Mittwoch, März 12

An Pfingsten feiern Christen eine radikale Botschaft. Doch die wenigsten kennen sie. Auch, weil die Kirchen verlernt haben, die alte Geschichte zu übersetzen, sagen Christoph Sigrist und Simon Spengler.

Die meisten Schweizer und Schweizerinnen verbinden mit Pfingsten ein langes Wochenende und Stau am Gotthard. Wofür steht dieser Feiertag eigentlich, Herr Sigrist?

Christoph Sigrist: Pfingsten ist zusammen mit Auffahrt im vierten Jahrhundert in den christlichen Kalender eingegangen. Die beiden bilden mit Ostern ein Trio. Auffahrt gedenkt der Himmelfahrt des auferstandenen Christus, der sich von dieser Welt verabschiedet und wieder ganz bei Gott ist. An Pfingsten feiern wir die Ausgiessung des Heiligen Geistes. Die Jünger Jesu trafen beim jüdischen Erntedankfest in Jerusalem auf Menschen aus aller Herren Ländern. Bewegt vom Heiligen Geist, begannen sie in den Sprachen dieser Völker zu reden. In beiden Tagen schwingen menschliche Erfahrungen: Weiteste Ferne wird als berührendste Nähe erlebt, Herzenssprache schlägt die Brücke zwischen mir und dem andern.

Simon Spengler: Jetzt hast du sehr wie ein Pfarrer gesprochen.

Zwei Theologen, zwei Kirchen

Christoph Sigrist (61) ist reformierter Theologe und war 21 Jahre lang Pfarrer des Zürcher Grossmünsters. Seit 2018 ist er Titularprofessor für Diakoniewissenschaften in Bern. Er leitet die Forschungsstelle Urbane Diakonie in Zürich.

Simon Spengler (61) ist katholischer Theologe und Bereichsleiter Kultur und Kommunikation der Katholischen Kirche im Kanton Zürich. Von 2010 bis 2015 war er Sprecher der Schweizer Bischofskonferenz.

Wie würden Sie es ausdrücken, Herr Spengler?

Spengler: Im Zentrum der Geschichte stehen die Jünger, die realisieren, dass sie ab jetzt auf sich gestellt sind. Seit Ostern – also der Auferstehung Jesu – ist er ihnen immer wieder erschienen. Das endet mit Auffahrt. Alles dreht sich schliesslich um Ostern. Darum, dass der Tod nie das letzte Wort hat. An Pfingsten verstehen die Jünger, dass sie diese Geschichte in die Welt hinaustragen sollen. Deswegen gilt Pfingsten auch als Gründung der Kirche. Und übrigens: Wir reden hier die ganze Zeit von «den Jüngern». Aber in der Apostelgeschichte sind Frauen mit dabei. Die Bibel nennt sie namentlich, Pfingsten und das Urchristentum waren keine Männerveranstaltungen.

Auch so ist die Geschichte mehr selbstreferenziell als selbsterklärend. Für ein kirchenfernes Publikum: Warum lohnt es sich, sie 2000 Jahre später noch zu kennen?

Spengler: Weil sie absolut anschlussfähig ist an unsere Zeit. In der Pfingstgeschichte wird wunderbar erklärt, dass in Jerusalem, wohin sich die Jünger zurückgezogen hatten, Leute aus allen Ecken der Welt zusammenkamen. Es ist die Beschreibung einer Multikulti-Gesellschaft, wie wir sie heute hier in Zürich kennen. Und zwar mit allem, was damit einhergeht: die Konflikte und Verlustängste der Mehrheit, die nun selbst zu einer Minderheit wird. Und in dieser Situation versteht Petrus: Wir alle sind Menschen. Und man kann trennende Grenzen überschreiten. Gleich, ob das nationale, ethnische oder auch sexuelle Grenzen sind. Und das ist die Kernaufgabe der christlichen Gemeinde. Überall da, wo Christen zusammenleben, müssen sie immer wieder neu versuchen, Grenzen einzureissen.

Sigrist: Grenzüberschreitung ist wirklich das zentrale Wort. Und die Erfahrung der Überwindung solcher Grenzen. Darf ich meine persönliche Geschichte dieser Grenzerfahrung erzählen?

Sehr gerne.

Sigrist: Ich bin am Bernina zehn Meter in eine Gletscherspalte gestürzt. Unter mir war nur schwarz. Ich wusste nicht, ob ich gerettet würde. Diese Stille kann ich nicht beschreiben. Nach einer knappen Stunde erschien am Einbruchsloch ein Kopf und rief: «Läbsch no?» Das war meine ganz persönliche Oster- und Pfingsterfahrung: Aus der Totenstille der Unterwelt ins Leben herausgerufen, aus engen Kammern herausgetrieben werden, um nah beim Menschen zu leben, ihn zu verstehen, das Leben mit ihm zu teilen. Biblische Geschichten sind Gedichte voller Gottes- und Menschenerfahrungen. Als Poesie werden ihre Bilder verständlich.

Spengler: Das Verstehen der Geschichten reicht aber nicht. Wichtiger, als dass Menschen an Pfingsten in den Gottesdienst gehen und die Story dort erzählt bekommen, ist, dass sie irgendwas mit diesen Erfahrungen anfangen können. Und dass es uns als christlicher Gemeinde gelingt, diese Erfahrung zu vermitteln.

Sigrist: Das stimmt. Gottesdienste zu feiern, ist für die Institution natürlich wichtig. Aber sie sind nicht mehr ausschliesslich Orte, an denen diese Erfahrung vermittelt wird. Das haben wir Repräsentanten der Kirchen zu akzeptieren. Deshalb müssen wir von den Kanzeln herunter- und hinter den Altären hervorkommen. Wir müssen lernen, auf Macht zu verzichten. Das Gitter zwischen Chor und Kirchenschiff ist abzureissen, Gotteserfahrung ist Allgemeingut, jeder und jede kann diese vermitteln.

Haben frühere Generationen die Pfingstgeschichte, die im Gottesdienst erzählt wird, besser verstanden?

Spengler: Ich bin sehr vorsichtig, wenn es heisst: Heute funktioniert es nicht mehr, aber früher hat jeder die biblischen Geschichten verstanden. Ich habe es in meiner Kindheit noch selbst erlebt. Meine Familie und mein Umfeld waren sehr katholisch. Der Kern des Glaubens aber war für viele nicht die befreiende Oster- und Pfingstbotschaft, sondern die Angst vor der Hölle. Deshalb hatte man immer Weihwasser in der Nähe. Deshalb ging man auf Wallfahrten und jeden Sonntag in die Kirche. Natürlich wurden auch sehr viele gute Werke getan. Nächstenliebe wurde gelebt, im Dorf, in der Verwandtschaft und der Nachbarschaft. Das war selbstverständlich, und da hat eine christliche Verantwortung gewirkt. Aber die Angst vor der Hölle war doch ein wesentlicher Faktor ihrer Religiosität.

Sigrist: Ich kannte in meiner Kindheit zwar keine «Höllenangst», aber es gab auch in meinem reformierten Umfeld eine antreibende Kraft, die nicht aus der Pfingsterfahrung rührte. Bei uns war es die Arbeit. Mein Vater war sehr nachsichtig mit mir, ausser wenn ich faul war. Das sitzt tief in meiner reformierten Seele. Dahinter steckt die calvinistische Idee, dass man an Arbeit, Produktivität und Erfolg Gottes Gnade erahnen kann.

Kann man es so zusammenfassen: Früher mussten die Kirchen nicht verständlich sein, denn sie hatten Macht. Ist die Notwendigkeit, sich zu erklären, ein Resultat des kirchlichen Machtverlusts?

Sigrist: Ja, es ist sicher ein Resultat des Verlustes der gesellschaftlichen Deutungshoheit von Sinn und Transzendenz. Das ist eine Rolle, in die sich die Kirchen erst noch hineinfinden müssen.

Wenn Ostern und Pfingsten ein Auftrag sind, in einer krisenhaften Welt Gutes zu tun, müssten die Kirchen dann nicht viel politischer sein? Faktisch hört man wenig. Die Schweizer Bischofskonferenz findet bis heute keine Worte zum Krieg in der Ukraine, und auch bei Abstimmungen schweigen die Kirchen . . .

Sigrist: Das ist jetzt natürlich plakativ formuliert. Viele, und auch ich, vertreten und leben die politische Dimension des Evangeliums bei allen Fragen von Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung. Freiwillige wie auch kirchliches Bodenpersonal sind sehr präsent in Gefängnissen, in Spitälern, in Asylzentren. Das wird aber öffentlich kaum wahrgenommen.

Warum wird es nicht wahrgenommen?

Sigrist: Einerseits bestätigen die Kirchen selbst immer wieder das Narrativ von Gottesdienst, Dogma und Weltfremdheit. Andererseits wird man als Kirchenvertreter von den Medien nur angefragt zu den Themen Mitgliederschwund, Missbrauch, und bei den Katholiken kommt noch die Frauenfrage hinzu.

Spengler: In den letzten zehn, zwanzig Jahren gibt es in den Kirchen einen massiven Rückzug auf sich selbst, sowohl bei euch Reformierten als auch bei uns Katholiken. Bei den Reformierten kommen noch die Verlustängste hinzu, nicht mehr Staatsreligion zu sein . . .

Sigrist: . . .ja, da hast du recht. Die Erfahrung, zu einer Minderheit zu gehören, ist noch neu für uns.

Spengler: Dazu kommt die Angst, anzuecken in einer Zeit, in der man sowieso schon unter Druck steht. Auch daher rührt das Schweigen der Kirchen zu den grossen Fragen unserer Zeit. Das kann man auch wieder an Pfingsten festmachen: Was ist die Pfingstbotschaft 2024 der Schweizer Bischofskonferenz? Was ist die Pfingstbotschaft des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbunds? Es werden da sicherlich noch ein paar fromme Worte kommen. Wahrscheinlich so etwas in der Art, wie wir vorhin auch gesagt haben, also von Jüngern und dem Heiligen Geist. Worte und Erzählungen, die kaum jemand versteht. Daher ist die Frage berechtigt: Was heisst das alles heute? Was heisst das im Ukraine-Krieg, in Gaza und in all den vergessenen Konflikten der Welt?

Das ist genau die Frage: Was heisst es?

Spengler: Dass die christliche Gemeinde Stachel im Fleisch sein muss, überall da, wo der Mensch ein geknechtetes Wesen ist. Ob angesichts des Kriegs in der Ukraine oder der Schere zwischen Arm und Reich bei uns selbst. Das, was ist, muss nicht so bleiben. Etwas anderes ist möglich.

Was wäre ein Weg, die christliche Botschaft zu übersetzen und die Menschen zu erreichen?

Sigrist: Kirchen müssen wieder Orte werden, an denen Gemeinschaft gelebt wird, wo man füreinander «i Gotts Name» einsteht, wo man verstanden wird. Tausende werden in diesen Festtagen in unsere Kirchen gezogen, erfahren Überraschendes, werden bewegt.

Spengler: Genau. Das Ziel ist nicht, dass 2025 wieder ein Pfarrer, Theologe oder Bischof in der NZZ erklärt, was Ostern und Pfingsten bedeuten. Das Ziel wäre, dass es einen Bericht gibt über die Pfingstmesse des Churer Bischofs, die nicht in der Kathedrale, sondern im Ausschaffungsgefängnis stattfindet. Wenn ein Bischof es schafft, vor diesen Menschen aus der ganzen Welt und allen Religionen, deren einzige Perspektive es ist, demnächst wieder in ihr Elend zurückgeschickt zu werden; wenn er es schafft, dort zu bestehen, wenn er ihnen in ihrer Hoffnungslosigkeit etwas zu sagen hat, dann hat er Ostern und Pfingsten verstanden und kann die Botschaft auch vermitteln. Ich muss aber gestehen, dass ich nicht weiss, ob ich in einer solchen Situation bestehen könnte.

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