt. Bei ihrem neusten Projekt spannt sie mit der einflussreichen amerikanischen Publizistin Kelly Cutrone zusammen. Bereits vergangenen Herbst hatte Sorokin für die Modedesignerin Shao Yang eine Modeschau organisiert. Wegen Hausarrests fand diese auf Sorokins Dachterrasse statt. Es war ein medienwirksames Spektakel.

Sorokin liebt die Provokation: Die Räumlichkeiten der Modeschauen von kommender Woche sind laut amerikanischen Medien von Pornhub gesponsert. Und Mitte September soll Sorokin einen Podcast mit dem Ex-Pornostar Stormy Daniels aufnehmen.

Ein silbernes A ziert Sorokins Fussfesseln, eine Metapher für verfolgte Frauen. Sie wolle Kontrolle über das Narrativ über sie zurückgewinnen, sagte Sorokin kürzlich dem Magazin «People». Sie habe es satt, als falsche Erbin abgestempelt zu werden: «Ich glaube, das ist das Schlimmste, was mir in meinem Leben je passiert ist.»

Sorokins neuste Masche ist die Opferrolle.

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