Samstag, Oktober 5

Götz Ulrich bekommt seit Jahren hasserfüllte Mails und Drohbriefe wegen der Migrationspolitik. Dabei setze er nach eigenen Angaben nur um, was ihm die Bundesregierung eingebrockt habe. Ein Augenschein bei einer Einbürgerungsfeier.

Im Saal, in dem gleich passieren wird, wofür Götz Ulrich gehasst und bedroht wird, herrscht beinahe Kühlschranktemperatur. 23 Menschen sitzen in Tischreihen, vor ihnen stehen Wasser- und Saftflaschen. Sie blicken auf Monitoren, auf denen die schwarz-rot-goldene Fahne zu sehen ist. Einige von ihnen sind in kurzen Hosen oder Sommerkleidern, und wiederum andere in Hemd und Anzughose gekleidet.

«Hier ist es aber kalt», sagt Ulrich, als er an einem hochsommerlichen Tag im August den Saal betritt. Er geht durch die Reihen und schüttelt Hände. Sie gehören Menschen aus Vietnam, der Ukraine, Syrien, Russland, Afghanistan, Albanien und dem Irak. Sie sind hier im Landratsamt von Naumburg, weil sie gleich deutsche Staatsbürger werden. Ulrich, Landrat des Burgenlandkreises, wird die Festrede halten. Es ist seine vierte Einbürgerungsfeier in diesem Jahr.

Der Burgenlandkreis liegt im Süden von Sachsen-Anhalt. Es ist ein geschichtsträchtiges Gebiet mit dem Dom zu Naumburg und der berühmten Himmelsscheibe von Nebra. Unzählige Schlösser gibt es hier, etwa die Moritzburg in Zeitz, und historische Stätten wie die Gustav-Adolf-Gedenkstätte in Lützen, benannt nach dem schwedischen König, der dort im Dreissigjährigen Krieg gefallen ist.

Mehr als jeder Dritte wählt hier die AfD

Der Landkreis atmet Geschichte und mit ihm 180 000 Einwohner und derzeit etwa 10 000 Flüchtlinge. Vor allem Letztere sind der Grund, weshalb die AfD bei den Kommunalwahlen in diesem Sommer die Zahl ihrer Kreistagssitze von 5 auf 16 erhöhen konnte – von insgesamt 54. Bei der Europawahl holte die in Teilen rechtsradikale Partei im Burgenlandkreis 36 Prozent der Stimmen.

Ulrich, 55 Jahre alt, CDU-Mitglied und Jurist, gekleidet in einen grauen karierten Anzug und weisses Hemd, tritt ans Pult und lächelt feierlich. Was er dann äussert, dürfte bei vielen Menschen nicht nur in seinem Landkreis, sondern in Ostdeutschland und zunehmend auch in ganz Deutschland auf wenig Zustimmung stossen. Die heutige Einbürgerung, sagt er, sei ein besonderer Tag in ihrem Leben. Er blickt die vor ihm sitzenden Migranten an. Manche schauen zurück, andere starren auf ihre Smartphones oder auf die Tischplatte.

Es ist der 13. August, ein historisches Datum, vor 63 Jahren wurde in Berlin die Mauer gebaut. Ulrich erwähnt das Ereignis in seiner Rede. Die «Neubürger» sollten wissen, dass Freiheit nichts Selbstverständliches sei, setzt er fort. Als Wähler könnten sie nun daran mitwirken, dass dieses freiheitliche Deutschland erhalten bleibe. Und dann kommt es: «Sie alle sind eine Bereicherung für unseren Landkreis und für Deutschland. Ich bin sehr dankbar, dass Sie sich einbürgern lassen wollen.»

Die Überforderung der Kommunen

Es sind Sätze wie diese, die Ulrich zum Hassobjekt gemacht haben, zu einer Zielscheibe von Menschen, die mit der Migrationspolitik der Regierung in Berlin nicht einverstanden sind. Als Landrat ist er Staatsvertreter, Repräsentant einer Politik, die er selbst nicht zu verantworten hat. Nicht der Bundeskanzler, nicht die Bundesinnenministerin, auch kein Ministerpräsident muss die Folgen der ungesteuerten und illegalen Einwanderung vor Ort steuern. Das tun Landräte wie Ulrich und die anderen Amtsträger in den insgesamt 294 Kreisen und 107 kreisfreien Städten Deutschlands. Ihnen allen haben die gegenwärtige Bundesregierung und mehrere Vorgängerregierungen durch ihre Asylpolitik ein Problem aufgebürdet, das diese mehr und mehr überfordert: personell, finanziell und kulturell.

Auf den seit 2015 ungebrochenen Migrantenstrom hat Ulrich als erster Landrat in Deutschland mit einer Massnahme reagiert, die inzwischen andere Landkreise nachmachen. Er vereinigte alle Behörden, die für eine möglichst schnelle Bearbeitung von Asylanträgen benötigt werden, unter einem Dach. Das sind einige: Ausländer- und Integrationsamt, Unterkunftsverwaltung, Asylbewerberleistungsstelle und das Jobcenter. Sogar Vertreter der Volkshochschule für Sprachkurse und des Kreissportbundes für Vereinsmitgliedschaften sind dabei.

Ulrich hat der Einrichtung den Namen «Migrationsagentur» gegeben und so eine Struktur in das Migrationschaos gebracht. Dafür wurde er in deutschen Medien respektvoll «Flüchtlings-Landrat» genannt. Doch an einer Tatsache kann auch er nichts ändern: Die Einwanderung bringt den Landkreis finanziell nicht nur ans Limit, sondern in die Schuldenfalle.

Für die Flüchtlinge fallen in diesem Jahr Unterkunftskosten in Höhe von 33,5 Millionen Euro an. 12,5 Millionen davon muss der Landkreis tragen. Hinzu kommen unter anderem die Gesundheitskosten von gut 4500 Flüchtlingen aus der Ukraine, für die der Kreis in diesem Jahr 1,5 Millionen Euro aufwenden muss. Sein Haushaltsdefizit 2024, das ist schon jetzt absehbar, wird insbesondere durch die Ausgaben für die Flüchtlinge bei etwa 20 Millionen Euro liegen.

Damit verstösst der Burgenlandkreis gegen die Kommunalverfassung Sachsen-Anhalts. Diese sieht vor, dass ein Landkreis einen ausgeglichenen Haushalt haben muss. Ulrich müsste nun eigentlich die sogenannte Kreisumlage erhöhen. Das bedeutet, die Kommunen würden mehr Geld überweisen, damit der Landkreis seinen Aufgaben nachkommen kann. Doch dagegen klagen immer wieder die Städte und die Gemeinden – und sie bekommen oft Recht.

Ulrich ist mit seinem Problem nicht allein. Inzwischen haben nahezu alle Landkreise und kreisfreie Städte in Deutschland wegen des Migrationszustroms schwere Haushaltsprobleme.

«Ich bin dem deutschen Volk dankbar»

Auf der Einbürgerungsfeier spricht jetzt Volodimir Iaroschewich. Er stammt aus der Westukraine und lebt mit seiner Familie seit sieben Jahren im Burgenlandkreis. «Ich bin dem deutschen Volk dankbar, dass ich anwesend sein darf», sagt er mit starkem Akzent. Er ist Arzt; Fachkräfte wie er werden in Deutschland dringend gebraucht.

Iaroschewich spricht im Namen aller 23 Migranten, die gleich nicht mehr Migranten, sondern «Neubürger» sein werden. Es wirkt, als sei er spontan um eine Rede gebeten worden. «Ich weiss nicht so richtig, was ich noch sagen soll», erklärt er nach wenigen Sätzen. Jeder Schritt zur Staatsbürgerschaft habe sich gelohnt, auch wenn es noch so schwierig gewesen sei. Nach wenigen Minuten setzt er sich wieder zu Frau und Kind.

Eine deutsche Einbürgerungsfeier sieht vor, dass die Migranten ein «Bekenntnis» ablegen. Ulrich tritt wieder an das Pult. Die Neubürger sollten sich bitte von ihren Plätzen erheben, die rechte Hand heben und ihm nachsprechen, sagt er und wartet, bis die Frauen und Männer seiner Aufforderung gefolgt sind. Dann sagt er die Bekenntnisformel: «Ich erkläre feierlich, dass ich das Grundgesetz und die Gesetze der Bundesrepublik Deutschland achten und alles unterlassen werde, was ihr schaden könnte.»

Der Landrat spricht in Abschnitten und Teilsätzen. Es wirkt ausdruckslos und pflichtbewusst, wie die Migranten seine Worte nachsprechen, als handle es sich um eine technische Formel. Als sie fertig sind, bedankt sich Ulrich. Die Neubürger setzen sich wieder. Ulrich blickt zu einer Frau, die an einem Piano sitzt, nickt ihr zu und bewegt die Finger seiner Hände, als spiele er selbst auf dem Klavier.

Migranten zur Arbeit verpflichtet

Die 23 Menschen vor ihm gehören von nun an nicht mehr zu den im Burgenlandkreis lebenden Flüchtlingen. Sie sind Deutsche, dürfen wählen, arbeiten und etwa in der Bundeswehr dienen. Die anderen gut 10 000 Migranten leben nach wie vor in Sammelunterkünften, vom Landkreis angemieteten Wohnungen oder privat. Etwa 4500 von ihnen sind Ukrainer, während zirka 5400 aus Drittstaaten wie Syrien, dem Irak und Afghanistan stammen.

Letztere sind als Asylbewerber im Burgenlandkreis seit dem 1. März zu gemeinnütziger Arbeit verpflichtet. Darunter fallen etwa einfache Tätigkeiten für Bauhöfe oder Friedhofsverwaltungen. Wenn sie sich weigern, kann die «Migrationsagentur» für sechs Monate die finanziellen Leistungen kürzen. In den meisten Kreisen und kreisfreien Städten in Deutschland sind Sanktionen wie diese bis anhin unüblich.

Zum Schluss die Nationalhymne

Er werde die Anwesenden nun einzeln aufrufen, um ihnen ihre Einbürgerungsurkunden zu überreichen, sagt Ulrich. Eine Mitarbeiterin reicht ihm die Dokumente, und er bemüht sich hörbar, alle Namen korrekt auszusprechen. Wenn die Menschen dann vor dem Landrat stehen, stellt er ihnen Fragen. Was sie denn inzwischen beruflich machten, wie es ihnen gehe. Es sind Ärzte darunter, Handwerker, Gastronomen. Viele wirken nervös und schüchtern. Ulrich tätschelt Arme, lächelt, scherzt, hört zu. Nachdem er die letzte Urkunde übergeben hat, sagt er: «Und nun singen wir die deutsche Nationalhymne.»

Im Landratsamt in Naumburg überreicht Götz Ulrich Einbürgerungsurkunden an «Neubürger».

Als Ende August ein Flugzeug mit 28 kriminellen Migranten aus Afghanistan von Leipzig nach Kabul flog, waren keine Flüchtlinge aus dem Burgenlandkreis dabei. Dabei hätte Ulrich durchaus Kandidaten für den Flug gehabt. Unter den gut 1300 geduldeten oder «vollziehbar ausreisepflichtigen» Asylbewerbern in seinem Kreis gibt es auch straffällige Afghanen. Per E-Mail teilt Ulrich später mit, er und seine Verwaltung hätten von dem Flug nichts gewusst.

Ein schöner und zugleich beängstigender Posten

Nach der Hymne leert sich der Saal schnell. Ulrich wirkt zufrieden. Termine wie dieser machten ihm Freude, sagt er: «Wir sind ein Landkreis mit vielfach älterer Bevölkerung. Wir brauchen junge Leute.» In glückliche Gesichter schauen, Wertschätzung ausdrücken – sein Job könne schön sein. Mitunter sei er aber auch beängstigend.

Ulrich holt Blätter aus einer Mappe und legt sie auf den Besprechungstisch in seinem Büro. Ein Zettel ist dabei, darauf in rot eine Figur, die an einem Galgen hängt. Die Polizei werte das als Morddrohung, sagt Ulrich. Auf dem Briefcouvert steht, wenig überraschend, kein Absender.

Die Zeichnung sieht aus, als sei sie von einem Kind gemalt geworden. Darunter steht «H. 1.8.». Das ist ein rechtsextremer Code: Die 1 steht für den ersten Buchstaben des Alphabets, die 8 für den achten, und das erste «H» steht für «Heil». Man könne sich zusammenreimen, was gemeint sei, sagt Ulrich. Solche Post bekommt er regelmässig – auch an seine Privatadresse. «Das Ungeziefer ausmerzen, das Deutschland regiert», habe ihm einmal jemand geschrieben.

Ulrich lebt in einer Kleinstadt im Westen seines Kreises. Er erhält dort nicht nur Drohbriefe, auch auf andere Art und Weise bekommt er zu spüren, wie überwiegend aus rechtsextremen Kreisen versucht wird, Amtsträger wie ihn einzuschüchtern. Im Juli hatte der Rücktritt eines Kollegen von Ulrich bundesweit für Schlagzeilen gesorgt. Dirk Neubauer, Landrat von Mittelsachsen, sprach damals von einer «diffusen Bedrohungslage aus der rechten Ecke» und kündigte an, sein Amt aus Verantwortung für seine Familie niederzulegen. Unter anderem waren Mitglieder der rechtsextremen Gruppierung «Freie Sachsen» vor seinem Haus aufmarschiert.

Die AfD plante einen «Hausbesuch»

Ulrich hätte beinahe ähnliches erlebt. Im Frühjahr wollte die AfD in seinem Heimatort unter dem Motto «Stoppt den grossen Raubzug!» demonstrieren. Den Aufmarsch hatte der sachsen-anhaltische Landtagsabgeordnete Hans-Thomas Tillschneider angemeldet, ein früherer Angehöriger des offiziell aufgelösten rechtsextremen «Flügels» der Partei. Die Kundgebung sollte auch am Haus von Ulrich vorbeiführen.

Ulrich hat im Gespräch mit dieser Zeitung bisher viel gelächelt und gescherzt, ein gewinnender Mann. Aber als die Rede auf den Aufmarsch vor etwa einem halben Jahr kommt, wird er leise. Sich gegen solche Einschüchterungsversuche zu stellen, sei «bedrängend». Als er von den AfD-Plänen erfahren habe, habe er versucht, ruhig zu bleiben. Aber natürlich sei er nachts aufgewacht und habe überlegt, was passieren könne. Der Fall Lübcke sei ihm durch den Kopf gegangen.

Der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke war ein Kommunalpolitiker und Christlichdemokrat wie Ulrich. Er hatte die deutsche Migrationspolitik vehement verteidigt und wurde im Juni 2019 von einem Rechtsextremisten vor seinem Haus erschossen.

Ulrich sagt, vor diesem Hintergrund könne er den Rücktritt seines Kollegen in Mittelsachsen verstehen. «Doch wem überlässt man dann ein solches Amt?», fragt er. «Wem überlassen wir unser Land, wenn wir gewählte Landräte, Bürgermeister oder Ehrenamtliche vor Hass und Hetze, vor Bedrohungen und Eingriffen in unsere Privatsphäre zurückweichen?»

«Sie sollten sich in Grund und Boden schämen»

Ulrich hatte im Frühjahr von der geplanten Demonstrationsroute erfahren, weil die Ordnungsbehörde seines Kreises für solche Genehmigungen zuständig ist. Wie sollte er reagieren? Das sei die Frage gewesen, erinnert er sich. Sollte er alles einfach ertragen? Sollte er über die Ordnungsbehörde die Route der Kundgebung ändern lassen? Der Landrat entschied sich für etwas anderes. Er machte die Pläne der AfD öffentlich.

«Sie sollten sich in Grund und Boden schämen, so in die Privatsphäre meiner Familie einzudringen und meiner 85-jährigen Mutter, meinen Kindern und meinen Nachbarn damit schlaflose Nächte zu bereiten», sagte er im Kreistag an die AfD-Mitglieder gewandt. Seine Rede wurde aufgenommen und in den Youtube-Kanal des Kreises gestellt. Die Empörung war gross, die AfD ruderte zurück. Als die Demonstranten dann zwar durch den Ort, aber nicht an Ulrichs Haus vorbeizogen, waren mehr Gegendemonstranten als Kundgebungsteilnehmer im Ort. Die Solidarität habe gutgetan, sagt der Landrat.

2022 hat das Bundesinnenministerium in Berlin eine «Allianz zum Schutz kommunaler Amts- und Mandatsträger» ins Leben gerufen. Damals hatte die Zahl verbaler oder tätlicher rechtsextremistisch motivierter Angriffe auf Politiker wie Ulrich massiv zugenommen. Allein zwischen 2022 und 2023 war sie nach Angaben des Ministeriums bundesweit um mehr als 1100 auf 5388 Fälle gestiegen.

Der Landrat liest der Bundesinnenministerin die Leviten

Ende April dieses Jahres traf Ulrich die zuständige Ministerin Nancy Faeser von der SPD. Auf der Website seines Landkreises kann man lesen, was er ihr bei der Gelegenheit gesagt hat. Es sind Worte, die viele andere Landräte in Deutschland vermutlich unterstreichen würden: Der beste Schutz für Amtsträger wie ihn sei eine «rücksichtsvollere Bundespolitik, die die Landkreise und Gemeinden als Umsetzungsebene mitdenkt und nicht überfordert, die keine Versprechen macht, für deren Umsetzung wir vor Ort weder Geld noch personelle Ressourcen haben».

Deutschlands Kommunalpolitiker büssen für eine Migrationspolitik, die viele Deutsche inzwischen als falsch ansehen. Mitunter stehen sie mit ihrer psychischen und physischen Gesundheit dafür ein. Der Landrat Götz Ulrich hat nach der Einbürgerungsfeier in Naumburg noch einen Termin in der sachsen-anhaltischen Landeshauptstadt. Als er in Magdeburg aus dem Wagen steigt, schultert er sein Sakko, lächelt und tritt auf ein paar Bürger zu. Wie es ihm gehe, wird er gefragt. «Kann nicht klagen», sagt er.

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