Mittwoch, Februar 12

Auf der Lenzerheide finden erstmals Biathlon-Weltmeisterschaften in der Schweiz statt, an denen Frauen und Männer teilnehmen. Ein Anlass, den es ohne drei Schwestern aus dem Engadin so kaum gäbe.

Welches ist das geeignetste Geschenk zur Firmung? Ein Goldkettchen? Oder eine Uhr? Aita Gasparin erhielt ein Gewehr. Die Geberinnen waren ihre Schwestern Selina und Elisa.

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Diese Episode steht am Anfang eines Kapitels Schweizer Sportgeschichte. Denn Jahre später, 2014 in Sotschi, sorgte das Gasparin-Trio aus dem Engadin fast im Alleingang dafür, dass im Biathlon erstmals eine Schweizer Frauenstaffel an Olympischen Spielen teilnahm. Damit nicht genug. Elisa, die Mittlere, überraschte in Sotschi als Achte im Sprint mit einem olympischen Diplom. Und Selina, der Ältesten, gelang der Coup: Im Einzelrennen über 15 Kilometer stürmte sie ohne Schiessfehler zu Silber. Es ist bis heute die einzige Schweizer Biathlon-Medaille an einem Grossanlass.

Anfang des Jahrtausends hätte diese Erfolge noch kaum jemand für möglich gehalten. Damals fehlten dem Schweizer Biathlon jegliche professionelle Strukturen. Der zuständige Verband kämpfte gegen den Bankrott, eine Frauenabteilung fehlte.

Pläne für Biathlon-Weltmeisterschaften in der Schweiz, wie sie in den kommenden Tagen auf der Lenzerheide erstmals umgesetzt werden, wären seinerzeit als Spinnerei abgetan worden. Und vielleicht würde es diese WM gar nicht geben, hätte sich nicht die junge Selina Gasparin aufgemacht, an dieser Tristesse etwas zu ändern, getrieben von schier ungeheurem Pioniergeist.

Ein medizinisches Wunder

Die Perspektiven für ihre Biathlon-Karriere waren damals miserabel, ja es gab im Umkreis ihres Wohnorts Pontresina zunächst nicht einmal einen Schiessstand, in dem sie den fachgerechten Umgang mit ihrem Gewehr hätte üben können. Aber Selina Gasparin war schon immer so: Wenn ihr jemand sagte, sie solle eine sehr komplizierte Aufgabe bleiben lassen, sagte sie sich: «Jetzt erst recht!»

Ihr Aufstieg gleicht einem medizinischen Wunder. Zum einen wurde ihren Eltern beschieden, dass die Chance auf eigenen Nachwuchs gegen null tendiere. Zum andern wurde sie mit Beinen geboren, die sichelförmig nach innen verdreht waren und deshalb in den Babyjahren eingegipst werden mussten. Die Anomalie erforderte die Anmeldung für eine Invaliditätsversicherung – hinderte sie aber nicht daran, ein sportliches Multitalent zu werden.

Dass sie auf die Loipe fand, hatte auch mit ihren Schwestern zu tun. Eigentlich bevorzugte sie das Alpinskifahren, doch ihre Mutter fand es mit Elisa und Aita im Kinderwagen praktischer, Selina zum Langlaufen zu begleiten.

Mittlerweile ist Selina Gasparin 40 Jahre alt – ihre Karriere hat sie im Frühling 2022 beendet. Deshalb steht sie nicht am Start, wenn die Schweizer Biathlon-Bewegung mit den Heim-WM einen weiteren Meilenstein erreicht. Sie kann damit umgehen, denn mittendrin ist sie trotzdem: als offizielle WM-Botschafterin, die Gästen Auskunft gibt über ihren Sport. Als oberste Nachwuchsverantwortliche des Schweizer Biathlons. Und sie will ihren Schwestern den Rücken freihalten – Elisa und Aita sind immer noch auf höchstem Niveau aktiv.

Die Gasparins könnten zu Fuss aufs WM-Gelände, wohnen sie doch alle nur ein paar hundert Meter entfernt. Nachdem 2013 auf der Lenzerheide die Biathlon-Arena eröffnet worden war, zogen sie hierher. Nun gab es auf Schweizer Boden endlich eine alles umfassende Trainingsinfrastruktur für ihren Sport.

Elisa Gasparin stehen in den kommenden Tagen besonders bewegende Momente bevor. Sie hat vor den WM bekanntgegeben, dass sie nach dieser Saison zurücktrete, im Alter von 33 Jahren. Immer wieder musste sie gesundheitliche Rückschläge verkraften, im vergangenen Jahr machte sie eine Essstörung öffentlich.

Als sie kürzlich in einer SRF-Dokumentation gefragt wurde, mit welchen Gefühlen sie in die Zukunft blicke, sagte sie mit feuchten Augen: «Es ist auch eine Angst da. Man gibt etwas auf, das man liebt.» Im Gespräch mit der NZZ fügt sie hinzu, dass sie, die Gasparins, gar nicht so wenig erreicht hätten, dafür, dass sie für ihre Träume einst ausgelacht worden seien.

Die grössten Medaillenchancen an den WM auf der Lenzerheide könnten Elisa und Aita Gasparin in der Frauenstaffel haben; in dieser Disziplin erreichten sie jüngst im Weltcup zwei 4. Ränge.

Ihr wichtigster Partner wurde ein Knäckebrot- und Zwieback-Hersteller

Aita, die Jüngste, wird also ab nächstem Winter erstmals als Einzige aus dem Trio an die Biathlon-Wettkämpfe reisen. Die älteren Schwestern machen sich aber keine Sorgen. Elisa Gasparin sagt: «Die Schweizer Biathlon-Equipe hat sich so stark entwickelt, dass ein guter Teamgeist Aita auffangen wird. Dazu trägt bei, dass die Männer, die heute im Kader sind, Wert auf einen guten sozialen Austausch legen.»

Selina Gasparin hatte es noch anders erlebt. Als sie noch die einzige Frau im Schweizer Team war, fühlte sie sich einsam und heulte oft in ihrem Hotelzimmer. Für sie war es ein Segen, als ihre Schwestern zu ihr aufrückten, just auf Sotschi hin. Die Sparte Biathlon war mittlerweile in den Grossverband Swiss Ski integriert worden. Das brachte Fortschritte. Doch Swiss Ski wollte nur ein beschränktes Trainingsangebot zur Verfügung stellen. Und so gründeten die Gasparins eine GmbH, damit sie Zusatztrainings von einem Privatcoach erhalten konnten.

Einfach war es nicht, Geld für dieses Projekt zu beschaffen, doch dank vielen kleinen Gönnern wurde es möglich. Unter ihnen waren einige Baufirmen, die ihr Vater kannte, er arbeitete als Bauführer. Als sich Selina Gasparin auf die Suche nach einem Management und einem Kopfsponsor machte, erhielt sie von vielen nicht einmal eine Antwort. Lange prangte auf ihrem Gewehr ein Aufkleber mit der Aufschrift «supported by Mom & Dad»: unterstützt von Mutter und Vater.

Ihr wichtigster Partner wurde ein Knäckebrot- und Zwieback-Hersteller, ihr erster, einziger und langjähriger Kopfsponsor, der sich heute grossflächig im Schweizer Biathlon engagiert. Sie liess sich zudem zur Grenzwächterin ausbilden. Wie hart ihr Weg manchmal war, erzählt Selina Gasparin auch in ihrer Biografie, die 2016 erschienen ist; der Autor der Geschichte war Philipp Gurt, der heute Krimi-Bestseller schreibt.

Als sie volljährig wurde, glaubte Gasparin, dass sie nur eine Chance auf eine Karriere als Sportlerin habe, wenn sie nach Norwegen auswandere. Die Trainingslehre aus diesem Land hatte sie zuvor auf die harte Tour kennengelernt. Ein Norweger, der sie im Engadin betreute, liess sie so lange «wie ein durchgeknalltes Bergkänguru» durch die Gegend hüpfen, dass sie sich am Tag danach vor lauter Muskelkater vom Schulunterricht abmelden musste.

Sie schrieb sich in der abgeschiedenen norwegischen Kommune Meraker für ein Studium in Sport- und Bewegungswissenschaften ein – und war die einzige Ausländerin in ihrer Klasse. Die Studentinnen wohnten in einem ausgedienten Altersheim. Die jährlichen Kosten von 20 000 Franken für den Aufenthalt hatte Gasparin selber zusammengekratzt. Um sich einfacher durchzuschlagen, ging sie manchmal kleine Deals ein: Sie kochte für jemanden oder brachte ihm das Stricken bei, im Gegenzug erhielt sie Unterstützung bei der Trainingsgestaltung oder der Skipräparation.

Selina Gasparin – La matta cun schluppet | Die Frau mit dem Gewehr | Dok | Cuntrasts | RTR Films

Der Traum vom Maiensäss

Was Selina Gasparin auszeichnete, war ihr unermesslicher Ehrgeiz. Sie konnte leiden wie kaum eine andere. Je höher die Hürden, desto mehr spornte sie das an. Als sie Kinder bekam, trat sie nicht etwa zurück, sondern nahm sich ein Comeback vor. Auch als Mutter sollte sie aufs Podest steigen. Einmal sagte sie, sie wolle auch mit 80 den Engadin Skimarathon absolvieren.

Elisa Gasparin sagt: «Selina hat uns gelehrt, was der Begriff Professionalität bedeutet. Aber ihr Ehrgeiz konnte manchmal schon anstrengend sein.» Trotzdem bestätigen alle drei, sie verbinde ein sehr starkes Band; Streit untereinander komme so gut wie nie vor.

Als die Schwestern auf Ziele ausserhalb des Sports zu sprechen kommen, sagt Aita Gasparin: «Es wäre schön, wenn wir unser Maiensäss im Puschlav in unserer Familie halten könnten.» Dieses hatte ihr Vater, ein gelernter Maurer und italienischer Secondo, vor gut fünfunddreissig Jahren erworben – und das Häuschen dort immer wieder umgebaut.

Der Vater hatte nie einen engen Bezug zum Leistungssport. Das Schiessen war ihm fremd, weil er nie in der Schweizer Armee war. Doch wenn die Töchter etwas für ihren Sport brauchten, war er zur Stelle. Sei es, um Jäger zu fragen, ob sie vielleicht auf deren Anlage ein paar Zielscheiben aufstellen dürften. Oder um Schnee zu schaufeln, wenn der improvisierte Schiessstand einmal freigeräumt werden musste.

Doch was ist, wenn auch Aita dereinst aufhören wird? Wird dann der Name Gasparin, der im Schweizer Biathlon für eine Zeitenwende steht, für immer aus den Ergebnislisten verschwinden?

Die Schwestern sagen, sie könnten das heute nicht ausschliessen. Denn ausser ihnen seien in der Verwandtschaft fast alle eher unsportlich. Doch das sind Fragen für morgen, jetzt genössen sie die Heim-WM. Selina Gasparin sagt: «Im Schweizer Biathlon ist so lange so wenig vorwärtsgegangen. Als Athletin fühlte ich mich ständig, als müsste ich mit nassem Holz ein Feuer machen. Jetzt ist das Feuer endlich entfacht.»

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