Dienstag, März 18

In den ersten Tagen nach dem Erdbeben konnte Louisa Vinton kaum glauben, wie stark die Türkei zerstört war. Die Vertreterin des Uno-Entwicklungsprogramms in der Türkei und ihr Team versuchten Vergleiche aufzustellen, damit irgendwie greifbar würde, wie gross die Menge an Schutt war. In einer ihrer Berechnungen fanden sie heraus, dass das Volumen der Trümmer der Menge an Wasser entspricht, die während knapp 22 Tagen von den Niagarafällen in die Tiefe stürzt.

Noch während Verschüttete aus den Trümmern der Häuser gerettet wurden, dachten Vinton und ihr Team bereits an die Zeit danach. Sie fragten: Was tun mit all dem Schutt? Ihre Antwort: Recycling.

Die Erfahrung von früheren Erdbeben und wissenschaftliche Analysen zeigen, dass bis zu 90 Prozent der Trümmer wiederverwertet werden können. Wie funktioniert das?

Schritt 1: Die Trümmer wegräumen

Das Erdbebengebiet in der Türkei erstreckt sich über etwa 110 000 Quadratkilometer – das ist knapp drei Mal die Fläche der Schweiz. Selbst für ein so starkes Erdbeben ist das ein sehr grosses Gebiet.

Um zu verstehen, wie 210 Millionen Tonnen Schutt entstehen können, hilft ein Blick auf die Zerstörungskraft der beiden grössten Erdbeben am 6. Februar 2023: Das erste Beben am frühen Morgen hatte eine Stärke von 7,8, was vergleichbar ist mit der Wirkung von knapp 8 Millionen Tonnen des Sprengstoffs TNT – mehr als 500 Mal der Sprengkraft der Atombombe von Hiroshima. Dann, noch am selben Tag, folgte ein Nachbeben der Stärke 7,5.

Wie berechnete die Uno die Menge des Schutts?

Die Berechnung der Schuttmenge durch das Uno-Entwicklungsprogramm (UNDP) basiert auf zwei Faktoren: zum einen einer Zählung der durch das Erdbeben beschädigten oder zerstörten Gebäude, zum anderen einer Schätzung der Materialmasse, die bei jedem zerstörten Gebäude anfällt. Ersteres basiert auf einer Analyse von Satellitenbildern von vor und nach dem Erdbeben. Sie liefert einen Hinweis darauf, wie stark die Gebäude zerstört wurden. Für die Berechnung der Materialmasse berücksichtigten die UNDP-Experten lokale Verhältnisse wie die durchschnittliche Wohnfläche pro Gebäude, Baumaterialien, Inneneinrichtungen und den Ausbau der Infrastruktur. Die Anzahl beschädigter Gebäude, multipliziert mit der Gebäudemasse, ergibt 210 000 000 Tonnen Schutt. Bei Erdbebentrümmern geht die Fachliteratur von einer Dichte von 1,4 Tonnen pro Kubikmeter aus. Die NZZ hat darauf basierend die Höhe eines gleichmässigen Schuttberges berechnet: 830 Meter oder rund 2,3 Mal so hoch wie der Fernsehturm in Berlin.

Mehr als 52 000 Menschen starben, rund 300 000 Gebäude wurden zerstört oder müssen abgerissen werden. Vinton erinnert sich, wie Menschen in den ersten Tagen nach dem Beben so lange neben den Trümmerhaufen gewartet hätten, bis ihre Angehörigen – tot oder lebendig – geborgen worden seien.

Das Uno-Entwicklungsprogramm (UNDP) war schon in anderen Ländern im Einsatz nach grossen Erdbeben, zum Beispiel in Nepal und Haiti. Dort sei die Zusammensetzung der Trümmer anders gewesen, erklärt Vinton. Der Anteil an Holz sei grösser gewesen, der von Zement und Stahl kleiner. Deshalb sei die Räumung in der Türkei schwieriger: «Wir konnten nicht einfach Leute mit Schaufeln und Schubkarren einstellen und sie pro Tag bezahlen», sagt Vinton. Für die Gebäudestücke aus Beton und Stahl brauchte es grössere Maschinen.

Der Staat beauftragte Hunderte private Bauunternehmer, die mit Baggern, Baumaschinen und Lastwagen anfuhren. Vinton war überrascht, wie schnell der Schutt aus den Stadtzentren abtransportiert wurde. In Antakya, einer der Städte, die am stärksten vom Erdbeben getroffen wurden, zeigen Satellitenbilder das Ausmass der Schäden – und die nackte Erde, die nach dem Abbau zum Vorschein kam.

«Leider hatte die Geschwindigkeit, mit der der Schutt abtransportiert wurde, auch Folgen», sagt Vinton. Eigentlich hatte die türkische Regierung Zwischenlager definiert, um die Trümmer zu deponieren. Die Behörden räumen jedoch ein, dass der Schutt zum Teil an ungeeigneten Orten gelandet ist, zum Beispiel in der Nähe von Wohngebieten oder neben den nach dem Erdbeben entstandenen Zeltstädten.

Und obwohl schon viel Schutt abtransportiert wurde: Noch müssen Tausende von Gebäuden abgerissen werden, die nicht mehr stabil genug sind, damit Menschen darin wohnen können. Beim Abbrechen solcher Hausruinen entsteht viel Staub. Damit die Leute diesen nicht einatmen, sollten Arbeiter Wasser auf die Trümmer spritzen. Doch dies geschieht laut diversen Medienberichten selten. «Wir machen uns Sorgen, dass die Staubbekämpfung, um das Einatmen schädlicher Stoffe zu verhindern, nicht ordnungsgemäss durchgeführt wird», sagt Vinton.

Schritt 2: Stahl vom Schutt trennen

Dieselben Bauunternehmen, die den Schutt abtransportiert hatten, begannen wenig später mit der ersten Phase des Recyclings: Sie zertrümmerten den Beton in kleinere Stücke, zogen den wertvollen Stahl heraus und brachten diesen zu Schmelzanlagen.

Die zurückbleibenden Trümmerhaufen prägen das Landschaftsbild in Teilen der Türkei. Vinton fuhr Anfang Februar eine Woche durch das Erdbebengebiet. Die frühere Journalistin redet Dinge nicht schön. Sie erzählt im Interview von den 750 000 Menschen, die in provisorischen Unterkünften leben, viele von ihnen in Containern, andere in zerstörten Häusern oder Zeltstädten. Vinton weiss, dass viele in der Nähe von Trümmerhaufen leben und sich sorgen wegen der Luft- und Umweltverschmutzung.

Denn ausser Beton befinden sich im Schutt auch andere Materialien, die eigentlich rezykliert oder entsorgt werden sollten. Darunter sind auch gefährliche Stoffe wie Dünger oder Chemikalien. Die Bevölkerung macht sich besonders Sorgen wegen des Asbests, der in vielen alten Gebäuden verbaut gewesen war. Erst 2010 hat die Türkei Asbestbaustoffe verboten. Diverse Organisationen und Experten warnen vor Asbeststaub in der Luft, der Krebs auslösen kann.

Trotz den Gefahren durchwühlen Menschen immer wieder die Haufen, meistens ohne Schutzkleidung und ohne Masken. Viele von ihnen haben vor dem Erdbeben ihre Familien ernährt, indem sie Abfälle sammelten und wiederverwertbare Teile verkauften. Sie arbeiten ohne Erlaubnis, graben in den Trümmern nach Warmwasserboilern, Antennen und anderen metallischen Gegenständen, die sie dann in Autos oder kleineren Lastern zu Märkten und Recyclingzentren fahren.

Schritt 3: Recycling

Auf das Herzstück des UNDP-Projekts wartet Vinton derzeit ungeduldig. Seit über einem Jahr ist ein Team aus Bau- und Umweltingenieurinnen, Abwasserexperten und Geodatenspezialisten mit der Vorbereitung beschäftigt. Im Juli sollen zwei neue, grosse Recyclinganlagen in den Erdbebenregionen Hatay und Kahramanmaras eröffnet werden. «Unser Beitrag ist bescheiden, wenn man die enormen Mengen an Schutt betrachtet, die verarbeitet werden müssen. Dennoch hoffen wir, dass das Projekt der türkischen Regierung als Modell dienen kann, um den Anteil an rezykliertem Schutt zu erhöhen», sagt Vinton.

Sie hofft, dass damit zumindest teilweise die Fehler nach dem grossen Erdbeben von 1999 in der Türkei vermieden werden können. Damals wurden grosse Mengen Schutt in Schluchten und Erdlöchern entsorgt. Eine Studie über die Folgen des Erdbebens zeigt, dass es bereits zu spät war, als die Idee aufkam, die Trümmer wiederzuverwerten. Den Schutt wieder auszugraben, hätte zu viel gekostet.

Wie das Recycling funktioniert, erklärt Meral Mungan Arda, eine Umweltingenieurin beim UNDP Türkei: In der Anlage werden die Trümmer auf Förderbändern transportiert. Nachdem Dreck ausgesiebt worden ist, werden die Trümmer zum ersten Mal verkleinert. Dann löst ein Magnetband verbliebenes Metall heraus. Leichtes Material wie Holz und Plastik werden mit einer Luftdüse aus dem Schutt geblasen. Je nach Konstellation der Anlage können Arbeiter zudem auf zusätzlichen Förderbändern von Hand Glas und Keramik heraussuchen. Siebe trennen die Trümmerteile weiter nach Grösse. Sie werden so lange verkleinert, bis sie den gewünschten Feinheitsgrad erreicht haben. Aus dem Endmaterial werden zwar keine neuen Gebäude gebaut, doch es dient zum Beispiel als Unterbau für asphaltierte Strassen.

Das UNDP wird neben den zwei grossen Recyclinganlagen auch drei fahrbare Zerkleinerungsmaschinen betreiben, die direkt zu den Trümmerbergen gefahren werden können. Diese Maschinen können so ausgestattet werden, dass sie sowohl den Beton zerkleinern als auch leichtes Material und Metall aus dem Schutt trennen können.

Als Teil des Recyclingprozesses wird der Schutt auch von schädlichen Inhalten befreit. Arda vermutet, dass viel Pestizid im Schutt sei. In Regionen wie Hatay, in der sich auch die schwer beschädigte Stadt Antakya befindet, ist die Landwirtschaft sehr wichtig. Zusammen kommen die elf vom Erdbeben betroffenen Provinzen für zwanzig Prozent der türkischen Agrarproduktion auf.

Das meiste Pestizid wird als Pulver verkauft, ähnlich wie Zement, da es erst auf den Feldern mit Wasser gemischt wird. Das vereinfacht das Heraustrennen der Pestizidbrocken. Ausserdem dürften sich Farben, Reinigungsmittel und Chemikalien aus Werkstätten im Schutt befinden. Arda sagt, zum Betrieb der Recyclinganlagen schulten sie die Arbeiter, die auch regelmässige Kontrollen durchführten.

Gefährliche Abfälle wie Asbest, die nicht rezyklierbar sind, würden gemäss den türkischen Vorschriften entsorgt, sagt Arda. Einige Abfälle würden verbrannt, die meisten auf Sondermülldeponien gelagert.

So wuchs ein Schuttdeponie in Antakya in den Monaten nach dem Erdbeben

Die Trümmer stehen für die Träume der Bewohner

Das Recycling lohnt sich laut Louisa Vinton finanziell und schont die Umwelt. Trotzdem sei es wichtig, mit Bedacht vorzugehen, denn die Trümmer haben auch einen symbolischen Wert. «Wir müssen uns vor Augen halten, dass das nicht nur anonymer Schutt und Abfall ist – das waren einmal die Leben und Träume von Menschen», sagt sie.

Gleichzeitig drängt die Zeit. Landet der Schutt in Mülldeponien oder als Füllmaterial in Neubauten, ohne zuvor von schädlichen Materialien befreit worden zu sein, steigt das Risiko der Kontaminierung. Vinton sagt: «Wir wollen vermeiden, dass aus einer Katastrophe eine Gesundheitskrise wird.»

Gerne würde Vinton eine ganze Reihe an Recyclinganlagen in der Türkei aufbauen. Die Möglichkeiten des UNDP hängen jedoch von neuen Zusagen der Geldgeber ab – doch die Hilfsgelder sind knapp angesichts der zahlreichen Krisen weltweit. Das Team um Vinton hat ausgerechnet, dass sie pro Jahr in ihren Anlagen knapp 1,5 Millionen Tonnen rezyklieren können. Für die immensen Trümmerberge im ganzen Land brauchen sie somit 140 Jahre.

Text: Karin A. Wenger
Illustrationen: Joana Kelén
Daten: Adina Renner

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