Samstag, September 28

Neuf-Brisach kann weder in die Breite noch in die Höhe wachsen. Das macht die sternenförmige Bastion des französischen Sonnenkönigs zu einem faszinierenden Ausflugsziel.

Sternenstadt? Davon sieht man erst einmal nichts. Wer auf der sich dahin schlängelnden Landstrasse durch die elsässische Rheinebene auf die Stadt zufährt, nimmt ihre besondere Form nicht wahr. Er sieht ausschliesslich Festungsmauern. Kein Giebel überragt sie.

«Das wurde bewusst so geplant. Angreifer sollten keinesfalls gezielt auf die Gebäude schiessen können», sagt der Bürgermeister Richard Alvarez.

In die Festungsstadt führt seit dreihundert Jahren aus jeder Himmelsrichtung ein Tor, das von griechischen Tempeln inspiriert wurde: das Basler Tor, das Colmarer Tor, das Strassburger Tor. Nur wer aus Richtung Belfort kommt, muss ein anderes wählen, denn das Belforter Tor ist ausschliesslich für Fussgänger passierbar. Dafür befindet sich direkt dahinter das Vauban-Museum. Ohne Sébastien Le Prestre de Vauban gäbe es die Stadt Neuf-Brisach mit ihrem sternförmigen Grundriss nicht.

Man holpert also durch eines der Stadttore und über eine willkürliche Mischung aus historischem Kopfsteinpflaster und aufgeheiztem Asphalt ins Innere der Stadt. Schnurgerade führt die Strasse zum zentralen Appellplatz, dem Mittelpunkt des schachbrettartig angeordneten Strassennetzes, das mit seinen Quadraten an ein geschrumpftes New York denken lässt. Nur dass das Elsässer Städtchen nicht in die Höhe wächst. Neuf-Brisach ist seit seiner Erbauung exakt 133 Hektaren gross. Auf 44 Hektaren stehen Häuser. Der Rest besteht aus geraden Strassen und dazugehörigen Querstrassen, dem Appellplatz und einem Marktplatz. Alles ist umfriedet von sternförmigen Befestigungsanlagen. Seit mehr als dreihundert Jahren hat sich der Grundriss nicht verändert.

Neuf-Brisach ist das Meisterwerk des Festungsbaumeisters Sebastien Le Prestre de Vauban (1633–1707). Er hat nicht weniger als 160 Festungsbauwerke für den «Eisengürtel» des französischen Königs Louis XIV errichtet. Neuf-Brisach war sein letztes Werk – und sein gelungenstes: ein steinernes Konzentrat. Er hat fünfzig Jahre Erfahrung in die Planung dieser uneinnehmbaren Festungen eingebracht.

Die Stadt ist Teil des Unesco-Weltkulturerbes

Vauban habe das platte Relief der elsässischen Rheinebene «mit einem perfekten Stern bedacht, der denen im Kosmos Konkurrenz macht», erzählt Nicolas Faucherre, wissenschaftlicher Experte des Réseau Vauban von der Uni Aix-Moselle. So perfekt, dass die Stadt seit 15 Jahren Unesco-Weltkulturerbe ist. Jetzt wird sie sich erst recht nicht verändern, denn das würde den Verlust der prestigeträchtigen Auszeichnung bedeuten.

Zwölf der drei Dutzend von Vauban geplanten Befestigungen gehören zum Unesco-Weltkulturerbe, und Neuf-Brisach ist wegen seiner bis heute erhaltenen perfekten Form der Fixstern darunter. Oder, wie es der Sonnenkönig selbst ausdrückte: «Von allen Diamanten der Krone Frankreichs ist die Festung am Rhein der schönste.»

Die kleine Stadt hat also den Grundriss eines perfekt symmetrischen sechzehnzackigen Sterns. Seine Zacken werden im Militärjargon der Zeit je nach Funktion als Halbmonde und Kontergarden bezeichnet. Dazwischen stehen Zangenwerke und Bollwerke, sie alle zusammen bilden mit mehreren Wällen die Festung. Die perfekte Anordnung der Zacken schloss für die Verteidiger tote Winkel aus und für die Angreifenden frontale Schusslinien.

Die Festungsanlagen und die Garnisonskirche St-Louis blieben seit ihrer Errichtung im 17. Jahrhundert nahezu unverändert. (Bilder Imago)

Fachwerkhäuser wären zu gefährlich gewesen

Die typischen Elsässer Fachwerkhäuser sucht man in Neuf-Brisach vergebens. Zu leicht entzündbar wären Häuser mit viel Holz gewesen und blieben daher von Vauban nicht erlaubt. «Höhe und Aussenmasse der Gebäude waren vorgegeben. Jedes von Strassen umgrenzte Quadrat war 50 mal 50 Meter gross. Es bot Platz für zehn Häuser, die alle einen Gewölbekeller haben mussten als Zuflucht bei Kampfhandlungen», erklärt Aurélie Bechler, die fürs Stadtmarketing zuständig ist. In barocker Robe führt sie regelmässig Touristen durch die Stadt. Sie sagt: «Die Häuser gruppieren sich um einen Innenhof, in dem Gemüsegärten und ein Schwein die Bewohner im Belagerungsfall für 48 Tage versorgen sollten.» So lange hätte es nach Vaubans Berechnungen gedauert, die Festung militärisch einzunehmen. «In dieser Zeit sollte die zivile Bevölkerung zumindest nicht hungern und konnte so für sich selbst vorsorgen.»

Wer durch eines der Stadttore geradeaus in diesen Stern fährt, findet stets einen Parkplatz im Schatten der doppelreihig gepflanzten Linden. Diese umrahmen mit einem schmalen Streifen den quadratischen, mit hellem Splitt bestreuten Appellplatz, der daliegt wie ein eigener, alles beherrschender gigantischer zentraler Pflasterstein. Jede Seite dieses zentralen Quadrats ist exakt so breit wie zwei Häuserblocks und die dazwischenliegende Strasse. Der Platz liegt noch da wie zu Vaubans Zeiten, wurde nur zugunsten einer breiteren Strasse rundum um einige Meter verkleinert.

Auch die Trinkwasserbrunnen an jeder Ecke sind da. Allerdings abgedeckt, damit Touristen keine Münzen hineinwerfen. Aus ihnen holten die Stadtbewohner einst Wasser, wenn auf dem Appellplatz endlos Marschieren und Habachtstellung geübt wurden. In der Platzmitte gibt es zudem einen repräsentativ gestalteten Brunnen, das Löschwasserreservoir, wenn es in der Stadt einmal brennen sollte.

Der erste Ort, den Touristen ansteuern, ist der Gouverneurspalast, der wie alle Offiziersgebäude direkt am Appellplatz liegt. Er beherbergt heute das «Office de Tourisme». Man erkennt es leicht an den davor haltenden Bussen mit Pauschalreisenden, die nach der langen Fahrt mit steifen Beinen herausstaksen. Individualtouristen erhalten im Tourismusbüro Broschüren und Velokarten, und für Kinder gibt eine «historische Rätseljagd».

Die Form wird bei einer Umgehung spürbar

Anders als die Quadrate, die das Stadtraster bilden und sich intuitiv begreifen lassen, muss man die Sternform erlaufen, um den Festungscharakter der Stadt zu erfassen. «Die Durchschnittsgrösse eines Soldaten zu Vaubans Zeiten betrug 1 Meter 48», sagt Aurélie Bechler, während sie mit eingezogenem Kopf durch einen niedrigen Verbindungsgang unter einem Zangenwerk huscht. Er bot Soldaten einst geschützten Zugang zum zweiten Wallgraben. Statt auf höhere Mauern setzte Vauban auf dicke Erdwälle, die den Beschuss abfingen. Und das taten sie. Selbst als die Amerikaner kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs die Stadt angriffen, blieben die Festungsanlagen weitgehend intakt.

Bechler zeigt dazu gern ein unscheinbares Loch in einer der Mauern entlang der Wälle, das sogenannte «trou des américains». Ein amerikanischer Soldat habe seinen Panzer an die gegenüberliegende Mauer manövriert, um von dort einen Testschuss abzufeuern. Er hinterliess ein einziges Loch. «Wir haben es belassen. Es zeigt, wie solide die Anlage ist», sagt der Bürgermeister Richard Alvarez.

Um die Stadt verteilt, recken sich acht bastionierte Türme. Sie konnten im Kriegsfall mit 300 Mann bestückt werden. «Sie sind derart stabil, dass sie während des Zweiten Weltkriegs als Zuflucht für die Bevölkerung dienten. Wir hatten nur zwei Tote», sagt Alvarez.

Freiwillige bessern die historischen Mauern aus

Die Stadt ist insgesamt von drei Verteidigungswällen umgeben. 17 Kilometer historische Mauern müssen immer einmal wieder ausgebessert werden, um sie zu erhalten. Die letzte Renovierung hat sechs Millionen Euro gekostet. Zum Glück hilft der Staat finanziell. Gerade laufen Bestandsaufnahmen mit Drohnen für die nächste Renovierungsphase. Die Mitglieder des Vereins «les amis des remparts» kümmern sich um den Unterhalt und ziehen Unkraut aus den Mauern. Sogar der Bürgermeister hilft mit, wenn er denn an einem Wochenende Zeit dazu findet. Die Mauern restaurieren dürfen die Freiwilligen allerdings nicht. Wegen der historischen Bedeutung verrichten Fachleute die Arbeit unter der Aufsicht eines «Architect de France», eines speziell vom französischen Staat ernannten Architekten.

Der Bürgermeister Richard Alvarez hofft, dass die freiwilligen «amis» sich eines Tages unter dessen Anleitung so ausbilden lassen dürfen, dass sie einfache Maurerarbeiten unter Beachtung der alten Mörtelrezepte selber fachkundig ausführen können. Für das Stadtsäckel wäre das eine Erleichterung. Bei derart vielen Kilometern Aussenmauern rieselt und bröckelt es laufend irgendwo.

Eingenommen wurde die Festungsstadt nie. Nicht einmal belagert. Die Scharmützel der französischen Könige spielten sich anderswo ab. Dafür gingen die Kriege der neueren Zeit, denen seine Wehrkraft nicht gewachsen war, alles andere als schadlos an Neuf-Brisach vorbei. «1870/71 wurden drei Viertel der Stadt zerstört. Im Zweiten Weltkrieg ebenso», sagt der Bürgermeister , «originale Bausubstanz im Innern der Stadt haben wir nur noch wenig. Vom Zeughaus zum Beispiel blieb nach dem Zweiten Weltkrieg nur das Haupttor übrig. Die Grundstruktur der Stadt haben wir beim Wiederaufbau grösstenteils respektiert.»

Früher dienten die Gräben um Neuf-Brisach der Abwehr von Feinden, heute sind sie eine grüne Oase vor der Stadt. (Bilder Imago)

Für grösseres Gewerbe fehlt der Platz

Besonders bildungsfreudige Touristen besuchen während ihres Rundgangs das klitzekleine Vauban-Museum in den kühlen Kasematten der Stadtmauer. Es besteht aus einer multimedialen Inszenierung rund um das ausgestellte hölzerne Stadtmodell. Das Museum ist einer der wenigen Teile der kilometerlangen Kasematten, der noch genutzt wird. In der Nähe des Museums hat sich ein findiger Unternehmer einige Räume in den Kasematten gesichert. Wand für Wand wird dort von Graffitikünstlern gestaltet. 1200 Quadratmeter Graffiti sind bisher in dieser Galerie, dem «Mausa», entstanden.

Wer genug vom Erkunden hat, landet fast wie von selbst in einer der beiden Bäckereien mit Café, die an den Ecken des grosszügigen Platzes liegen. Dazwischen befindet sich in einem geduckten Gebäude ein Restaurant mit Terrasse. Zu Vaubans Zeiten war es ein Wachhäuschen, nach 1870 haben die Deutschen daraus ein Pulvermagazin gemacht. Das Dach ist meterdick mit Erde bedeckt und derart überwachsen, dass es einer Wildwiese gleicht. Einstmals war dies Hightech zur Verringerung der Explosionsgefahr, heute hübsch anzusehen und eine wirksame Isolation gegen die Sommerhitze.

«Das Stadtbild steht unter Denkmalschutz. Das zieht Touristen an, macht aber eine Entwicklung schwierig», sagt der Bürgermeister Richard Alvarez. Höhere Bauten lässt die Denkmalpflege nicht zu. In die Breite wachsen? Geht auch nicht. Da sind die unantastbaren sternförmigen Mauern. Ausserhalb der Mauern? Unmöglich, zu klein ist der Gemeindegrund ausserhalb der Wälle. «Für Industrieansiedlungen oder grösseres Gewerbe fehlt uns der Platz», sagt der Bürgermeister.

Die Bewohnerinnen und Bewohner von Neuf-Brisacher bleiben eingefriedet in ihren Mauern. Und doch verlagerten sie einen Teil ihres Lebens vor die Stadtmauern: Fussballstadion, Friedhof, Campingplatz, Bauhof liegen irgendwo davor in der Ebene. Die Leichtathleten müssen in Breisach auf der anderen Rheinseite trainieren. Dafür finanziert Neuf-Brisach deren Flutlichtanlage mit.

Der Sonnenkönig brauchte an der neuen Grenze ein Bollwerk

Die Stadt wurde gebaut, weil Ludwig XIV. im Pfälzer Erbfolgekrieg gegen die Habsburger verloren hat. Im Vertrag von Rijswijk, der den Krieg beendete, wurde festgelegt, dass Frankreich wahlweise Strassburg oder das aufwendig befestigte rechtsrheinisch gelegene Breisach an die Österreicher zu übereignen habe. Der König behielt Strassburg, der Rhein wurde zur Landesgrenze, und das Reich des Sonnenkönigs endete plötzlich am linken Rheinufer, wo keine Bastion stand, um es zu verteidigen.

Also befahl er seinem Festungsbaumeister, eine neue Bastion-Stadt zu errichten. Die Bauarbeiten dazu begannen 1698. Bis zu zweitausend Mann schufteten auf der Baustelle. Sie mussten allein schon 600 000 Kubikmeter Erde schaufeln, das ist die Ladung von einer Million Schubkarren. Zudem musste ein 28 Kilometer langer Kanal gegraben werden, auf dem in 120 eigens angefertigten, von Soldaten gezogenen flachen Kähnen Steine aus den Vogesen herangeschafft wurden. Vier Jahre später waren die Wälle und Mauern fertig, sie stehen bis heute.

Mit Steuererleichterungen lockte man Bewohner an

Dass die Stadt sternförmig sein soll, sehen übrigens nicht alle so. Die Kriegsreporterin Lee Miller beschrieb während der Befreiung Neuf-Brisachs am Ende des Zweiten Weltkrieges den Anblick aus dem Flugzeug so: «Die Stadt sieht wie eine riesige Waffel aus, die von dreieckigen Häkelspitzen umgeben ist. Man hätte sie auch für ein gigantisches Spitzendeckchen halten können, wenn sie nicht gebrannt und man von dort auf uns geschossen hätte.»

Für 3500 Einwohner wurde dieser Stern konzipiert, und Frankreich versuchte mit Steuererleichterungen und Marktrecht Menschen anzulocken. Was so einfach nicht war, denn die Stadt wurde mitten im Nichts errichtet. Heute hat die Stadt 1970 Bewohnerinnen und Bewohner.

Viele Häuser sind den heutigen Ansprüchen nicht gewachsen. Wer von den touristisch-schönen, vom Tourismusbüro in Plänen gekennzeichneten Wegen abweicht, findet bald Zeichen dafür. Man findet deshalb in Neuf-Brisach liebevoll mit Störchen und in Elsässer Tracht gekleideten Figuren verzierte Fassaden und Blumenkästen. Aber auch eine ehemalige Metzgerei mit vermauertem Fenster. Ein paar Strassen weiter ist eine ehemalige Boulangerie-Patisserie-Épicerie, auch hier sind die Fenster blind vom Strassenschmutz. Insgesamt zwanzig Läden stehen in der Stadt leer. Bürgermeister Alvarez hofft auf unternehmungsfreudige Kaufleute und ein Sortiment, das sich auf den Tourismus ausrichtet.

Die Stadt will junge Familien anziehen

So schön die 60 000 Besucherinnen und Besucher jährlich sind: Geld bleibt wenig in der Stadt. Restaurantbesuche, Eintrittsgelder, Kaffee und Kuchen – das war’s dann schon. Es gibt nur ein bescheidenes Hotel. Dafür einen Campingplatz, der nächstes Jahr auf drei bis vier Sterne hochsaniert werden soll. Zudem knapp ein Dutzend Ferienhäuschen. Neubauten sind ja kaum möglich. So steigen die Leerstände im Altbestand.

«Eine Airbnb-Stadt für Touristen, die nach Colmar ausschwärmen, wollen wir nicht werden», sagt Richard Alvarez. «Deshalb leisten wir Zuschüsse beim Renovieren. Wir wollen junge Familien anziehen. Die Kaufpreise sind wegen der Leerstände erschwinglicher als in der Umgebung.»

Die Stadt setzt grosse Hoffnung auf einen belgischer Investor. Dieser hat die besterhaltene der drei noch existierenden Kasernen für 1,8 Millionen Euro erworben. Die sogenannte Kaserne Suzonni, 1704 errichtet, ist die besterhaltene darunter. Eindrückliche 175 Meter lang und drei Stockwerke hoch ist sie. «Das ist unser erstes grosses Immobilienprojekt seit vierzig Jahren.»

Stolz zeigt Alvarez das luftig-leicht daherkommende Promotionsvideo, das in dem Riesengebäude 112 loftartige Wohnungen für junge Familien zeigt. Die Infrastruktur für Familien wurde in den letzten Jahren geschaffen. Es gibt zweisprachige Schulen mit Nachmittagsbetreuung, Ferienbetreuung, Kindergärten. Nun fehlt nur noch Wohnraum, der attraktiver ist als der bröckelnde Bestand.

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