Freitag, Oktober 4

Für Flyer-Chef Andreas Kessler ist der schwächelnde E-Bike-Markt nach der Corona-Pandemie ein «Tal der Tränen», das die gesamte Branche durchstehen muss. In Zukunft will er vieles anders machen.

Andreas Kessler, nach einem Höhenflug in der Pandemie macht die E-Bike-Branche schwere Zeiten durch. Allein Ihre Firma hat 2023 ein Viertel der Mitarbeiter entlassen, kürzlich gab es weitere Kündigungen. Wie kam es zur Krise?

Die Anpassungen waren aufgrund der schwierigen Marktsituation betriebswirtschaftlich zwingend notwendig. Allgemein haben die Schwierigkeiten mit mehreren Faktoren zu tun. Zum einen hat sich der Markt weniger positiv entwickelt als erwartet – die schon zurückgeschraubten Absatzerwartungen haben sich nicht erfüllt. Die Kaufkraft in den zentraleuropäischen Märkten ist eher schwach und wird sich auch nicht rasch erholen. Zum anderen sind die Lieferketten nicht so professionell aufgestellt wie etwa in der Automobilindustrie und können auf Marktveränderung nicht schnell genug reagieren. In Asien wird die Anzahl produzierte Rahmen teilweise noch mit Kreide auf Wandtafeln geschrieben.

Darf man in Billiglohnländern westliche Standards voraussetzen?

Tatsächlich haben wir da teilweise zu hohe Erwartungen, die insbesondere von Rahmenherstellern nicht immer erfüllt werden können – beispielsweise bei der Farbkonsistenz oder was die Liefertreue betrifft. Dazu kommen kulturelle Unterschiede und Missverständnisse bei den Absprachen.

Die Lager bei Flyer und anderen E-Bike-Herstellern sind voll, Überkapazitäten im hohen sechsstelligen Bereich wollen abgebaut werden. Wie konnte das passieren, und mit welchen Strategien kann die Situation gelöst werden?

Wir alle sind diese Corona-Welle mit hohen Nachfragen geritten und wussten, dass es irgendwann vorbei sein würde. Doch keiner hatte den Mut, als Erster abzusteigen – das wäre vermutlich auch von den Eignern oder Aktionären abgelehnt worden. Im Nachhinein ist man immer schlauer. Nun muss die Ware – teilweise mit Rabatten auf allen Stufen – über die nächsten Quartale abverkauft werden, bis die Lagerbestände wieder auf einem gesunden Niveau sind.

In der Outdoor-Welt gross geworden

Andreas Kessler (59) führt das 1995 gegründete Unternehmen Flyer seit 2016, nachdem der Absolvent eines Betriebswirtschaftsstudiums zehn Jahre bei Odlo als CEO und bei Mammut als internationaler Verkaufsleiter tätig gewesen ist. Zuvor arbeitete er zehn Jahre als Regional Sales Director (Asien) und Managing Director USA für die Swatch Group.

Was muss sich in Ihrem und ähnlichen Unternehmen ändern, um in Zukunft besser auf einen Abschwung vorbereitet zu sein?

Ich denke, wir alle in der Branche müssen die Lehren daraus ziehen, dass die Bäume nicht in den Himmel wachsen. Vermeiden lässt sich dies, indem man sich heute enger und mehr auf Augenhöhe austauscht, auf allen Ebenen. Und indem man schneller wird in Entscheidungsfindungen, das ist wichtig für die träge Lieferkette. Da gab es in der Vergangenheit Lieferfristen von bis zu 900 Tagen, mit limitierten Möglichkeiten, zu stornieren oder wenigstens zu schieben. Als Corona und somit die enorme Nachfrage nach Fahrrädern vorbei war, kamen die bestellten Komponenten wie eine Lawine, die einen fast erdrückt hat. Das Ergebnis beschäftigt uns bis heute, weil viel mehr von allem da ist, als verkauft werden kann.

Woran liegt das genau?

Primär am Verbraucher. Der hat vor und während Corona seinen Bedarf gedeckt – nicht nur bei uns. Man sah das auch bei Gartenmöbeln oder Fitnessgeräten. Jetzt wird wieder mehr in Reisen und weniger in hochpreisige Produkte investiert. Auch die geopolitische Situation hat sich geändert, die Stimmung ist gedrückt, es gibt Entlassungen, und der Geldbeutel sitzt in der Folge nicht mehr so locker.

Was bedeutet das für Premium-Anbieter, zu denen Sie sich ja zählen?

Der Markt ist in den letzten 24 Monaten geschrumpft. Aber er setzt jetzt wieder dort auf, wo wir 2019 waren. Und im Premiumbereich ist der Konsument weniger preissensibel – das sieht man beispielsweise auch in der Uhrenbranche. Teure Produkte werden weiterhin gekauft. Parallel setzen wir stark auf Qualität. Unsere E-Bikes werden in der Schweiz entwickelt, montiert und geprüft, denn es geht ja auch um Sicherheit, wenn jemand mit 30 bis 50 km/h auf zwei Rädern unterwegs ist. Zudem sind unsere Stärken der Anspruch auf Langlebigkeit und Ersatzteile, die lange verfügbar sein werden. Die werden auch wahrgenommen, und mit denen differenzieren wir uns von unteren Mitbewerbern.

Was passiert denn jetzt mit den zahlreichen 2023er-Modellen, welche die 2024er nicht kannibalisieren dürfen – müssen sie vielleicht gespendet, demontiert oder gar entsorgt werden?

Diese aufgezählten Möglichkeiten sind nur in geringem Masse umsetzbar. Was wir machen, ist: intern Strukturen anpassen, etwa mit dem erfolgten Stellenabbau oder angepassten Absatzerwartungen. Dazu haben wir storniert, was möglich war. Gewisse Modelle lassen wir jetzt ein, zwei Jahre länger laufen. Und versuchen, gemeinsam mit unseren Händlern Möglichkeiten zu suchen, etwa Rabatte zu offerieren oder hier oder da mit Valuta zu arbeiten – nicht zu stark, wie andere das machen, aber gerade so viel, um die Ware in den Markt zu bringen. Denn bei uns im Lager nützt sie niemandem. Und Lösungen, bei denen das Kontingent mit einem Schnipp verschwindet, gibt es leider nicht. Alle Player unserer Branche müssen gegenwärtig durch dieses Tal der Tränen. Aus unserer Sicht wird es noch etwa zwölf bis 18 Monate dauern, bis wir zum Normalzustand zurückkehren können. Fest steht aber auch: Der Preisdruck wird weiter steigen.

Wie kann man verhindern, dass sich eine solche Situation wiederholt?

Die erwähnten Massnahmen greifen, auch wenn sie schmerzhaft sind. Betriebswirtschaftlich waren sie notwendig, damit Flyer weiterhin gesund bleibt. Wir werden 2025 dreissig Jahre alt und haben in der Öffentlichkeit einen hervorragenden Ruf. Das stützt.

Was bedeutet das für Ihr Portfolio? 2024 haben Sie vier neue Modelle lanciert, nächstes Jahr kommen zwei weitere hinzu. Gleichzeitig strafft Flyer das Antriebsangebot oder plant neue Kooperationen, etwa beim Thema Vernetzung, wo man demnächst wieder den Schulterschluss mit Bosch sucht . . .

Fangen wir vorne an: Waren sechs neue Modelle richtig in dieser schwierigen Zeit? Im Nachhinein muss man sagen: Ja. Denn die Entwicklungen gehen weiter. Händler bestellen auch gerne Neuheiten, und die wurden sehr gut verkauft – mit Pinion-Antrieb zum Beispiel, weil es da grosses Interesse gab. Das hat uns geholfen. Bei den Antrieben bleibt zurzeit alles, wie es ist – Panasonic mit nach wie vor über 50 Prozent, Bosch mit derzeit rund 40 Prozent Anteil am Gesamtumsatz, doch das wird sich in den nächsten drei, vier Jahren zugunsten von Bosch drehen: Die Nachfrage im Handel und bei den Kunden ist da, und man kann diesen Antrieb fast überall auf der Welt in den Service bringen. Pinion kommt an dritter Stelle, weil das preislich ein High-End-Nischenprodukt ist.

Stichwort Innovationen: Wo sehen Sie die wichtigsten Trends der kommenden Jahre?

Einer ist sicher das Thema Leichtbau: Früher war immer die Reichweite am wichtigsten, das hat sich geändert – nicht nur bei den Mountainbikes, sondern auch im urbanen Bereich. Der zweite grosse Trend sind Digitalisierung und Konnektivität, wie es sie im Auto- und Motorradbereich bereits gibt, inklusive Diebstahlschutz und GPS-Tracking. Bei weiteren Features muss man, glaube ich, zwischen Sinn und Unsinn unterscheiden, aber Service-Nachrichten oder individuelle Einstellungen – mehr Reichweite, weniger Unterstützung – werden sicherlich an Bedeutung gewinnen. Trend Nummer drei ist, dass alles viel kompakter und immer weiter integriert wird: kein Kabelsalat mehr am Lenker oder kleinere Motoren, die man kaum noch sieht. Schon heute muss man bei Light-E-Bikes zweimal hinschauen, um ihre Elektrifizierung zu erkennen.

Parallel stellen Sie unter dem Label Flyer One eigene Velo-Komponenten wie Licht, Lenkerbrücken oder Gepäckträger her – warum das?

Wir sind überzeugt, dass dies wichtig ist, um sich vom Wettbewerb zu differenzieren. Wenn Sie heute zwei E-Bikes verschiedener Hersteller nebeneinanderstellen, sind die austauschbar geworden: Bauteile wie das Antriebssystem, die Reifen oder Sättel stammen von den gleichen Zulieferern. Wenn es da gelingt, einen Mehrwert zu bieten, ist das ein Kaufargument, ganz besonders unter Premiumherstellern. Wir werden das also weiterhin machen – sicher nicht mit 30 Komponenten, aber da, wo es Sinn ergibt.

Flyer hat immer nur E-Bikes gebaut, aber nicht in allen Segmenten: Cargo gibt es gar nicht mehr, der Fokus liegt klar auf Tour- und Citybikes – bleibt das so?

Zwei Drittel des Umsatzes generiert der City- und Trekkingbereich. Das ist unsere DNA, da kommen wir her und bleiben dort, arrondiert mit Mountainbikes und Crossover-Modellen.

Premium bedeutet Langlebigkeit – man könnte meinen, Flyer stehe sich damit selbst im Weg, weil Kunden zwangsläufig seltener wiederkommen. Oder besinnt man sich wieder auf ein gesundes Kontingent?

Genauso ist es. Wie wollen gewisse Segmente abdecken und wegkommen vom Jahresmodell. Also weniger häufige Modellwechsel bringen, künftig nur noch etwa alle vier Jahre – früher waren es alle zwei bis drei Jahre. Die Entwicklung der Komponentenhersteller muss man natürlich begleiten, was aber nicht heisst, dass man mit allen Modellen immer die neueste und beste Ausstattung an Bord haben muss. Dieser Ansatz hilft enorm.

Gilt das für die ganze Branche? Wird es eine Konzentration auf jeweilige Stärken geben, eventuell eine Reduktion an Marken? Oder wird das Angebot zunehmend differenzierter, kleinteiliger?

Eine Reduktion wird es bestimmt nicht geben. Mittel- und langfristig, wenn diese Durststrecke einmal überstanden ist, sieht es für die E-Bike-Branche eigentlich sehr positiv aus. Hier und da wird es zu Konsolidierungen kommen, einige Marken werden verschwinden oder aufgekauft werden. Aber es entstehen auch ein paar neue. Vor allem im Automobilbereich gibt es anscheinend sehr grosses Interesse, in unserem Markt Fuss zu fassen: Bombardier und Porsche entwickeln Motoren, Letztere für ein eigenes Highend-E-Bike, aber auch ZF präsentiert bald einen komplett neuen Antrieb, dazu gesellen sich viele Newcomer wie DJI. Auch das zeigt: Der Trend zum E-Bike wird sich fortsetzen. Und mit der Strategie, E-Bikes am Standort Schweiz herzustellen, sind wir für die Herausforderungen der Zukunft gerüstet.

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