Sonntag, November 17

Vor hundert Jahren begründete Heinrich Hanselmann in Zürich die Heilpädagogik. Sie etablierte sich, indem sie sich der Eugenik anbiederte.

In Zürich ruft Heinrich Hanselmann 1924 das Heilpädagogische Seminar ins Leben. Es soll die Lehrerinnen und Lehrer speziell ausbilden, die Kinder mit Behinderungen schulen. Daneben baut der aus dem Toggenburg stammende ehemalige Gehörlosenlehrer das Erziehungsheim Albisbrunn auf, das den künftigen Heilpädagogen Praktikumseinsätze ermöglicht. 1931 erhält er sogar akademische Weihen: Die Universität Zürich richtet für ihn die Professur für Heilpädagogik ein, die erste in Europa.

Fast überall bringt Hanselmann sich ein, bei der Pro Infirmis nicht weniger als bei der Pro Juventute, deren erster Sekretär er ist, bei der Schweizerischen Vereinigung für Anormale – so heisst damals der heilpädagogische Dachverband –, in der Sozialen Frauenschule und den einschlägigen Fachzeitschriften. Der Wissenschafter wirkt darüber hinaus als Vermittler für das Volk. Er schreibt Kolumnen für die Magazine «Sie und Er» und «Das gelbe Heft», in seinem Büro führt er Eheberatungen durch. Er macht sein Fach populär.

Hanselmann hat es geschafft. Aber nur dank der sogenannten Eugenik, der «Lehre vom guten Erbe», also der Theorie, wie die Volksgesundheit vor schädlichem Erbgut zu schützen sei.

Bildungsfähig oder nicht?

In den eugenischen Diskussionen der 1930er Jahre, die Mediziner und Psychiater umtreiben, spielt die Zürcher Heilpädagogik eine Schlüsselrolle. Darum fasst sie im Erziehungswesen, in der Behindertenbetreuung und im Fürsorgesystem Fuss. Hanselmanns Meisterstück, von dem behinderte Kinder bis heute profitieren, gründet auf deren Abwertung.

Neu ist die Heilpädagogik im Jahr 1924 nicht. Schon im 18. Jahrhundert versuchen Erzieher, körperlich Behinderte, Taubstumme und Blinde zu bilden. Sie wollen die von Gott oder vom Schicksal Versehrten auf die gleiche «Zivilisationsstufe» führen, auf der sie stehen. Zwangsläufig grenzen die Erzieher die Behinderungen, mit denen sie sich befassen, voneinander ab, denn jede Gruppe braucht ja eine besondere Behandlung.

Die Definitionsfragen führen die Erzieher dazu, neben Kindern mit körperlichen auch solche mit geistigen Behinderungen zu entdecken, etwa die «Blödsinnigen». Um 1850 entbrennt ein Streit darüber, ob diese bildungsfähig seien oder nicht. Er verschärft sich mit der Einführung der Schulpflicht von 1874: Für wen gilt sie und für wen nicht?

Um 1900 entstehen die ersten Sonderklassen für «Anormale». Sie zu unterrichten, obliegt den Heilpädagogen. Für ihre Arbeit stützen sie sich mehr und mehr auf die Erkenntnisse der Psychologie und Psychiatrie. Die beiden neuen Wissenschaften bieten verfeinerte Diagnosen an, die Heilpädagogik dagegen hat kein eigenes Profil, sie droht von ihren Konkurrentinnen überflügelt zu werden.

Da tritt der knapp vierzigjährige Hanselmann auf. Der ausgebildete Psychologe führt Praxis und Theorie zusammen. Er macht aus dem vagen Berufsfeld Heilpädagogik eine wissenschaftliche Profession. Seine Habilitationsschrift von 1924 lanciert er als Manifest. Geschickt positioniert er die Heilpädagogik zwischen Erziehung und Behinderung, Fürsorge und Fremdplatzierung. Er spricht nicht von «anormalen» Kindern, weil die Unterscheidung von den normalen schwierig sei, sondern von ihrem «entwicklungsgehemmten Seelenleben» – um sie dann doch «untüchtige Umweltgestalter» zu nennen.

Hanselmann weitet die Zuständigkeit der Heilpädagogik aus: Taubstumme und Taubblinde, sagt er, könnten sich auch seelisch nicht zu «normalen» Menschen entwickeln, schwachsinnige Kinder würden zwingend zu stumpfsinnigen und egoistischen Erwachsenen, Verkrüppelte hätten eine «Krüppelseele». Die Heilpädagogik erklärt er zuständig für alle irgendwie behinderten Kinder, für Geistesschwache nicht weniger als für Stotterer und Epileptiker.

Dazu verbindet Hanselmann die Heilpädagogik mit der Erbbiologie. Während die Psychiater darüber streiten, was für Psychopathen prägender sei, das Milieu oder die Vererbung, bringt Hanselmann beides zusammen: Vererbungsfaktoren würden zwangsläufig zu Milieufaktoren, die schlechten Anlagen schlügen sich im schlechten Milieu nieder. Damit macht er seine Theorie anschlussfähig für Erblehre und Eugenik, die in der Medizin damals gross in Mode sind. Man will verhindern, dass Behinderte aller Art sowie «Rassenfremde» sich fortpflanzen und so den «Volkskörper» schwächen.

Hanselmann setzt das Thema Eugenik strategisch für den Ausbau der Heilpädagogik ein. Alle Akteure, die in der Schweiz an der Eugenik interessiert sind, haben Verbindungen zur Zürcher Heilpädagogik. Der Basler Psychiater Carl Brugger etwa, der eifrigste Verfechter eugenischer Massnahmen, unterrichtet am Seminar, der Berner Kinderpsychiater Moritz Tramer, spezialisiert auf «geistige Hygiene», ist Mitbegründer.

1938 steuert Hanselmann einen Aufsatz zum heute berüchtigten Band «Verhütung erbkranken Nachwuchses» bei, den der Berner Eugeniker Stavros Zurukzoglu im Basler Schwabe-Verlag herausgibt. In den Augen des Arztes rettet das von den Nazis 1933 eingeführte «Erbgesundheitsgesetz» das deutsche Volk vor Degeneration und Entartung. Die Schweiz brauchte ein ähnliches Gesetz, befindet er. Dass in Deutschland Tausende von «Schwachsinnigen», Schizophrenen, Blinden und Tauben sterilisiert und kastriert werden, scheint ihn nicht zu kümmern. Zurukzoglu ist mit den wichtigsten deutschen Rassentheoretikern bekannt. An der Universität Bern lehrt er «Sozial- und Erbhygiene», daneben arbeitet er bei der Eidgenössischen Alkoholverwaltung.

Durch die Nazis diskreditiert

In seinem Aufsatz biedert sich Heinrich Hanselmann bei den Eugenikern an, ohne Zurukzoglus Extremposition einzunehmen. Hanselmann findet, dass Vernichtung und Sterilisation von «anlagemässig Behinderten» nicht infrage kämen, da sie gesetzlich verboten seien. Doch die Fortpflanzung von «Lebensunwerten», von Geistesschwachen, Psychopathen und Geisteskranken müsse im Interesse der «Volkswohlfahrtspflege» verhindert werden, und zwar mit dem Ausbau der «nachgehenden Fürsorge» und Anstaltsversorgungen. Wenn diese nicht zum Ziel gelängen, sei halt doch Sterilisation als letztes Hilfsmittel angebracht, es brauchte wohl ein neues Gesetz.

Erst zu Beginn des Zweiten Weltkriegs rückt Hanselmann von der Eugenik ab. Nach dem Krieg redet niemand mehr von der Ausmerzung volksschädigenden Lebens. Die Eugenik und ihr unmenschliches Vokabular sind durch die Verbrechen der Nazis diskreditiert worden. Nicht diskreditiert sind die Wissenschafter, welche die Eugenik praktiziert, propagiert oder mit ihr geliebäugelt haben, aus welchen Motiven auch immer. Sie kommen heil davon. Über die Prägung der Wissenschaften und der Fürsorge durch die Eugenik wird nicht mehr gesprochen.

Der Ausbau der Heilpädagogik geht weiter, auch nach Hanselmanns Tod 1960. Die Universität Zürich eröffnet 1973 das Institut für Sonderpädagogik, 2001 wird aus dem Heilpädagogischen Seminar eine Fachhochschule, die heutige Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik.

Sebastian Brändli: Bildung für alle. 100 Jahre Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik, Zürich 2024. / Carlo Wolfisberg: Heilpädagogik und Eugenik. Zur Geschichte der Heilpädagogik in der deutschsprachigen Schweiz (1800–1950), Zürich 2002.

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